Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Das Wort kommt vor dem Gegenstand

Viktor Pele­vins Roman Ampir V

 

Am Anfang war die Veli­kaja Myš‘. Die Veli­kaja Myš wurde aus nicht näher benannten Gründen auf die Erde ver­bannt, wo sie bis heute ihr Unwesen treibt. Sie schuf flie­gende Mäuse, die sich im Laufe der Zeit evo­lu­tionär zur soge­nannten Jazyk wan­delten, was im Rus­si­schen sowohl Sprache als auch Zunge bedeutet. Die Zunge Jazyk – die meta­pho­ri­sche Sprache – sucht sich, wie ein Krebs seine Muschel, immer neue geeig­nete mensch­liche Körper, die sie bewohnen kann. Dies sichert ihr Über­leben. Die Dop­pel­deu­tig­keit des Wortes Jazyk im Rus­si­schen ist Pro­gramm: Nicht nur die Zunge braucht Men­schen zum Über­leben, auch Sprache über­dauert nur, wenn sie von Men­schen trans­por­tiert wird. Die von Jazyk bewohnten Men­schen werden zu Vam­piren, „den bes­seren Lebe­wesen“, die die Welt in Viktor Pele­vins neuem Roman bevölkern.

Ins­einem 2006 auf Rus­sisch erschie­nenen Vam­pir­roman Ampir V , der gerade unter dem Titel Das fünfte Impe­rium. Ein Vam­pir­roman in deut­scher Über­set­zung von Andreas Tretner beim Luch­ter­hand Lite­ra­tur­verlag erschienen ist, stellt Viktor Pelevin das west­liche Welt­bild in Frage oder gleich ganz auf den Kopf: „Anders als die meisten Men­schen annehmen, ist die Mensch­heit nicht das letzte Glied in der Nah­rungs­kette. Wir Vam­pire näm­lich sind das nächste Glied der Kette. – Und wel­ches Glied der Nah­rungs­kette ist das Letzte? – Gott.“*

Der Mensch, der sich so gedan­kenlos über die anderen Lebe­wesen der Erde erhebt, indem er züchtet, ver­nichtet oder erhält – er ist bei Pelevin plötz­lich Teil seiner selbst­ge­schaf­fenen Ord­nung, er wird gezüchtet, um zu ernähren. Dabei lässt sich der Autor nicht davon abhalten, den Leser mit einer Flut von his­to­ri­schen Andeu­tungen, lite­ra­ri­schen Bezügen und Wort­spielen (Вампир – Ампир В – Ampir V – Empire V) zu über­schwemmen. So sind fast alle ‘vam­pi­ri­schen’ Cha­rak­tere des Romans nach Gott­heiten aus der baby­lo­ni­schen, grie­chi­schen, römi­schen oder ger­ma­ni­schen Mytho­logie benannt.

Der Prot­ago­nist vonAmpir V, Rama II., erhält seinen Namen wahr­schein­lich von der, im Hin­du­ismus bekannten, siebten Inkar­na­tion des Vishnu; dies wird im Roman jedoch nicht näher erläu­tert. Die Bezug­nahme auf Ele­mente öst­li­cher, vor allem hin­du­is­ti­scher und bud­dhis­ti­scher Kul­turen ist nicht neu für Pelevin. Bereits in seinen frü­heren Romanen stellt er dem west­li­chen Denken immer wieder Mythen, Texte und Figuren aus der indi­schen Tra­di­tion gegen­über. Dabei lässt er einen Text ent­stehen, der ein typi­sches Ver­fahren der euro­päi­schen und rus­si­schen Erzähl­tra­di­tion ver­wendet: Er bezieht den Leser als aktiv han­delnde Figur mit in das Geschehen ein. Pelevin ent­wirft einen Leser­prot­ago­nisten, einen auf­merk­samen und mit wis­sen­schaft­li­chen Dis­kursen ver­trauten Leser, dem er in Ampir V das Nach­fragen nicht nur erlaubt, son­dern dessen Nach­frage als wesent­li­cher Bau­stein in den Roman bereits inte­griert ist. Rama II., der Prot­ago­nist des Romans, über­nimmt anstelle des Lesers die Rolle des Nach­fra­gers. Auf diese Weise ver­weist Pelevin auf die Dia­log­form als klas­si­sches Mittel der Dra­ma­turgie – und auf die pla­to­ni­schen Dia­loge, die Urform des phi­lo­so­phi­schen Dialoges.

Schon mit dem Unter­titel – Povest’ o nas­tojaščem sver­chčel­oveke (Erzäh­lung über den wahren Über­men­schen) – wird eine erste Fährte für den Leser gelegt: eine Anspie­lung auf den 1946 von Boris Polevoj geschrie­benen sowje­ti­schen Hel­den­roman Povest‘ o nas­tojaščem čel­oveke (Erzäh­lung vom wahren Men­schen).

Und so imi­tiert Ampir V zunächst auch den Mas­ter­plot eines typisch sozia­lis­ti­schen Hel­den­ro­mans: Der Held durch­läuft den Pro­zess einer ideo­lo­gi­schen Bewusst­wer­dung: Er bewegt sich auf der „road to con­scious­ness“ von anfäng­li­cher Spon­ta­neität zum Bewusst­sein. Eben dieser Pro­zess wird in Ampir V von Pelevin karikiert.

Rama durch­läuft ganz in sowje­ti­scher Hel­den­ma­nier zunächst eine Phase der Sepa­ra­tion: Er wird im Alter von 19 Jahren von einer Jazyk zum Vampir „trans­for­miert“ und erlebt eine Zeit der Iso­la­tion und des Ler­nens in der neuen Gesell­schaft der Vam­pire. In dieser Zeit hat Rama meh­rere Lehrer, die sämt­lich Gott­heiten unter­schied­li­cher Kul­turen vor­stellen: Loki, Bal’dr und Jegova, die ihn mit dem für Vam­pire unver­zicht­baren Wissen über Kampf­kunst und Liebe, Dis­kurs und Gla­mour ver­traut machen.

Nachdem Rama dann zum ersten Mal den Ukus, den Vam­pir­biss, an einer Men­schen­frau geübt hat, muss er wohl oder übel beginnen, sich mit seinem Dasein als Vampir abzu­finden. Sein Vor­mund Mitra – dessen Name sich in diesem Kon­text sinnig auf den indi­schen Gott des Ver­trages, den Wächter der Wahr­heit, beziehen mag – führt ihn dann zur Ersten der Initia­ti­ons­riten, die im Roman des Soz­rea­lismus die Tran­si­ti­ons­phase ein­leiten. Dieses Ereignis wird als „großer Sün­den­fall“ gefeiert, bei der Rama das Vam­pirm­äd­chen Gera kennen lernt. Rama wird schließ­lich nach der Ver­kos­tung der gött­li­chen Flüs­sig­keit Bablos in das System inkor­po­riert. Bablos ist das Kon­zen­trat der von den Men­schen pro­ji­zierten Welt. Und da diese Welt durch Worte pro­ji­ziert wird, ist Bablos das Kon­zen­trat des Wortes, dessen Ähn­lich­keit mit einer Droge durch die von Pelevin ver­wen­dete Beschrei­bung noch unter­stri­chen wird. Rama hat das Gefühl, zunächst in seinen Sitz gedrückt und dann in einen sehr schnellen Flug kata­pul­tiert zu werden. Pelevin, schließt sich hier der Tra­di­tion der post­mo­dernen Lite­ratur an, in der die Droge häufig eine Rolle bei der Bewusst­seins­er­wei­te­rung im Text, also einer „Text-Erwei­te­rung“, spielt – so auch bei Vla­dimir Sor­okins Dostoevskij trip. Lite­ratur als Droge: wie­der­holbar, repro­du­zierbar und erlebbar. Rama II. kann sich unter Dro­gen­ein­fluss end­lich öffnen für die all­um­fas­sende Ord­nung der Dinge – oder besser: für die Ord­nung der Worte.

Durch den gesamten Roman zieht sich ein reli­giöser und phi­lo­so­phi­scher Dis­kurs in pla­to­ni­scher Dia­log­form. So ist Rama ständig auf der Suche nach dem Sinn seines neuen Daseins und befragt hierfür die welt­li­chen und reli­giösen Auto­ri­täten der Vam­pire. Zunächst fragt er den welt­li­chen Führer der Vam­pire En-Lil, den baby­lo­ni­schen Gott­vater, wie die wirk­liche Welt beschaffen sei. Unbe­frie­digt von En-Lil’s Ant­worten, wendet sich Rama an dessen abtrünnig gewor­denen Bruder Oziris. Oziris ist das Ober­haupt der Tol­stoj-Vam­pire, die sich durch die ver­geis­tigte Suche nach Natür­lich­keit und Ursprüng­lich­keit von den modernen Vam­piren unter­scheiden. Mit der Erwäh­nung der Tol­stoj-Vam­pire schließt Pelevin einen Kreis: Tol­stoj selbst hatte mit Der Vampir (1841) und Die Familie des Vam­pirs (1847) zwei Vam­pir­ro­mane geschrieben. Beson­deres Erken­nungs­merkmal der Tol­stoj-Vam­pire in Pele­vins Roman: Sie ernähren sich von mensch­li­chem Blut – eine bar­ba­ri­sche Praxis, von der sich der moderne Vampir schon lange ver­ab­schiedet hat.

Im Gegen­satz zum Tol­stoj-Vampir ernährt sich der moderne Vampir in Ampir V von den Wün­schen und Pro­jek­tionen der Men­schen in deren ima­gi­nierter Welt. Die mensch­liche Gat­tung wurde von den Vam­piren selbst zu diesem Zwecke gezüchtet (in diesem Zusam­men­hang fällt häufig der Ver­gleich von Men­schen mit Milch­kühen). Und um die mensch­li­chen Wün­sche für die Göttin Ishtar, die baby­lo­ni­sche Göttin der Frucht­bar­keit und des Krieges, welche in Ampir V zugleich die welt­liche Ver­kör­pe­rung der Veli­kaja Myš dar­stellt, mög­lichst nahr­haft zu machen, wirken die Vam­pire mit ihrer Kenntnis von Gla­mour und Dis­kurs auf die ima­gi­nierte Umge­bung der Men­schen – etwa durch Wer­bung – ein. Hier schließt Pelevin an frü­here Texte an, in denen er die Welt des Kon­sums eben­falls zum Gegen­stand von Erzäh­lung und Kritik gemacht hatte.

Der eigent­liche Prot­ago­nist in Pele­vins Roman ist das Wort. Oziris erklärt Rama, dass das Wort vor dem Gegen­stand exis­tiert, bzw. nur das Wort den Gegen­stand zur Exis­tenz ver­helfen kann. Diese Über­le­gung lässt sich auf das Alte Tes­ta­ment zurück­führen: „Am Anfang war das Wort.“ Chris­tentum, baby­lo­ni­sche, hin­du­is­ti­sche und goti­sche Gott­heiten ver­schmelzen in dieser von Pelevin geschaf­fenen lite­ra­ri­schen Welt.

Das Wort, so Oziris, könne des­halb den Gegen­stand erschaffen, weil der Mensch über zwei Ver­stan­des­typen ver­füge: Ver­stand A und Ver­stand B, die man sich wie zwei sich gegen­über­ste­hende Spiegel vor­stellen könne. „In jedem Moment befindet sich immer ein ein­zelnes Wort vor dem Ver­stand A; die Worte wech­seln mit so hoher Geschwin­dig­keit, dass in jedem Moment ein anderes Wort dort steht. (…) Wenn du ein Wort vor den Ver­stand A stellst, spie­gelt es sich im Ver­stand, der sich wieder im Wort spie­gelt, das sich wieder im Ver­stand spie­gelt, usw. Und so ent­steht ein unend­li­cher Kor­ridor – der Ver­stand B. In diesem end­losen Kor­ridor ent­steht nicht nur die ganze Welt, son­dern auch der, der sie betrachtet.“

Pelevin übt in Ampir V einmal mehr Kritik an Konsum und Mas­sen­me­dien, an Design und Wer­bung als leeren Hüllen mensch­li­chen Wün­schens. Auch die sta­li­nis­ti­sche For­de­rung an Künstler, zu Inge­nieuren der Seele zu werden – wird von Pelevin medi­en­kri­tisch umge­formt: „Das Wunder voll­zieht sich nicht mit den Texten, son­dern mit den Schrift­stel­lern. Anstatt mit Inge­nieuren der mensch­li­chen Seele haben wir es mit unbe­zahlten Wer­be­agenten zu tun.“ Die ein­zige Mög­lich­keit, keine Welt aus Worten zu pro­ji­zieren, ist dem Roman zufolge das phi­lo­so­phi­sche Sin­nieren (Aris­to­teles würde sich freuen!). In dem Augen­blick, in dem der Mensch sich der geis­tigen Regung hin­gebe, drehten sich die ein­ander gegen­über­ste­henden Spiegel des Ver­standes A und des Ver­standes B so, dass sie par­allel stehen und keine end­losen Spie­gel­kor­ri­dore der Illu­sion mehr produzieren.

Viktor Pelevin, einer der erfolg­reichsten zeit­ge­nös­si­schen rus­si­schen Roman­au­toren, bleibt sich in  Stil und The­matik mit Ampir V treu. Auch Ampir V ist ein Sci­ence-Fic­tion Roman, der sich kari­kie­rend mit der post­so­wje­ti­schen rus­si­schen Gesell­schaft aus­ein­an­der­setzt. Ver­weise auf reli­giöse Ele­mente und Mythen sind mosa­ik­artig in diese Kul­tur­kritik auf­ge­nommen und die viel­fa­chen lite­ra­ri­schen Bezüge und Zitate führen Pelevin als post­mo­dernen Autor ein, der sich in der iro­ni­sie­renden Ver­wen­dung von inter­tex­tu­ellen Ver­weisen gar als postpost­mo­derner Autor ent­puppt. Pele­vins Roman ist nicht nur inter­tex­tu­elle Zitat­an­häu­fung: Durch die Kopp­lung post­mo­derner Zitat-Tech­niken an sinn­haft-mys­ti­sche Inhalte ver­han­delt er die Post­mo­derne selbst und distan­ziert sich damit von ihr. Und wie immer setzt er einen Leser voraus, der mit­denkt, kom­bi­niert und inter­pre­tiert. Für diesen Leser ist die Lek­türe von Pele­vins Roman als neue Ima­gi­na­tion in einer illu­sio­nären Welt unbe­dingt empfehlenswert!

* Alle Über­set­zungen stammen von der Verfasserin.

 

Pelevin, Viktor: Ampir V. Roman. Eksmo. Moskau 2006.

Pelewin, Viktor: Das fünfte Impe­rium. Ein Vam­pir­roman. In deut­scher Über­set­zung von Andreas Tretner. Luch­ter­hand Lite­ra­tur­verlag. Mün­chen 2009.