“Die große Form liegt mir nicht”
Interview mit Ilma Rakusa
Ilma Rakusa, Lyrikerin, Literaturwissenschaftlerin, Übersetzerin, Kritikerin – es gibt kaum einen Bereich des internationalen Literaturbetriebes, in dem sie nicht zuhause ist. Als promovierte Slavistin lehrt sie an der Universität Zürich russische und südslavische Literatur und gibt Sprachunterricht in ungarischer Sprache, als Literaturkritikerin bereist sie Literaturfestivals, insbesondere in Osteuropa, immer auf der Suche nach neuen literarischen Entdeckungen. Als Übersetzerin aus dem Russischen, Ungarischen, Serbokroatischen und Französischen hat sie u.a. Autoren wie Marina Cvetaeva, Aleksej Remizov, Danilo Kiš, Imre Kertész oder Marguerite Duras ins Deutsche übersetzt.
Als Lyrikerin debütierte sie 1977 mit Wie Winter, es folgten zwölf Bücher mit Gedichten, Erzählungen, Prosaminiaturen, Dramoletten, Essays. Die kurze Form hat sie auch in der 2009 erschienenen Autobiographie Mehr Meer beibehalten.Die 69 Miniaturen sind nicht nur autobiographische Reflexionen auf eine Kindheit in der Slowakei, Ungarn, Slowenien, Italien und der Schweiz in den 1950 und 1960er Jahren, sie sind auch ein verdichtetes Mitteleuropa, das in Farben, Gerüchen, Landschaften, Dingen und Worten erinnert wird. Für Mehr Meer hat Ilma Rakusa 2009 den Schweizer Buchpreis erhalten.
novinki: Liebe Frau Rakusa, zuerst möchten wir gratulieren zum Schweizer Buchpreis, den Sie für Mehr Meer bekommen haben. Das Buch beginnt mit einer Reise an die Orte Ihrer Kindheit – nach Rimaszombat bzw. Rimavská Sobota in die heute Slowakische Republik, nach Budapest und dann nach Ljubljana und Triest, ans Meer. Sie reisen aber nicht nur in der Erinnerung zurück. Wann haben Sie die Orte Ihrer Kindheit wieder aufgesucht?
Ilma Rakusa: In Slowenien war ich sehr oft, denn dort lebt meine ganze Verwandtschaft väterlicherseits, zu der ich ein herzliches Verhältnis habe. Auch mag ich Ljubljana und Maribor, die Weinberge um Jeruzalem, die Karstlandschaft Richtung Meer. Mitten im Karst findet seit 1986 das bekannte slowenische Literaturfestival „Vilenica“ statt; ich habe regelmässig daran teilgenommen und wurde 2005 sogar Preisträgerin, was die schöne Folge hatte, dass ein Gedichtband ins Slowenische übersetzt wurde. Und vom Karst ist es nur ein Katzensprung nach Triest; diese Gelegenheit habe ich mir nie entgehen lassen. Sehe ich die Bucht von Triest, den Leuchtturm, das weisse Schloss Miramar, bin ich augenblicklich glücklich.Nach Budapest führten mich die Wege eher selten. Und meine Geburtsstadt Rimaszombat habe ich erst 2004 wiedergesehen, nach sechsundfünfzig Jahren. Es war ein berührender Moment. Mütterliche Verwandte gibt es dort keine mehr, ich kam offiziell wegen einer Lesung nach Rimavská Sobota – und wurde mit einem Empfang im Rathaus überrascht. Gesang, Reden, Geschenke, als wäre die verlorene Tochter in den Schoss der Heimat zurückgekehrt. Sehr bewegend. Zum ersten Mal sah ich bewusst mein Geburtshaus, die Apotheke meiner Mutter, alles, wovon sie mir so oft erzählt hatte. Ich kann mir ihre Kleinstadtkindheit seither viel besser vorstellen.
n.: Sie verflechten die Erinnerungen an die Kindheit in Ihrem Buch mit Reflexionen aus der Gegenwart, mit kleineren Exkursen, Versen und Stillleben. Insgesamt sind es 69 Miniaturen, aus denen sich Vergangenes und Gegenwärtiges zusammensetzen. Sie sind also der kleinen Form auch beim Schreiben der Autobiographie treu geblieben?
R.: Die grosse Form liegt mir nicht. Ich bin im Innersten Lyrikerin, mir fehlt der Atem für episches Erzählen. Indem ich mich für kürzere, vignettenhafte Kapitel entschieden habe, konnte ich mir sprachliche Intensität erlauben, was mir sehr wichtig ist. Für Zusammenhänge sorgen Leitmotive, wiederkehrende ‚Muster‘. Entstanden ist ein Gebilde, das – wie ich hoffe – gleichzeitig kohärent und durchlässig ist, d.h. dem Leser genug Spielraum für eigene Phantasien (und Erinnerungen) gewährt.
n.: Sie beschreiben sich in Ihrem Buch als leidenschaftliche Leserin, „hungrig nach Lektüre“: „Lesend entdecke ich mich selbst. Lesend entdecke ich das Andere.“ Lässt sich auch so etwas wie eine Lesebiographie erzählen? Sie erwähnen u.a. Dostoevskij, wer gehört noch in diese Reihe?
R.: Ich erwähne mehrere prägende Leseeindrücke, aber bei weitem nicht alles, was ich zwischen sechs und sechzehn an Büchern verschlungen habe. Im Zusammenhang mit meinem kindlichen Wunsch, ‚Weltforscherin‘ zu werden, steht die Lektüre von Thor Heyerdahls Kon-Tiki, Heinrich Harrers Sieben Jahre in Tibet und anderen Berichten über Entdeckungsreisen. Dann las ich begeistert Indianerbücher – Coopers Lederstrumpf-Romane, Karl Mays Winnetou –, aber auch Selma Lagerlöfs Wunderbare Reise des Nils Holgersson. Mit Dostoevskijs Roman Schuld und Sühne, den ich ungewöhnlich früh und klammheimlich las, verlagerte sich mein Interesse auf die Entdeckung innerer Welten. Der Eindruck war gewaltig, nicht umsonst widme ich Dostoevskij ein ganzes Kapitel in meinem Buch. Dostoevskij liess mich nie mehr los. Und dass ich später Slavistik studiert habe, hat unmittelbar mit diesem Leseerlebnis zu tun.
Während der Gymnasiumszeit beschäftigten mich u.a. T.S. Eliot (Four Quartets), Martin Buber (Chassidische Geschichten), Gershom Sholem
(Kabbala), die Franzosen Bernanos und Valéry, die englischen metaphysical poets, neben Dostoevskij auch Tolstoj, Turgenev, Gončarov, Leskov, Čechov. Während meines Studienjahrs in Leningrad entdeckte ich – dank Freunden – Mandel‘štam und Cvetaeva, von denen es in den Buchläden nichts zu kaufen gab.
Die Idee gefällt mir, einmal eine reine Lesebiographie zu schreiben.
n.: Über Triest kommen Sie 1951, noch vor der Einschulung, mit Ihrer Familie in die Schweiz, nach Zürich. In Ihrem Buch schreiben Sie: „Ein halbes Leben hinterm Eisernen Vorhang, was hätte es aus mir gemacht.“ Der Satz hat mich sehr berührt, zumal ich selbst, zum gegenwärtigen Zeitpunkt, mein halbes Leben hinterm Eisernen Vorhang verbracht habe. Sie sind zwar nicht in Osteuropa geblieben, haben aber Osteuropa zu Ihrem Beruf gemacht. Woher rührt diese Entscheidung?
R.: Für das Slavistik-Studium war Dostoevskij ausschlaggebend. Doch spielte auch meine halb-slowenische Herkunft eine Rolle. Die slavische Welt übte eine starke Anziehung auf mich aus. Jahrelang konnte ich diese Länder nicht bereisen, da es der Staatenlosenpass nicht erlaubte. Kaum war ich im Besitz eines Schweizer Passes, fuhr ich nach Prag. Danach gab es kein Halten mehr. Ich bin froh, dass ich meinen Drang nach Osten beruflich fruchtbar machen konnte. Blicke ich auf meine Aktivitäten zurück, bin ich so etwas wie eine Brückenbauerin zwischen Ost und West. Diese Rolle scheint auf mich zugeschnitten zu sein, und ich fühle mich unvermindert wohl darin.
n.: Slavistik haben Sie Ende der 60er Jahre in der Schweiz und in Leningrad studiert und 1971 mit einer Promotion zum Motiv der Einsamkeit in der russischen Literatur, u.a. beim romantischen Dichter Evgenij Baratynskij, abgeschlossen. Ein Slavistikstudium zur Zeit des Kalten Krieges hatte, wie ich mir vorstellen kann, sicherlich auch etwas Abenteuerliches. Es war politisch brisant, die Literatur hatte einen anderen Stellenwert… Lässt sich das Studium der slavischen Literaturen damals überhaupt noch mit dem Studium heute vergleichen?
R.: Kaum. Wir waren eine kleine Gruppe von Begeisterten. Niemand dachte an konkrete Berufsaussichten. Aber alle suchten wir Tuchfühlung mit dem Osten, wollten in der Sowjetunion, in Polen oder der Tschechoslowakei ein Studienjahr verbringen. Das war abenteuerlich und faszinierend zugleich. Was mich anbelangt: mein Leningrader Jahr war das intensivste in meinem ganzen Leben. In nächtelangen Küchengesprächen erfuhr ich, was Freundschaft heisst, bei privaten Lesungen, wie existenziell Literatur sein kann. Hier das repressive Regime – dort die Gegenwelt der Kunst, mächtig auf ihre Art. Diese Spannung hatte etwas Elektrisierendes.
Ich werde auch nie vergessen, wie ich in der Saltykov-Ščedrin-Bibliothek monatelang Bücher exzerpierte. Fotokopierautomaten gab es ja nicht, ich schrieb alles eigenhändig ab. Dadurch prägte es sich anders ein.
Ebenso unvergesslich sind die Begegnungen mit Efim Ėtkind, Dmitrij Lichačev, Lidija Ginzburg, Jurij Lotman und mit meinem Mentor Viktor Manujlov, der mir in seinem Kommunalka-Zimmer Briefe von Sergej Esenin und Aquarelle von Maksimilian Vološin zeigte. Das war Studium live, unmittelbar und zutiefst berührend.
n.: Wie war es damals möglich, Kontakte zu Künstlern und/oder Dissidenten zu knüpfen?
R.: Da spielten Zufälle mit. Jemand hatte mir die Adresse eines Theaterwissenschaftlers gegeben, dieser machte mich mit einer Kollegin bekannt, die ihrerseits Kontakte zu Künstlern und Literaten hatte. Plötzlich befand ich mich in einem grossen Freundeskreis.
Besonders interessant war der Kreis um Efim Etkind. Er bestand aus Literaturwissenschaftlern ebenso wie aus Literaten, und zwar mehrheitlich dissidenten Schriftstellern. Auch Etkind lernte ich über eine Drittperson kennen. Unsere Freundschaft dauerte bis zu seinem Tod.
n.: In Ihrem Buch schildern Sie eine Begegnung mit Iosif Brodskij im März 1972 in Leningrad, kurz vor dessen Ausbürgerung am 5. Juni im selben Jahr. Brodskij wurde damals von den sowjetischen Behörden in ein Flugzeug nach Wien gesetzt, nachdem man ihm alle Manuskripte abgenommen hatte. Haben Sie mit ihm auch über seine politische Situation gesprochen? Oder war das nicht möglich bzw. nicht angebracht?
R.: Nein, wir unterhielten uns nicht über Politik und seine Situation. Ich sass in seinem Zimmer, das ich durch einen Schrank hindurch betreten hatte, und sprach mit ihm über Baratynskij, Achmatova, John Donne, W.H. Auden – seine Lieblingsdichter. Allerdings erregte die kleine amerikanische Flagge, die auf dem Schrank stand, meine Aufmerksamkeit, doch wagte ich nicht zu fragen, was sie zu bedeuten hatte. Später wurde mir dann einiges klar.
Im März 1972 traf ich Brodskij ein zweites Mal – bei Etkind. Er las uns das neu entstandene Gedicht Sretenie (Darstellung im Tempel) vor und bat mich, eine Kopie in die Schweiz mitzunehmen und einer französischen Freundin zu übergeben. Ich habe meine Botenpflicht erfüllt, mehr noch, ich habe das Gedicht ins Deutsche übersetzt.
n.: Haben Sie ihn nach der Ausbürgerung im Westen wieder getroffen?
R.: Ja. Bei einem Literatursymposium in Graz, mehrmals zufällig im winterlichen Venedig, zweimal in Zürich. Bei seinem ersten Besuch schenkte ich ihm meine russische Hermes-Baby, eine praktische kleine Reiseschreibmaschine. Er war überglücklich. Bei seinem letzten Besuch legte er sich im Garten untern Apfelbaum und machte – müde von einem Vortrag, den er am Englischen Seminar gehalten hatte – ein Nickerchen. Ich bat meinen Sohn, ihn zu fotografieren. Wie sich hinterher herausstellte, war kein Film im Apparat. Danach sind wir uns nie mehr begegnet.
n.: Sretenie war das letzte von Brodskij in Russland geschriebene Gedicht und bezieht sich auf das jüdische Ritual „Darstellung des Herrn“. Brodskij widmet es Anna Achmatova. Hat mit Sretenie das Übersetzen bei Ihnen begonnen?
R.: Sretenie war gewissermassen die Initialzündung. Ich fand es faszinierend, etwas aus dem Manuskript zu übersetzen. Auch passte das Gedicht perfekt in die Anthologie „Gott in der neuesten sowjetischen Poesie“, die ich mit Felix Philipp Ingold im Arche Verlag herausgab.
n.: Sie sprechen sieben Sprachen – Ungarisch, Slowenisch, Serbokroatisch, Deutsch, Französisch, Englisch und Russisch. Damit sind Ihre Übersetzungsmöglichkeiten schier unbegrenzt. Und dennoch haben Sie sich für einige wenige AutorInnen entschieden, denen Sie ‘treu‘ sind, darunter Marina Cvetaeva, Marguerite Duras und Danilo Kiš. Wie kam es zu diesem Verhältnis von AutorIn und Übersetzerin bzw. Übersetzerin und AutorIn?
R.: Als ich 1972 die poetische Prosa von Marina Cvetaeva entdeckte, war ich völlig hingerissen. Ihre Lyrik zu übersetzen, hätte ich mich damals nicht getraut, aber die Prosa reizte mich spontan. Und so stürzte ich mich ins Abenteuer und veröffentlichte 1973 im Benziger Verlag eine kleine Auswahl von autobiographischen Erzählungen, Essays und Briefen der Cvetaeva, die im deutschen Sprachraum noch völlig unbekannt war. Heute weiss ich, dass ich mich übernommen hatte, auch ging alles zu schnell. Doch habe ich mich im Lauf der Zeit immer mehr eingearbeitet, habe die vielfältigen Verästelungen von Cvetaevas Werk gründlich studiert und ihre Sprache – mit all ihren Eigenheiten – quasi verinnerlicht. Es war nur konsequent, dass ich immer weiter übersetzt habe. Irgendwann kam ich mir fast wie ein Medium vor.
Cvetaeva habe ich mindestens zehn Jahre meines Lebens gewidmet und bin an kein Ende gekommen – ihre aus dem Nachlass veröffentlichten Notizbücher locken mich sehr –, mit Marguerite Duras aber glaube ich abgeschlossen zu haben. Es war eine Liebesgeschichte der besonderen Art, Sommer 1980, Der Liebhaber, Das tägliche Leben u.a. zu übersetzen, daneben einen Materialienband über Duras herauszugeben. Ich bin in dieses literarische Universum tief eingetaucht, fühlte mich aber von den letzten Büchern nicht mehr angesprochen.
Bei Danilo Kiš bedaure ich unendlich, dass es nichts mehr zu übersetzen gibt. Seine literarische Welt war für mich eine der Fremdnähe und übersetzerisch die grösste Herausforderung überhaupt. Kiš‘ gestochen scharfe Sprache, die so grandios die Labyrinthe des Stalinismus und die Tragödien des jüdischen Mitteleuropa evoziert, hat mit dem poetisch-elliptischen Stil der Cvetavea oder der Duras nichts gemein. Auch nicht mit meiner eigenen literarischen Diktion. Ich musste mir diese andere Sprache zu eigen machen, und das war hartes Exerzitium. Von Buch zu Buch fühlte ich mich sicherer. Vielleicht ist Sanduhr das Beste, was mir als Übersetzerin gelungen ist.
n.: Von Kiš haben Sie neben Sanduhr auch Ein Grabmal für Boris Davidović (1983), Der Heimatlose (1996) und zuletzt, 2007, gemeinsam mit Peter Urban, vier Stücke übersetzt. Wann haben Sie ihn kennengelernt?
R.: Ich lernte ihn kennen, als ich das Grabmal übersetzte. Im Februar 1983 schrieb ich ihm nach Paris, wenig später trafen wir uns dort. Er lud mich in sein Lieblingsrestaurant, die „Rotonde“ in Montparnasse, ein, wo sich seit je die revolutionäre Boheme traf. Wir verstanden uns auf Anhieb, unterhielten uns dreisprachig (ungarisch, serbokroatisch, französisch) über Literatur und Leben, Poesie und Politik. Er war gross, schlank, hatte dichtes, lockiges Haar: ein temperamentvoller Erzengel, der nach einigen Gläsern Wein zu theatralischer Form auflief und mir – und der versammelten Kellnerschar – vorführte, wie Krleža den Frauen die Hände zu küssen pflegte. – Auf die erste Begegnung folgten viele weitere: in Paris, Frankfurt, Ljubljana, zuletzt in Zürich. Im Januar 1989 kam er, bereits schwerkrank, zu einer Lesung ins Theater am Hechtplatz und besuchte mich zu Hause. Im Oktober starb er an Lungenkrebs. – Kiš gehört zu den Menschen, die ich am meisten vermisse. Es verband uns eine Freundschaft, die – durch den Fokus auf sein Werk – ebenso konzentriert wie innig war. Als Übersetzer wird man ja unfreiwillig zum Vertrauten, und Kiš war sich dessen sehr bewusst. Zugleich war er voll Respekt und Dankbarkeit für meine Arbeit. – Unsere Korrespondenz ist inzwischen (in der Zeitschrift Sarajevske sveske) veröffentlicht. Und wenn ich an all die Aufsätze denke, die ich über ihn geschrieben habe, an das Übersetzte und Edierte, merke ich, dass Kiš in meiner Lebenstopographie ein eigener Kontinent ist.
n.: Sie haben wie keine andere einen Überblick über die literarischen Entwicklungen der letzten vierzig/fünfzig Jahre in Osteuropa. Das ist ein schier endloses Feld von Autoren und literarischen Entdeckungen. Welche literarischen Ereignisse sind Ihnen – neben Kiš – besonders in Erinnerung geblieben?
R.: Sehr wichtig war für mich Gennadij Ajgi. Ich habe sein Werk über zwanzig Jahre hinweg verfolgt und finde es nach wie vor einzigartig. Ajgi war Tschuwasche, schrieb aber auf Russisch. Seine Lyrik lässt sich nicht einordnen, folgt eigenen Gesetzen, Imaginationen und Intonationen. Der Ajgi-Sound ist schlicht unwiderstehlich, wobei ich noch im Ohr habe, wie Ajgi selbst seine Gedichte las – nicht pathetisch, aber irgendwie schamanisch. Ein betörender Singsang. Ich habe ihn noch wenige Monate vor seinem Tod lesen gehört, anlässlich einer gemeinsamen Veranstaltung in Bremen. Wir waren befreundet, haben Briefe und Bücher getauscht, übersetzt habe ich ihn allerdings nicht, es blieb bei einigen Aufsätzen, die ich ihm gewidmet habe.
Was die russische Szene betrifft, muss ich auch die Moskauer Konzeptualisten erwähnen. Ich habe die Dichter-Künstler-Gruppe in Moskau kennengelernt – unvergesslich die Besuche in den Ateliers von Ilja Kabakov und Andrej Monastyrskij – und ihre Aktivitäten mit Interesse weiterverfolgt. Lev Rubinštejn, Dmitrij Prigov, der frühe Sorokin waren Entdeckungen, später Pavel Pepperštejn, der mit seiner „Medizinischen Hermeneutik“ eine neue Spielart des Konzeptualismus schuf. Mit einer gewissen Wehmut denke ich an die Zeit zurück, als sie bei mir zu Hause vorlasen: Rubinštejn, Prigov (der nicht mehr lebt), Pepperštejn (der kein Flugzeug mehr besteigt). Es war Anfang der neunziger Jahre.
n.: Und außerhalb Russlands?
R.: In Ungarn hat sich das grosse Trio Péter Esterházy, Péter Nádas, Imre Kertész als resistent gegen Moden und Trends erwiesen. Ihre Werke füllen inzwischen meine Bücherregale, Nádas‘ dreibändiges opus magnum Parallelgeschichten (2005) hat Musilsche Qualitäten. Daneben gibt es hochbegabte jüngere Autoren wie Attila Bartis (Die Ruhe) oder György Dragomán (Der weisse König).
A propos Jugend: Zu den faszinierendsten literarischen Entdeckungen der letzten Jahre gehören für mich die jungen Ukrainer Serhij Žadan und Ljubko Dereš. Soviel Rasanz, gepaart mit Feingefühl, ist ziemlich einmalig. Und mit welch abgründigem Humor die postkommunistische Transformationszeit geschildert wird, Chapeau!
Natürlich bewundere ich auch die (geopoetischen) Essays von Jurij Andruchovyč und seinem polnischen Kollegen Andrzej Stasiuk. Nicht zuletzt wegen ihrer subjektiven Sicht und ihrer starken Sprache.
In Sachen ex-jugoslavischer Literatur halte ich mich mit Gewinn an die Bücher von Bora Ćosić, David Albahari, Dževad Karahasan und Dubravka Ugrešić. Vier Namen, vier unterschiedliche poetische Universen. Albahari kehrt immer wieder zur Thematik des Holocaust zurück, Karahasan umkreist bosnische Befindlichkeiten (mit Rekurs auf islamische Philosophie), Ćosić schildert die jugoslawische Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg – und darin die eigene Lebensgeschichte – als absurdes Theater, Dubravka Ugrešić arbeitet sich ingeniös am Thema der Emigration ab, nachdem sie sich in furiosen Essays von ihrer kriegsverseuchten Heimat losgesagt hat.
Und fast hätte ich die Slowenen vergessen: den wunderbaren Lyriker und Essayisten Aleš Šteger. Sein Gedichtband Buch der Dinge macht aus alltäglichen Gegenständen poetische Epiphanien.
n.: Sie haben gerade die boomende ukrainische Literatur erwähnt. Um die russische Gegenwartsliteratur ist es gerade etwas still geworden. Wie schätzen Sie die ‚literarische‘ Lage in Russland ein?
R.: Eine schwierige Frage. Russland ist ein riesiges Land, wie soll man da – aus der Distanz – einen Überblick über das politische oder kulturelle Geschehen gewinnen. Ich fühle mich ziemlich ratlos. Es genügt heute ja nicht mehr, literarische Zeitschriften durchzublättern, man müsste auch im Internet ständig auf Suche sein, zumal junge Autoren ihre Arbeiten direkt ins Netz stellen.
Wahrscheinlich tut sich einiges, ohne dass wir davon wissen. Der literarische Mainstream allerdings wirkt nicht umwerfend. Seit Jahren bemühe ich mich, etwas Brauchbares für den Suhrkamp Verlag zu entdecken. Ausser kleinen Funden – wie dem Kurzroman Durst von Andrej Gelasimov – war die Ausbeute mehr als dürftig. Die Bücher, die uns über Agenturen erreichen, sind literarisch oft wenig überzeugend, haben eine problematische ideologische Tendenz oder eine so ausschliesslich russische Ausrichtung, dass sie in Westeuropa kaum Leser finden würden.
Besser bestellt ist es um die Lyrik und Essayistik, aber gerade an diesen Genres sind westliche Verlage kaum interessiert.
n.: Vor kurzem hat die Staatsanwaltschaft in Moskau Ermittlungen aufgenommen gegen Viktor Erofeev wegen „Russophobie“ und „Schüren nationalen Hasses“, im Prozess gegen den Kurator der Ausstellung über „Verbotene Kunst“, Erofeevs Bruder Andrej, gibt es noch kein Urteil. Mir scheint, was früher die Zensur verhinderte, erledigen nun die aus dem Boden schiessenden Kläger und die Staatsanwaltschaft…
R.: Ja, die Lage ist diesbezüglich schlimm. Wer im Wohlstand lebt, zeigt sich politisch desinteressiert. Doch ein nicht unwesentlicher Teil der Bevölkerung driftet nach rechts, kultiviert einen rabiaten Nationalismus und Chauvinismus, der mit Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus einhergeht. Russland soll wieder erstarken, soll zur angsteinflössenden Militärmacht werden usw. Leider spielt die orthodoxe Kirche zum Teil mit, gefällt sich in ihrer Rolle als Staatskirche, statt demokratische Prinzipien hochzuhalten. Und die Regierung ist zentralistisch, kontrolliert die Medien. Eine durchgreifende Demokratisierung des Landes hat nicht nur nicht stattgefunden, sondern wirkt nachgerade illusorisch.
n.: Haben Sie den Eindruck, dass die Autoren aus Osteuropa inzwischen im europäischen Literaturbetrieb angekommen sind? Oder werden sie – in öffentlichen Veranstaltungen und Förderprogrammen – immer noch auf ‚territoriale‘ Fragen oder Themen eingeschränkt?
R.: Unterschiedlich. Autoren wie Imre Kertész, Péter Nádas oder Péter Esterházy gelten längst als europäische Schriftsteller, um nicht zu sagen als Schriftsteller von Weltrang. In anderen Fällen aber folgt die Rezeption einem landeskundlich-politischen Interesse. Der Boom der ukrainischen Literatur in Deutschland ist ein typisches Beispiel: Jurij Andruchovyč oder Serhij Žadan werden nicht in erster Linie wegen ihrer literarischen Qualitäten gelesen, sondern weil man aus ihren Werken Näheres über die Ukraine erfahren möchte. Nur folgerichtig ist dann, dass Andruchovyč vor dem Europa-Parlament in Strassburg über die Orange Revolution reden muss. Vom osteuropäischen Schriftsteller erwartet man nach wie vor, dass er die Rolle des homo politicus übernimmt.
Ich finde diese Erwartungshaltung ziemlich fatal, ebenso die stereotype Festlegung osteuropäischer Literatur auf ‘territoriale‘ Fragen. Leider hat sie Tradition. Doch sollte es im Zeitalter der Globalisierung, des Internets usw. gelingen, diese Sichtweise zu sprengen und die osteuropäischen Schriftsteller aus der Exotenecke zu befreien, um sie als Künstler zu würdigen.
n.: Ja, da findet eine absurde Verwechslung statt. Weil sich osteuropäische Autoren seit den 90er Jahren für den Zusammenhang von Geographie und Poetik interessieren (Stichwort Geopoetik), werden sie immer mehr als ‚Heimatberichterstatter‘ wahrgenommen. Der an den Universitäten leider zu beobachtende Trend in Richtung Area Studies tut dazu sein Übriges.
Geographie spielt auch in Ihrem Buch eine wichtige Rolle, das Meer, Akazienalleen, tuchförmige Plätze, Tiefland, Wind. Sie schreiben, dass Ihre innere Kompassnadel immer nach Osten zeige. Welche Rolle spielen diese geographischen Bilder beim Schreiben?
R.: Sie sind Konstanten der Erinnerung und zugleich Sehnsuchtsmetaphern. Ihre Evokation ist für den Text zentral: in diesen Bildern wird Biographisches verortet und sinnfällig gemacht. Es geht nicht zuletzt um Atmosphäre. Wo nötig – wie im Falle von Triest – habe ich die Geographie durch die Historie ergänzt, um dem Ort mehr Tiefenschärfe zu geben.
n.: Mit dem Wind endet auch Ihr Buch. Der Unberechenbarkeit des Meeres und des Windes setzen Sie als letzten Satz „Staune und vertraue“ entgegen. Ist das auch Ihr Lebensmotto?
R.: So könnte man sagen. Ich habe in meiner Kindheit viele Umzüge und Wechsel erlebt, bin durch viele Fährnisse gegangen. Aber nichts konnte mich in meinem Grundvertrauen und in meiner staunenden Haltung erschüttern. Das ist ein grosses Glück. Zum einen verdanke ich es meinen Eltern, zum andern meinem neugierigen Naturell. Und wenn ich mir – im Leben und in der Kunst – etwas erhalten möchte, dann genau dies: Offenheit, Kindlichkeit, mit anderen Worten das Staunen und das Vertrauen.