Kommentar:
Zwei Jahre nach dem ungeklärten Freitod der Künstlerin und Lyrikerin Anna Al’čuk erschien 2010 (Suhrkamp Verlag) die zweisprachige Ausgabe schwebe zu stand mit ausgewählten Texten der russischen Künstlerin und ihrer Übersetzung ins Deutsche. Das Übersetzer_innentrio Gabriele Leupold, Henrike Schmidt und Georg Witte übersetzte die Gedichte gleich in mehreren Varianten und verdeutlichte auf diese Weise – durch das Spiel mit den Variationen und Verschiebungen im Text – die Vielfalt der Bedeutungen in den Gedichten.
Al’čuk war 2007 mit ihrem Ehemann, dem Philosoph und Autor Michail Ryklin, nach Berlin gezogen, als dieser eine Gastprofessur an der Humboldt-Universität angetreten hatte. In Russland stand die Künstlerin seit ihrer Beteiligung an der Ausstellung Ostorožno Religija! 2003 (dt. Achtung Religion!), bei der es zur Beschädigung und Zerstörung einiger ihrer Werke kam, zunehmend in der öffentlichen Kritik und wurde wegen „Verletzung religiöser Gefühle“ vor Gericht angeklagt. Trotz ihres Freispruchs war die Künstlerin andauernden Anfeindungen in der russischen Presse ausgesetzt und entschied sich mit ihrem Mann für die Emigration.
Einen tieferen Einblick in das Leben und künstlerische Schaffen von Anna Al’čuk gewährt das von Michail Ryklin veröffentlichte Buch über Anna, welches 2014 in deutscher Übersetzung erschien. Das auf Tagebüchern der Ehefrau basierende Buch zeichnet ein sehr persönliches Porträt einer um künstlerische Freiheit ringenden Künstlerin vor dem Hintergrund der politischen und gesellschaftlichen Veränderungen von der späten Sowjetzeit, über die 1990er Jahre bis hin zur heutigen Putin Ära. Der Nachlass von Anna Al’čuk, bestehend aus der von ihr gesammelten Samizdat-Literatur sowie einigen ihrer künstlerischen Werke, befindet sich in der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen.
Eine Auswahl aus Anna Al’čuks Œuvre – Anagramm, Klammer und andere Sprach-Verzweigungen
schwebe zu stand. Im Schwebezustand, im zweisprachigen, sind fast alle Texte dieses Bandes, einem kleinen Werkpanorama der Künstlerin Anna Al’čuk. Da schieben sich Buchstaben übereinander. Auch laden Klammern und Versenden zu doppelten und dreifachen Lesarten ein wie ein manchmal buntes Durcheinander von Majuskeln und Minuskeln. Folgt die Leserin dem Imperativ und verfolgt die schwebenden Fäden, bis sie zum Stand kommen – vor allem in den neueren Texten (seit Mitte der 1980er Jahre) zu vielfältigen Bedeutungen – dann gerät das anfängliche Vers- und stellenweise Buchstabengewirr zu poetischen Bildern.
Die Zweisprachigkeit potenziert bei diesen Gedichten, bei denen die Übersetzung nur Koautorschaft sein kann (wie Anna Al’čuk in einem von Michail Ryklin im Nachwort zitierten Manuskript schrieb), legen die beiden Sprachen doch wechselseitig Spuren bloß, die in der einen gar nicht unbedingt auffallen. Sehr schön, dass es immer wieder zwei, einmal auch drei Varianten zu einem russischen Gedicht gibt:
ра(дости гнуть)
испеПЕПЕЛинию
феникс (ли
кующий)
ил ЛИ БО
пьяный
———-
GLU(cksen)T
aus der asche LUGt
phönix lü
stern
o der WE der BE
trunken
———-
freuden schmiedend
aus der lineASCHE
ist das phö
nix jubel
oder LI(e) be(r) BO
trunken
———-
freud(voll führen)
ausASCHEerstehen
jubi LI
erender phönix
trunkener PO
et
Der Einfallsreichtum des Übersetzer_innentrios, Gabriele Leupold, Henrike Schmidt und Georg Witte, beeindruckt in diesem fortwährenden Balanceakt aus Textnähe und der Loslösung vom russischen Original, derer es bedarf, um die Wort- und Bedeutungsspiele im Deutschen nachzuempfinden. Gabriele Leupold und Henrike Schmidt beschreiben diese Suche in ihrem „Werkstattbericht“, in dem sie anhand einzelner Gedichte „die beiden wichtigsten Verfahren – Anagramm und Verklammerung, Zerlegen und Verdichten“ und ihre Nachdichtungen im Deutschen illustrieren: „Um das Wesentliche dieser Lyrik zu treffen, muss die deutsche Übersetzung die Methode der Autorin aufgreifen und versuchen, mit einem in ihrem Sinn gewählten Wortmaterial eine ähnliche Gestalt und dieselbe Verdichtung zu erzeugen wie im Original.“
Nicht alle Texte sind so filigran wie das zitierte Gedicht. Die frühen aus den 1970er Jahren, auch diese immer wieder klangvoll, auch diese mit verschiedenen Auflösungsfiguren, folgen durchaus bekannteren Versformen (wenn Al‘čuk sie auch kreativ weiterschreibt). Von ihnen aus scheinen die „rhythmischen Pausen“ eine Brücke zu bilden zu den Texten der letzten Werkphase, der das obige Zitat entstammt. Mit den „Einzellern“ (1988), gewissermaßen dem dichterischen Pendant zu Malevičs „Schwarzem Quadrat“ – „Schwarze Buchstabenquadrate“ nennt sie das Übersetzer_innentrio – stellt der Band die verschiedenen Schaffensphasen und -weisen der Künstlerin vor.
Die beiden Nachworte erzählen von ihr, von ihrem Leben, ihrer Zeit und dem Kunstschaffen, Wer hier weiterlesen möchte, erfährt viel über Anna Al’čuks Werk, aber auch über das sowjetische und postsowjetische kulturelle Leben. Mit dem Nachwort ihres Ehemanns Michail Ryklin, einem Nachruf, erhält die Auswahl einen in anderer Hinsicht persönlichen und zugleich politischen Ton: Anna Al’čuk und Michail Ryklin verließen Moskau 2007. Den Entschluss, so berichtet Ryklin, hat Al’čuk 2004 gefasst, als sie in einem Strafprozess in Folge der Ausstellung „Achtung Religion!“ vor Gericht stand; auch der Freispruch vom „Schürzen nationalen und religiösen Zwistes“ änderte nichts daran. In seinem Nachwort liest man auch von dichterischen Vorbildern und Einflüssen: Marina Cvetaeva, dem Lieblingsdichter Osip Mandel’štam (Widmungsgedichte und Epigraphen in der Auswahl von Gedichten künden bereits davon), Sapgir, Gleb Cvel (mit dem sie 1987 den „Klub der Geschichte der zeitgenössischen Poesie“ gründete), die japanische Lyrik, deren Einfluss sich vor allem in der späteren Lyrik zeigt. Das Nachwort und der Werkstattbericht ergänzen sich: erzählt das eine vom Leben der Künstlerin, widmet sich der andere der Gemachtheit der Gedichte. Gabriele Leupold und Henrike Schmidt lassen in der Beschreibung ihrer Übersetzerinnenarbeit die Verfahren der Dichterin anschaulich werden, ihre Anagramme, Verschiebungen, ihre „Elementarlehre, die linguistische Separationskunst und poetische Naturphilosophie zusammenführt“.
schwebe zu stand ist eine Einladung, eine hierzulande bislang kaum bekannte, vielseitige Künstlerin kennenzulernen. Und der Band lädt mit weit geöffneten Türen zu einer Bekanntschaft ein, bietet er doch sowohl in der Textauswahl als auch in den Beigaben von Werkstattbericht und Nachwort unterschiedliche Zugänge zu einem Werk, das – wie in dem Gedicht auf dem Buchrücken angekündigt – Raum und Zeit außer Kraft setzt:
matt setz ich dich
Raum
schach dir –
Zeit
Literatur
Anna Altschuk: schwebe zu stand, Übersetzung: Gabriele Leupold/Henrike Schmidt/Georg Witte, Nachwort: Michail Ryklin, Frankfurt/Main 2010.
Michail Ryklin: Buch über Anna, Übersetzung: Gabriele Leupold, Berlin 2014.