Ein Interview mit dem Künstler Anatolij Osmolovskij
Weniger politisch und skandalös als früher, und doch nicht weniger umstritten, ist die aktuelle Kunstproduktion Anatolij Osmolovskijs. Umgeben von einer kleinen Sammlung alter russischer Kultobjekte sowie den Objekten des Künstlers selbst, in seiner Wohnung, unweit der Krasnaja Presnja Straße in Moskau, fand dieses Gespräch über Kunst und Politik statt.
novinki: Anatolij, wie hat Ihr künstlerisches Schaffen begonnen?
Anatolij Osmolovskij.: Ich bin aus Moskau. Ich habe als Schriftsteller angefangen, als Dichter. Mit 17, 18 Jahren, als die Perestrojka anfing und Freiheit und Glasnost verkündet wurden, habe ich Gedichte auf öffentlichen Plätzen gelesen, und auf der Straße. Da die russische Literaturszene in intellektueller Hinsicht doch recht primitiv ist, haben ich und meine Freunde uns zunehmend von ihr distanziert. Schrittweise bin ich in den Bereich der Performance gerutscht, und später in den der bildenden Kunst.
n.: Diese Gruppe nannte sich „Ministerium PRO UdSSR“, richtig? In einem anderen Interview habe ich gelesen, dass zu der Zeit, als der Performance-Aspekt für euch an Bedeutung gewann, ihr eines der Mitglieder aus eurer Gruppe wegen bourgeoiser Tendenzen ausgeschlossen habt. Habt ihr euch dabei an Praktiken der Avantgarde orientiert?
A.O.: Unsere Gruppe bestand aus drei Personen: Dmitrij Pimenov, der Dichter Georgij Turov, ich. Hinzu kam noch ein assoziiertes Mitglied. Georgij Turov, der, soweit ich weiß, inzwischen nicht mehr dichtet und in Deutschland lebt, hatte sich selbst von unserer Gruppe entfernt, woraufhin wir ihn ausgeschlossen haben. Der Ausschluss erfolgte im Einvernehmen. Turov war ein sehr talentierter Mensch. Schade, dass er aufgehört hat, Texte zu schreiben und ein gewöhnlicher Spießer geworden ist. Wir hatten also Recht.
n.: Also hatte dieser Akt selbst keine künstlerischen Konnotationen?
A.O.: In einem gewissen Sinne hatte er welche. Da war ein Nachhall der Unversöhnlichkeit der Avantgarde. Im Prinzip haben wir damals die künstlerische Qualität eng an die politische Position gebunden. Heute bin ich der Meinung, dass künstlerische Qualität von der politischen Position unabhängig ist. Was den literarischen Wert von Turovs Texten angeht, so schätze ich diesen auch heute ziemlich hoch ein, und bedaure, dass er aufgehört hat, sich ernsthaft mit Literatur zu beschäftigen.
n.: Im Jahr 1990 haben Sie dann die Veranstaltung „Die Sprengung der Nouvelle vague“ organisiert. An einem Abend wurde vor der Leinwand, auf der Louis Malles Zazie gezeigt wurde, die letzte Prügelszene nachgestellt, unter Beteiligung von Boxern und einem 200 kg schweren Bären. Sagen Sie bitte, wie es dazu kam? Orientierten sie sich an Vorbildern der westlichen Avantgarde, spielte der Lettrismus eine Rolle? Und wenn ja, warum haben Sie gerade in diesem historischen Moment an die Tradition der Avantgarde angeknüpft?
A.O.: Wir waren sehr große Fans der Nouvelle vague. Wir haben uns nicht nur einfach die Filme angesehen, sondern ernsthaft das Medium Film erforscht. Erstens reizte uns die politische Engagiertheit. Insbesondere Godard. Zweitens haben wir die Montage studiert, haben allerlei filmtheoretische Texte gelesen, insbesondere von den russischen Regisseuren – Lev Kulešov und Sergej Ėjzenštejn. Wir hatten den Einfall, Kino zu machen. Wir haben uns sogar eine 16-mm-Kamera gekauft und wollten einen Film drehen, aber ein ganzer Film ist dabei nicht herausgekommen. Das konnten wir finanziell nicht stemmen. Schließlich war die Sowjetunion ein Staat, in dem unter den Menschen Gleichheit in der Armut herrschte: Niemand hatte Startkapital.
n.: Kanntet Ihr damals die Performances der Lettristen in Kinosälen? Waren sie bekannt?
A.O.:Nein. Bekannt waren sie auf der Ebene irgendwelcher Legenden, Gerüchte. Wir wussten freilich von der lettristischen Internationale, von der Situationistischen Internationale, aber am Anfang der 1990er Jahre waren ihre Texte nicht übersetzt. Später erst, im Jahr 1998, habe ich eine Reihe von Texten der Situationistischen Internationale übersetzt – die lettristischen Texte gibt es bis heute nicht auf Russisch. Dann haben wir Ende der 1990er Jahre zusammen mit unseren Philosophenfreunden Die Gesellschaft des Spektakels von Guy Debord übersetzt.
n.: Und gab es für Euch das Problem der Wiederholung der Avantgarde-Praktiken, das Avdej Ter-Ogan’jan untersucht hat?
A.O.: Ter-Ogan’jan ist ein radikaler Vertreter der Postmoderne. Sicherlich, auch wir waren von postmodernen Strategien angesteckt, insgesamt war unser Interesse aber dem avantgardistischen Paradigma des Schaffens näher. Und wir haben das alles ernst gemeint. Ter-Ogan’jan beschäftigte sich damit hingegen auf ironische Weise, in der Art eines Witzes oder einer Comedy-Show. Erst später, als gegen ihn wegen der vermeintlichen Schändung von Ikonen ein Strafverfahren angestrengt wurde, fing er an, sich mit einer größeren Ernsthaftigkeit damit zu beschäftigen. Denn wenn sie anfangen dich strafrechtlich zu verfolgen, wird es schwer, Witze zu machen.
n.: Im Jahr 1990 fand auch Eure erste Aktion ‚auf der Straße’ statt, und zwar ausgerechnet auf dem Roten Platz.
A.O.: Als wir „Die Sprengung der Nouvelle Vague“ durchführten, machten wir auch die erste Performance auf dem Roten Platz. Da war das aber noch gar keine Aktion, sondern der Dreh des von mir bereits erwähnten ersten Films, der „Zwei Zwanzig“ hieß. Der Film war gedacht als eine Art Abfolge von kleinen Sketchen, und der zentrale Ort, auf den alle Sujets zuliefen, war der Rote Platz. Da das mit dem Film aber nicht klappte, wurde eben eine Aktion daraus. Die Idee war, dass Leute eine Stange Wurst für Zwei Zwanzig aßen. Damals gab es bei uns in Russland zwei Sorten Wurst: Zwei Zwanzig und Zwei Neunzig. Zwei Rubel und zwanzig Kopeken kostete die am weitesten verbreitete Wurst, und zwei neunzig, die eher elitärere Wurst. Und unseren Film bauten wir rund um diese Wurst, und nahmen von da aus auf verschiedene Probleme der sowjetischen Gesellschaft Bezug.
n.: Diese Aktion haben Sie mit der Gruppe „Enteignung des Territoriums der Kunst“ („Ekspropriacija territorii iskusstva“) durchgeführt. Können Sie sagen, welche Rolle das Problem des öffentlichen postsowjetischen Raums in dieser Zeit spielte?
A.O.: Im Grunde genommen haben Probleme dieser Art für mich nicht existiert. Das ist ein westlicher Diskurs mit dem öffentlichen Raum, die Interpretationen der Aneignung des öffentlichen Raums tauchten hier erst Mitte der 1990er Jahre auf. Vorher aber waren alle diese diskursiven Probleme nicht aktuell. In erster Linie haben wir unsere Gruppe als ein bestimmtes Modell einer kollektiven Tätigkeit entworfen. Bis 1991 haben wir unterschiedliche Festivals und Kundgebungen mit großen Gruppen in den Kulturpalästen gemacht. Es gab eine ganze Reihe solcher Häuser, in denen Dichter ihre Verse lasen. Zu dieser Zeit war die Poesie sehr populär und füllte Säle von 300, 400 oder 500 Menschen. Sogar wir als ganz unbekannte Dichter konnten ganz locker 150 Leute zusammenkriegen. Und so war „Die Sprengung der Nouvelle Vague“ eine dieser Variationen, und zwar im Kulturpalast der Moskauer Staatlichen Universität auf der Alexander-Herzen-Straße. Unsere Veranstaltungen haben sich immer gerechnet, wir machten auch gut Reklame. Als aber dann die erste Preisanhebung am 1. Januar 1991 kam, ging der ganze ökonomische Aspekt baden. Sämtliche Kulturpaläste fingen an hundertprozentige Vorabzahlungen zu fordern, und so waren unsere Auftritte auf den Straßen zum großen Teil Ergebnis der Tatsache, dass man nicht mehr in den Kulturpalästen auftreten konnte. Natürlich gab es da auch ein bestimmtes Gefühl einer gewissen Freiheit, irgendwelche politischen Illusionen. Ich denke, eine Idee kommt einem nicht grundlos einfach so, sondern vielmehr durch ein Gefühl für die Zeit. Die Idee etwa, auf dem Roten Platz aufzutreten, war schon ein halbes Jahr zuvor aufgekommen, ehe es unmöglich wurde, in den Kulturpalästen aufzutreten. Und als die Vorauszahlungen gefordert wurden, kam die Idee wieder hoch. Und wir haben sie realisiert. Aber wenn es möglich gewesen wäre in den öffentlichen kulturellen Veranstaltungsorten etwas zu machen, dann hätten wir diese Aktion vielleicht nicht realisiert. Das ist ein wechselseitiger Prozess. Die sozialen Gegebenheiten steuern den Künstler auf die eine oder andere Implementierung hin.
n.: Aber dann wurden Aktionen auf der Straße Ihre künstlerische Strategie und die Strategie auch von einigen anderen Künstlern, wie Oleg Kulik, Sascha Brener…
A.O.: Allerdings fingen die doch bedeutend später an, das auch zu machen, 1994/95/96.
n.: Und wenn man den Moskauer Aktionismus im Ganzen betrachtet, kann man dann nicht sagen, dass eigentlich 80% der Aktionen im Galerieraum stattfanden?
A.O.: Nein, gerade das Gegenteil ist der Fall. Die hauptsächliche Aktivität war im öffentlichen Raum, der auf keinerlei Weise mit kulturellen Einrichtungen verbunden war, von denen es in dieser Zeit tatsächlich nur sehr wenige gab. Ja, Kuliks ‚Hund’-Aktion war tatsächlich mit der Galerie Gel’man verbunden. Sie fand aber vor dem Ein-gang in die Galerie statt, also auch im öffentlichen Raum. Da gab es ein spielerisches Moment: gleichsam als ob der Hund die Leute die Galerie nicht betreten lässt, indem er die Tür der Galerie Gel’man bewacht.
n.: Und wann fingen Sie an, mit der Galerie Ridžina zusammenzuarbeiten?
A.O.: 1991. Ich machte die Ausstellung „Tag des Wissens“. Das war meine erste Ausstellung, meine und die meiner Freunde. Das war in Vielem auch ein ganz natürlicher Vorgang, da unabhängiges, professionelles Schaffen einfach unmöglich wurde. Die Kulturpaläste schlossen, verwandelten sich in Autosalons, Möbelhäuser, hörten auf als kulturelle Markierungspunkte zu funktionieren. Um das Jahr 1991 herum endete diese Atmosphäre der Neuerung, die in der Zeit der Perestrojka eingesetzt hatte. 1991, sobald die ersten Reformen einsetzten, nicht die von Gajdar, sondern die von Pavlov, starb das kulturelle Leben in Moskau. Zudem ging das Interesse der Menschen am Kulturleben zurück, weil die Preise das erste Mal dramatisch anstiegen, und die Leute in eine tiefe Depression fielen.
n.: Ein anderer Raum, der große Bedeutung hatte, waren die Massenmedien. Nach den Worten des Kunstkritikers Andrej Kovalev waren die Beziehungen zwischen den Massenmedien, die gerade neu erfunden wurden, und den Künstlern recht freundschaftlich. Finden Sie auch, dass es da eine ganz andere Situation gab?
A.O.: Ohne jeglichen Zweifel. Viele professionelle Kunstwissenschaftler, wie zum Beispiel Kovalev, waren gezwungen in den Zeitungsjournalismus zu gehen. Wir orientierten uns zu dieser Zeit an einem Modell des anonymen Zuschauers, zu dem ein Passant werden konnte, ein Journalist, der darauf reagierte, was wir machten. Aber eben in dieser Zeit dünnte unser Publikum deutlich aus. Man verstand, dass einen ganz konkrete Menschen wahrnahmen, die man selbst persönlich kannte, dem großen Publikum aber war unsere Tätigkeit insgesamt recht egal. Ich bin den 1990ern gegenüber sehr skeptisch eingestellt. Der Zustand der Gesellschaft in dieser Zeit war schauderhaft: es herrschte das absolute Chaos, es gab Depressionen und Aggressionen in breiten Schichten der Gesellschaft.
n.: Und was dachten Sie in den 1990er Jahren über den Kapitalismus? Sie waren, soweit ich das verstehe, unter dem Einfluss von Deleuze. Bei diesem aber ist der Kapitalismus eine zweischneidige Angelegenheit. Für ihn ist der Kapitalismus auch ein System, das auf dem Begehren aufgebaut ist, und das Repressionen durch ‚Staatsmaschinen’ abschafft. Gab es da auch eine gewisse Faszination für das kapitalistische System in postsowjetischer Zeit?
A.O.: Unsere Gruppe stand dem Kapitalismus recht skeptisch gegenüber, aber nicht aufgrund einer persönlichen Erfahrung – hatten wir doch nicht unter dem Kapitalismus gelebt, kannten weder die Grundlagen seines Bestehens, noch die Mechanismen seiner Funktionsweise. In gewissem Sinne stellt sich uns das bis heute unzureichend dar. Ich denke, dass die Menschen hier in dieser Hinsicht unerfahren sind. Sie leben in einem Regime, dessen sie sich nicht ganz bewusst geworden sind. Deswegen beruhte unser skeptisches Verhältnis zu den Ereignissen der 1990er Jahre auf historischen Zeugenaussagen von Künstlern, deren Texte wir lasen. 99,9% der künstlerischen Szene aber sangen der Bourgeoisie, die wir nicht hatten, dem Spießbürger das Hosianna. Unsere Antwort darauf war: wenn ihr den Spießbürger lobpreist, dann lobpreist ihr die Banalität, weil der Spießbürger sich an banalem Verhalten und banaler Kunst orientiert. Wenn ihr die Bourgeoisie lobpreist, dann lobpreist ihr Partikularismus und schlechten Geschmack. Und Deleuze – das ist wirklich ein wichtiger Autor. Trotz allem avantgardistischen Pathos’ spürten wir nämlich den Einfluss der postmodernen Kultur. Und innerhalb dieser Kultur suchten wir irgendwelche Autoren, die für uns interessant sein konnten, die uns Ideen für unser Schaffen liefern konnten. In dieser Hinsicht schien mir von allen Autoren Deleuze der ernsthafteste zu sein, und insbesondere sein Buch Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie. Das gab es in Russland nur in einer sehr gekürzten Fassung, aber immerhin war es eine sehr gute Übersetzung von Michail Ryklin. Ich habe dieses Buch etwas anders gelesen als die meisten in dieser Zeit. Die Sache ist, dass deine Schlussfolgerungen sehr von deinem Blickwinkel abhängen. Man kann dieses Buch aus der Perspektive eines klassischen postmodernen Ansatzes lesen, aber auch aus der Perspektive der Avantgarde, und diese Lesarten haben die postmodernen Autoren auch selbst angelegt. Bei Deleuze ist eine Unzahl von Ideen da, die dann Grundlage des postmodernistischen Vorgehens wurden. Er hat recht radikale politische Ideen, unter anderem die Idee des Kapitalismus als Wunschmaschine, die Idee vom Schizophrenen, der ein größerer Kapitalist werden soll als der eigentliche Kapitalist, um alle Grenzen zu schizophrenisieren, welche der Kapitalismus zieht. Vom politischen Standpunkt aus gesehen ist das ein sehr utopisches und naives Schema, aber es ist recht interessant als Anleitung für den kreativen Prozess. Es produziert ziemlich viele nicht-alltägliche Aspekte, nicht alltägliche Ideen, bestimmte Verfahren und Argumente. Und unsere Aktionen gegen Ende der 1990er Jahre beruhten in Vielem auf Deleuze. Ich meine z.B. die Kampagne „Gegen alle Parteien“.
n.: Ich hatte auch diesen Eindruck, denn in dieser Aktion, in der sie in der Duma-Wahl 1999 zum Ankreuzen der Spalte „Gegen alle Parteien, Bündnisse und Kandidaten“ aufriefen, vollzieht sich eine Absage an den Wunsch, an die Repräsentation des Begehrens. Im Zusammenhang mit dieser Aktion habe ich eine Frage. In einem Gespräch sagten Sie, die Idee bestünde darin diese Spalte ‚zu vertonen’, ihr ‚eine Stimme zu geben’. Doch hatte diese Wahloption 1999 nicht bereits eine recht große Popularität? Gerade mit dieser Spalte kämpften viele Leute doch auch für eine sauberere, transparentere Demokratie, nicht jedoch für die Abkehr von jeglicher Wahl.
A.O.: Die Sache ist doch, dass eine riesige Zahl von Menschen auf verschiedene Weise mit der Spalte „Gegen alle“ stimmte. Der eine kämpfte für eine transparentere Demokratie, und der andere kämpfte gegen die Demokratie als solche. Denn dem Gesetz zufolge hätten die Parteien neu gewählt werden müssen, sollte „Protiv vsech“ die Wahl gewinnen. Dann hätten sie nicht am neuen Wahlgang teilnehmen können. „Gegen alle“ wurde zur gleichen Zeit von Menschenrechtlern und Faschisten, russischen Nazisten, der Gruppe „Russische nationale Einheit“ unterstützt. Die Kampagne wurde auch von unbekannten, anonymen Leuten unterstützt, die ganz Moskau mit Stickern, mit Plakaten aus eigener Herstellung beklebten. Größtenteils war das eine Reaktion „von unten“, von einfachen Leuten. Herauszufinden, was für ideologische Motive sie bewegten, ist ziemlich schwierig.
n.: Wenn Sie aber sagen, die Spalte „Gegen alle“ „vertonen“, ihr „eine Stimme ge-ben“ dann ist das doch ein Spiel mit Repräsentation?
A.O.: Ja, natürlich. Aber ich bin ganz und gar nicht einverstanden mit der Vorstellung von einer „transparenten Demokratie“. Es gibt keine transparente Demokratie. Das ist eine Illusion, die im Westen oder in Russland, wo auch immer, existiert. Die Situation der Wahl, das Wahlverfahren, ist doch ein partikulares Ereignis. Eine saubere Demokratie gibt es nicht, in allen Ländern ist sie mehr oder weniger schmutzig.
n.: Und wie wichtig ist für Sie dabei die Erfahrung der Arbeit im Polit-Marketing der 1990er Jahre?
A.O.: Ich habe im Polit-Marketing in den Perioden der Duma-Wahlen 1995 und der Präsidentschaftswahlen 1996 gearbeitet. Ich hatte in dieser Zeit praktisch keine Ausstellungen, weil das eine echte Galeerenarbeit ist. Zweimal 24 Stunden musste man arbeiten, dann konnte man 24 Stunden ausruhen, und das für den Zeitraum eines halben Jahres. Dadurch habe ich aber erfahren, wie Politik in dieser Zeit gemacht wurde. Und ich kann völlig eindeutig bezeugen, dass in den 1990er Jahren von irgendeiner Demokratie nicht die Rede sein konnte.
n.: Und was haben Sie gemacht, wenn das kein Geheimnis ist?
A.O.: Es ist ein Geheimnis.
n.: An der Aktion „Barrikade“, in der Sie zum 30jährigen Jubiläum der Pariser Blockade die Bol’šaja-Nikitskaja-Straße versperrten, haben immerhin 250 Leute teilgenommen. Hatte RADEK denn Verbindungen mit politischen Splittergruppen?
A.O.: Ja, da haben welche teilgenommen. Anarchisten, Umweltaktivisten. Fünf Gruppen haben teilgenommen. Jede Gruppe konnte etwa 50 Leute mobilisieren. Es ist aber wichtig, dass diese Parteien auf unseren Flugblättern nicht genannt wurden. Sie haben an der Aktion eher informell teilgenommen. Wen wir nicht für unsere Aktion gewinnen wollten, das war die Nationalbolschewistische Partei Ėduard Limonovs, weil wir sie für eine faschistische Organisation hielten und nach wie vor halten.
n.: Hatten Sie denn persönliche Treffen mit Limonov?
A.O.: Ja, aber bei meinen persönlichen Treffen mit Limonov habe ich ihm gesagt: „Ėduard, was machen Sie denn da? Warum verwenden Sie nazistische Symbolik und warum propagieren sie diese? Ihr geht zusammen mit Veteranen auf Demonstrationen und schwenkt quasi-nazistische Flaggen. Was werden die Veteranen davon halten?“ Er sagte damals, man müsse allen einen Schock versetzen.
n.: Ziemlich viele Leute haben mir erzählt, dass man Mitte der 1990er Jahre die Partei Limonovs noch als verrücktes Kunstprojekt wahrgenommen habe?
A.O.: Man kann alles Mögliche als verrücktes Projekt wahrnehmen. Auch die Gruppe „Russische nationale Einheit“ wurde und wird als verrücktes Kunst-Projekt wahrgenommen Das Entscheidende ist, wie ein Mensch so eine Sache positioniert. Limonov hat diese Sache nicht als Kunst-, sondern als politisches Projekt positioniert. Dass in dieser politischen Organisation ein bedeutendes Element künstlerischen Ausdrucks vorhanden war – einverstanden, aber bekanntermaßen haben auch die Nazis sich vieler künstlerischer Ideen bedient. Auch hat Benjamin geschrieben, dass die Faschisten die Politik ästhetisieren, während die Linken die Kunst politisieren. Deswegen ist nichts Verwunderliches daran, dass sie das als Kunstprojekt gemacht haben. Ich würde es auch ein postmodernes politisches Projekt nennen. Übrigens wie „Gegen alle“ auch, nur von der anderen Seite. Limonov veröffentlichte auf seinen Seiten historische Texte über die RAF und gleichzeitig, zum Beispiel, über Hitler. Er gaukelt so das Modell eines romantischen Dämons vor, eines romantischen, dämonischen Geists, der einen Pakt mit dem Teufel eingeht, sei’s mit Hitler, sei’s mit rechts, mit links, mit wem auch immer. Das Wichtigste ist, allen einen Schock zu versetzen. Unser Verhältnis dazu war äußerst negativ.
n.: Kann man sagen, dass in der Kunst des Moskauer Aktionismus die Linie zwischen Kunst und Politik immer sichtbar blieb?
A.O.: Ja, aber in der Aktion „Gegen alle“ haben wir dann bereits versucht, ein unabhängiges politisches Projekt zu machen. Und dabei haben wir insbesondere die Losung der Situationisten verwendet: „Wir sind Künstler nur, insofern wir schon keine Künstler mehr sind. Wir sind angetreten, die Kunst ins Leben zu überführen“. In unserem Kreis war damals dieser recht verlogene Ausspruch sehr verbreitet. Freilich ist er nicht verlogen, er ist teilweise wahrhaft, aber er erfordert sehr ausführliche Kommentare. Es reicht nämlich nicht aus, zu sagen, dass die Kunst, die Beschäftigung mit Kunst an sich, ein unabhängiges, anderes politisches Projekt sei. Denn die Bestimmung „politisch“ ist hier nicht sehr genau. Wenn nämlich dem politischen Projekt ein reales Greifen nach der Macht folgen soll sowie die Ausarbeitung eines Programms für den Fall einer Machtübernahme und die Realisierung bestimmter Ideen, dann hat das freilich keinerlei Bezug zur Kunst. Die Aktion „Gegen alle“ war in diesem Sinne nicht politisch, sondern eine antipolitische oder soziale Aktion.
n.: Vom Jahre 2000 an propagierten Sie die „Nicht-spektakuläre Kunst“. Warum haben Sie sich entschlossen, nicht länger skandalträchtige ‚politische’ Kunst zu betreiben?
A.O.: Als wir während der Aktion „Gegen alle“ den Druck verschiedener Polizei- und Geheimdienststrukturen zu spüren bekamen, haben wir ziemlich schnell verstanden, dass zwischen der politischen und der künstlerischen Betätigung grundlegende Widersprüche bestehen. Zum Beispiel ist es wesentlich effektiver jeden Tag dreißig Mahnwachen abzuhalten, als eine Mahnwache im Monat, auch wenn diese grell, erinnerungswürdig, artifiziell ist und als Spektakel ausgearbeitet werden musste. Warum? Wenn die Mahnwachen jeden Tag stattfinden, dann werden die Machthaber, die diese Mahnwachen beobachten, verstehen, dass dahinter irgendeine beharrliche Organisation steht. Wenn du aber eine artifizialisierte Kundgebung machst, dann versöhnt das künstlerische, spielerische Element im großen Maße mit diesem Ereignis. Der schöne, künstlerische Bestandteil raubt die Möglichkeit, die Gefahr zu sehen. Aber gerade die Gefahr, die Angst ist das Instrument gegenseitiger Beeinflussung in der Politik. Das Künstlerische senkt nicht nur das Niveau der Angst, sondern verrät den Machthabern zudem, dass die Veranstaltung von so etwas wie „Künstlern“ initiiert wird. Was aber ist ein Künstler? Das ist ein Mensch, der das Spiel dem Kampf vorzieht, den Effekt der Effektivität, die Exklusivität der Massentauglichkeit. In diesem Sinne brauchen die Machthaber nicht gleich unruhig zu werden, sie brauchen nicht gleich besorgt zu sein. Nehmen wir den 11 September als Beispiel. Klar war das eine ernsthafte Katastrophe für die amerikanische Gesellschaft und für die ganze Welt. Und obwohl man sich mit diesem Ereignis praktisch nicht versöhnen kann, zumal dort dreieinhalb Tausend Menschen starben, hat die Kinematografizität dieses Vorgangs, sein visueller Effekt, dieses Ereignis mit der es umgebenden Wirklichkeit sowie mit dem Establishment, das all dies überschaute, versöhnt. Bekanntermaßen hat Stockhausen über diesen Umstand gescherzt, dass jeder Künstler Bin Laden nur beneiden könne, und löste damit einen großen Skandal aus. Hier manifestierte sich sehr deutlich der Epochenwechsel. Wir haben die postmoderne Epoche verlassen, welche wahrscheinlich am besten von Baudrillard beschrieben wurde, nach dessen Worten der Krieg im Persischen Golf eine Art Simulakrum ist, ein bestimmtes Bild, das zur Wirklichkeit keinen Bezug hat. Den Witz von Stockhausen aber hat schon keiner mehr als Witz wahrgenommen, kamen doch dort nicht fünf amerikanische Piloten ums Leben oder tausend Iraker, die niemanden interessieren, sondern dreieinhalb Tausend Angestellte in Manhattan in New York. Das sind dann doch verschiedene Dinge, zumindest in den westlichen Hirnen, für die westlichen Politikwissenschaftler. Wir sind in einer anderen Epoche angekommen. Ihr Kernstück besteht darin, dass jenes Paradigma, das die Grenze zwischen Kunst und Politik, zwischen einer ernsthaften Aussage und einem Witz, zwischen Realität und Simulakrum, auslöschte, jetzt nicht funktioniert. Und diese Absteckung der Grenzen, dieser Prozess der Bestimmung „was was ist“ wird noch recht lange weitergehen, mindestens noch zwanzig Jahre.
n.: Sie gehen jetzt davon aus, dass Kunst und Politik zwei geschiedene Praktiken sind. Es gibt ja aber auch noch Kritik. Ist für sie die Kritik in der Kunst und die Kritik mithilfe der Kunst weiterhin ein wichtiges Element?
A.O.: Hier müssen verschiedene Dinge berücksichtigt werden. Die kritische Kunst als ein bestimmter Begriff oder als Paradigma hat sich, meiner Ansicht nach, erschöpft. Die Kritik aber mittels der Kunst erstreckte sich meiner Meinung nach über die gesamte Entwicklung der Menschheit. In diesem Sinne sind die Arbeiten Michelangelos oder Leonardo da Vincis nicht weniger kritisch oder sogar kritischer als die kritischen Arbeiten der zeitgenössischen superkritischen Künstler. Was sind die Arbeiten Michelangelos und was ist Kunst grundsätzlich? Sie ist die Demonstration der Möglichkeit des Ideals. Die Menschen trachten aber eigentlich nach einem besseren Leben, einerseits, wegen der Ablehnung der sie umgebenden Welt, andererseits deswegen, weil sie sogar unbewusst beobachten, dass dieses Ideal existiert, dass es in unserem Leben bereits existiert. Ich denke, dieses Konzept hat es immer gegeben, wenn es auch nicht immer wahrgenommen wurde. Im 19. Jahrhundert findet sich bei einem russischen Kritiker der Begriff „Folter durch Schönheit“. Wenn der Mensch anfängt sich an die herausragenden Werke der Kunst zu gewöhnen, das heißt, sie zu verstehen und zu verehren anfängt, dann beginnt er sich äußerst negativ auf die umgebende Wirklichkeit zu beziehen, die diesem Ideal widerspricht. Im Jahre 2000 habe ich angefangen die Ästhetik der russischen Ikone zu durchdringen, die ich früher als eine Art Nonsens wahrgenommen hatte. Bis dahin hatte es für mich kein künstlerisches Schaffen in Russland gegeben bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Als man aber im 15. Jahrhundert Ikonen und harmonische Bilder schuf, die zu religiösen Zwecken verwendet wurden, stellten diese dennoch ein Ideal dar. Dank dieser Ikonen erkannten die Leute, dass das Leben überhaupt besser sein kann. Und dieses Streben zum besseren Leben beruht auf zwei Grundlagen. Zum einen die eigene Lebenserfahrung, auf der eine Unmenge verschiedenster Plagen lastete, insbesondere im 15. und 16. Jahrhundert, zum anderen ein in materieller Hinsicht realisiertes Ideal, das betastet und berührt werden konnte. Für das mittelalterliche Russland war dies die Ikonenmalerei, für die westliche Welt die Renaissancemalerei oder die Kunst im Allgemeinen. Darin besteht auch die politische Bedeutung der Kunst.
n.: Als sie vor zwei Jahren dagegen protestierten, dass Aleksej Beljaev-Gintovt die Kandinskij-Prämie verliehen wurde, die sie im Jahr zuvor erhalten hatten, verteidigten Sie da die Autonomie der Kunst?
A.O.: In erster Linie halte ich Beljaev gar nicht für einen Künstler. Ich meine, dass er nur T-Shirts druckt. Das ist eine völlig unoriginelle postmoderne Tätigkeit, schon hinsichtlich der Technologie der Herstellung. Er nimmt bekannte Motive, Fotografien her, macht aus ihnen Schablonen und druckt diese einfach manuell auf goldenem Hintergrund. Das ist tatsächlich die Technik von T-Shirt-Druck. Und wenn unsere Kritiker sagen, dass er dass Thema der Imperialität Russlands wiederbelebt habe, dann möchte ich schon diese Frage stellen: und weiter – ist die Wiederbelebung des einen oder anderen Themas für sich von Wert? Was aber ist der Wertmaßstab in der bildenden Kunst? Er besteht darin, etwas Ungewöhnliches zu schaffen, egal, ob es sich hierbei um ein plastisches oder konzeptuelles Objekt handelt. Ein solches Objekt muss plastisch außergewöhnlich sein. Durch seine plastische Konfiguration muss es aus der alltäglichen Wahrnehmung ausbrechen. Und das liegt bei Beljaev nicht vor, ganz abgesehen davon, dass er eine reichlich kryptische, jedoch aggressive eurasische Ideologie vertritt, die sich bei etwas genauerer Betrachtung als Faschismus in seiner klassischen Form offenbart. Hier stellt sich eine sehr schwierige Frage, die nicht bis ins Letzte beantwortet ist. Kann ein Mensch von rechten, steinzeit-lichen Überzeugungen ein talentierter Künstler sein? Es ist bekannt, dass es in der Geschichte nur wenig talentierte Autoren und Künstler gab, die faschistische, rechte Ansichten hatten. Heidegger, Céline, Hamsun. Man könnte noch Leni Riefenstahl nennen, ich bin aber, ehrlich gesagt, kein großer Bewunderer ihrer Filme.
n.: Ihre Bronzeskulpturenreihe nach dem Vorbild von Panzertürmen – hier han-delt es sich nicht nur um schöne, ungewöhnliche Objekte, sondern auch um die Nachbildung des Teils einer Waffe? Wie interpretieren Sie dies?
A.O.: Das ist in vielen Aspekten ein Forschungsprojekt. Ich interessiere mich sehr für den Panzerbau, und an diesen Panzertürmen interessierte mich Folgendes: die Form eines Panzerturms wird in einem relativ freien Regime geschaffen. Worin besteht diese Freiheit? Ein Panzer wird nicht zur massenhaften Verwendung hergestellt, wie ein Auto. Letzteres hängt sehr stark vom Massengeschmack ab, von den Trends im Design, deswegen werden Automobile von Designern gemacht. Sie denken sich die attraktivste Form aus, die von den meisten der zum Kauf eines Automobils fähigen Kunden nachgefragt werden könnte. Kriegsflugzeuge sind gleichfalls nicht frei, dabei aber nicht abhängig vom Massengeschmack, sondern von den physischen Gesetzen. Was den Panzerturm anbelangt, so ist dieser sowohl vom Massengeschmack unabhängig als auch von physischen Gesetzlichkeiten. Freilich kann man einem Panzerturm keine superkomplizierte Konstruktion geben, weil es ja das Gesetz seiner Widerstandsstandsfähigkeit im Falle des Einschlags eines Geschosses gibt. Diese physischen Gesetze sind jedoch nicht so streng wie im Falle des Flugzeugs. Zur gleichen Zeit ist klar, dass es hier auch keine Designer mit Gestaltungsinteressen gibt. Die Entwerfer gehen von der Einfachheit der Herstellung, der Verbilligung der Konstruktion, usw. aus. Mir schien es deshalb so, dass es gerade in diesem Bereich vielleicht möglich sein sollte zu demonstrieren, wie die unbewussten Archetypen der Kultur Menschen beeinflussen – die, die Panzer entwerfen. Ich habe diese Türme angefertigt und sie dabei von ihrem Zubehör befreit: dem Panzerrohr und den Maschinengewehren. Ich wollte wissen, wie der Dummy selbst, der im Stahlbetrieb gegossen wird, von kulturellen Archetypen abhängig ist. Darüber hinaus gibt es hier noch eine ganze Menge anderer Aspekte. So heißt das vorliegende Projekt ‚izdelie’ (‚Anfertigung’). Und in der russischen Kultur beinhaltet ‚izdelie’ ein künstlerisches Element – etwas erschaffen, anfertigen. Zur gleichen Zeit heißen auch die militärischen Prototypen so: „izdelie No 1“, „izdelie No 2“. Erst wenn so ein Prototyp in die ‚massenweise’ Fertigung geht, wird ihm ein Name gegeben. Und ich habe ihn aus der massenweisen Fertigung in die Anfertigung zurück übersetzt, jetzt aber in die künstlerische. Meine künstlerischen Projekte konzentrieren sich jetzt auf die Schöpfung überzeugender plastischer Objekte, die über ihre eigene stoffliche Beschaffenheit und über bestimmte formale Eigenschaften verfügen müssen.
n.: Was kann ein derartiges künstlerisches Projekt ausdrücken? Die von Ihnen erwähnten russischen Ikonen sind Ausdruck einer religiösen Ordnung. Ein Teil der Performance und Aktionskunst des 20. Jahrhunderts versuchte, die expressive Kraft des Menschen als schöpferischem Wesen in den Mittelpunkt zu stellen, und verstärkte den Aspekt der Prozessualität gegenüber dem des fertigen Produkts. Ihre Experimente aus den 1990er Jahren gehören einer Tradition an, die die soziale Tätigkeit dem Artefakt vorzieht. Vielleicht waren Performance- und Aktionskunst in Vielem eine Reaktion auf den Kapitalismus und seine Fetischproduktion. Was kann Ihrer Meinung nach die Objektkunst unter den gegenwärtigen Bedingungen ausdrücken?
A.O.: Nun ja, die Moskauer Künstlergruppe, der ich angehöre, hat ein ausgearbeitetes künstlerisches Programm. In seiner Grundbestimmung basiert es auf der Konzeption des deutschen Philosophen Harry Lehmann über die Rückkehr des Kunstwerks in das System der Kunst. Wir haben jetzt eine Zeitschrift gegründet, den Almanach „Baza“, in dem wir versuchen, dieses künstlerische Programm adäquat darzustellen. Ist doch das Kunstwerk jetzt ein halbvergessener, ein sehr schwammiger Begriff. Er sollte geschärft werden. All dies hat einen Bezug zur Russischen Formalen Schule, wird jedoch freilich von dieser nicht erschöpft. Denn bei den Formalisten gab es eine Reihe sehr ernster Verirrungen, die zusammenhängen mit dem Einfluss des vulgären Soziologismus. Die Rückkehr des Kunstwerks hat sozusagen auch eine soziolo-gische Erklärung (von der Argumentation Harry Lehmanns in seinem Essay „Avantgarde heute“ abgesehen). Alle möchten jetzt die reale Ökonomie, die reale Produktion, den goldenen Standard… Die spektakuläre Ökonomie befindet sich in einer ernst-haften Krise und wir werden schrittweise in ein anderes ökonomisches Modell übergehen. Dieses Modell wird eng mit der Realität zusammenhängen. Und das Äquiva-lent der Wirklichkeit in der Kunst ist eben das Kunstwerk als nicht mehr auflösbarer Rest nach der Zerstörung aller Kontexte, Ereignisse, Richtungen, Schulen usw. Entsprechend richten sich alle Anstrengungen auf die Analyse dieses Begriffs. Und dieser Prozess erfasst nicht nur die bildende Kunst, in der zeitgenössischen Lyrik etwa kann man ähnliche Interessen beobachten. Zur gleichen Zeit kann man diese Tendenz vollkommen gerechtfertigt zu einer Variante der zeitgenössischen Avantgarde zählen, wenn man die Avantgarde nicht als beständige historische Praxis mit all ihren eigenen, schon bekannten Methoden versteht, sondern als eine Ausrichtung, einen Vektor, ein Streben. Das Streben vorneweg zu sein. Ist doch auch die Postmoderne in diesem Sinne der Avantgarde gefolgt, auch wenn sie ihr äußerlich gar nicht glich. Die Avantgarde heute ist das Streben zur Realität, und das Streben zur Realität – das ist die Wirklichkeit des Kunstwerks.
Das Interview führte Matthias Meindl. (Dank geht an den DAAD für die Ermöglichung des Interviews.)