Ernüchterungen in Zagreb

Kroatiens „lost generation“ und ihr Chronist Edo Popović

 

Izlaz Zagreb Jug (Ausfahrt Zagreb Süd) und Oči (Kalda): Zwei Romane, mit denen Popović ein Porträt seiner Generation vorlegt und die gesellschaftlichen Transformationen in Kroatien und Zagreb fühlbar macht. Mit beißendem Witz werden hier die Orientierungslosigkeit und die Desintegration durch die neuen Verhältnisse beschrieben.

In Kroatien wurde Edo Popović durch seine Kriegsreportagen in den 1990er Jahren bekannt, seit dem Roman Ponoćni Boogie – zu deutsch „Mitternachtsboogie“ – gilt er als einer der interessantesten Erzähler seiner Generation. Doch auch zuvor ist Edo Popović kein Unbekannter: Geboren wurde er 1957 in Bosnien-Herzegowina, lebte seit 1968 in Zagreb und war Mitbegründer von Quorum, einer zentralen Literaturzeitschrift in Jugoslawien.

Sein Roman Izlaz Zagreb jug dessen Titel auf Hubert Selbys Last Exit to Brooklyn (1964) verweist, erschien 2003, wurde von der kroatischen Literaturkritik begeistert aufgenommen und 2006 von Alida Bremer ins Deutsche übersetzt. Er erschien unter dem wortgetreu übersetzten Titel Ausfahrt Zagreb-Süd bei Voland & Quist (www.voland-quist.de). 2008 folgte ein weiterer Roman mit dem Titel Kalda.
Die beiden Romane weisen bezüglich stilistischer und inhaltlicher Elemente große Ähnlichkeiten auf. Die zentrale Figur ist jeweils ein scheiternder Künstler – in einem Fall ein Schriftsteller, im anderen ein Fotograf. Die autobiographische Färbung ist mitunter nicht zu übersehen: Popović führt in Ausfahrt Zagreb Süd zwei Schriftsteller seiner Generation vor, die in ihrem privaten und gesellschaftlichen Scheitern der bissigen Ironie des Autors preisgegeben werden. Die Hauptfigur in Kalda weist offensichtliche Parallelen zu Popovićs Biographie auf: Beide kommen aus Bosnien-Herzegowina, verbringen ihre Jugend in Zagreb und arbeiten in den 1990er Jahren als Kriegsreporter.

 

Die Romane sind vor allem im Hinblick auf die ausgefeilten Figurenentwürfe vergleichbar und aufeinander beziehbar, lassen sich also als inhaltliche Fortführungen oder Erweiterungen lesen. Denn Popović beschreibt in beiden Romanen Lebensskizzen jener, die durch den Krieg ihre Illusionen verloren haben und in der neuen kapitalistischen Ordnung Kroatiens auf der Verliererseite gelandet sind. Das Aufwachsen im Sozialismus, der Krieg und die von Korruption, Arbeitslosigkeit und traumatischen Erinnerungen geprägte Nachkriegszeit bilden den Hintergrund für das Schlingern seiner Protagonisten durch zwischenmenschliche und finanzielle Katastrophen. Sie erinnern an die von Douglas Coupland als Generation X sprichwörtlich gewordenen amerikanischen Slacker der 1980er und -90er Jahre und deren Unfähigkeit, sich mit ihrer Gesellschaft zu identifizieren. Im Unterschied zu diesen sind Popovićs Protagonisten jedoch ein paar Jahrzehnte zu alt für ihre pubertär-rebellische Attitüde.

In Ausfahrt Zagreb Süd begegnet dem Leser der ständig trinkende ehemalige Erfolgsautor Baba, der nach dem frustrierenden Brotjob bei einer Zeitung in seiner Stammkneipe die Zeit absitzt und die schäbige Einrichtung und die speckigen Finger der Kellnerin als Oasen der Authentizität Zagrebs hochleben lässt. Seine Liebesbeziehung mit einer weiteren Romanfigur Vera, ist durch die Trinkerei längst zerstört, und so sitzt er an der Bar, mit einer „Scheißangst, nach Hause zu gehen. Die Angst vorm Nachhausegehen ist eine unerforschte Krankheit. Sie wird aus unerfindlichen Gründen völlig vernachlässigt, und im Unterschied zu anderen Ängsten hat sie keinen medizinischen Status. Sie hat nicht mal einen Namen. Wie kuriert man sich von einer namenlosen Krankheit, die von der Medizin ignoriert wird?“

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Der zweite verhinderte Schriftsteller des Romans ist Robi. Von einem Mutterkomplex geplagt und finanziell von den Eltern abhängig, leitet er einen Buchladen, in dem kaum etwas gekauft wird außer Lebensratgeber. Mit seinen kulturpessimistischen Schimpftiraden pflegt er seine spärliche Kundschaft zu verprellen, bis sich eine junge Frau durch sein intellektuelles Schaulaufen zunächst beeindrucken lässt. Prototyp für Popovićs Konsumkritik ist der ehemalige Anwalt Kančeli, der sich in ein Eremitendasein in seine Wohnung zurückgezogen hat: „Stellt euch einen Typen vor, der Strom, Telefon, Fernseher, Computer und Ähnliches abgeschafft hat, heutzutage, wo jeder Nichtsnutz über eine erhebliche Anzahl solcher neumodischen Strahlenquellen verfügt. Jemanden, der sagt: Wozu brauch ich das alles? Ich brauch das nicht. Von solchen Sachen, von all diesen Bildern, Geräuschen und Informationen bekomme ich nur Kopfschmerzen.“ Wie sein Freund Baba ist Kančeli ein heftiger Trinker. Als er beschließt, damit aufzuhören, macht er dies mit größtmöglicher Selbstbestimmung und scheinbar unbeschwert, sein Kurzbesuch in einer Entzugsklinik wird zur Farce. Tee bereitet er mit dem Campingkocher zu und der Hanf gedeiht und grünt auf dem Fensterbrett. Das Notwendigste verdient er – drastisch überqualifiziert – beim Säubern von Fischen auf dem Markt oder von Autos in der Waschanlage. Die scheinbare Selbstzufriedenheit wird aber durch die Erinnerung an Tochter und Frau durchbrochen, die er wegen seines Alkoholismus verloren hat.
Babas Frau Vera sehnt das Ende der Beziehung herbei und gratuliert sich selbst zu ihrem 40. Geburtstag: „Prost, ihr Augenringe, erhob sie die Tasse vor dem Spiegel. Es ist echt unglaublich, wie gut ihr mir steht. Alle Achtung. Ein Prosit auch auf euch, ihr Falten, ich bin stolz auf euch und liebe euch alle. Ich werde alt, na und, fuhr sie den Spiegel an. Die Jahre, mein Freundchen, sind kein Problem, keine Katastrophe, ganz im Gegenteil, sie sind ein hervorragender Schutz vor den Männern, wenn du es noch nicht gewusst haben solltest.“ Die Erinnerung an ihre vergangene Jugend wärmt sie in einem E-Mail-Verkehr mit einem emigrierten alten Freund auf. Für dessen Verklärung der guten Zeit mit der alten Clique hat sie eine Menge Zynismus parat, dennoch hält sie diese Konversation für „billiger als eine Therapie“.
Stjepan, ein ehemaliger Matrose und Gastarbeiter auf den Baugerüsten Deutschlands versucht das Leben von der angenehmen Seite zu betrachten. Er beginnt eine zunächst rein sexuelle Beziehung mit Magda. Als Magda später verschwunden scheint, sucht er sie verzweifelt und stellt erstaunt fest, dass er tiefere Gefühle für sie hegt.

Die Figuren des Romans erzählen ihren Alltag selbst. In einer Montage aus inneren Monologen und direkten Reden lassen sie den Leser an ihrer Sicht auf ihre Umgebung teilhaben. Die Auslassung von Satzzeichen, abrupte und unmarkierte Wechsel zwischen direkter und indirekter Rede, verknappte Sätze und Halbsätze und der Perspektivenwechsel werden so zu einem Sprachfluss, der Bewusstsein, Beobachtung und Gefühl auf unmittelbarem Weg wiedergibt. Darin liegt auch die besondere Stärke von Ausfahrt Zagreb Süd: Die scheinbar ungefilterte Emotion wird durch immer wieder unterbrochene Gedankenstränge und kurzatmige Dialoge an den Leser weitergereicht, wodurch die brutale Ehrlichkeit und der bissige Humor ihre Wirkung entfalten.

Die vielfältig ausgeformten Charaktere sind kunstvoll miteinander verwoben. Nicht nur werden alle in Eigen- und Fremdperspektive, bzw. durch Innen- und Außenansicht je nach Kapitel für den Leser greifbarer. Sie bilden gemeinsam das Mosaik einer Gemeinschaft, die zahlreiche Schnittstellen aufweist: So treffen, streiten, betrinken und beschimpfen sich die Figuren, sind Freunde oder Rivalen, stehen in unterschiedlich intensiven Beziehungen zueinander. Durch das regelmäßige Wiederauftauchen der Figuren, ob in Gesprächen oder in persona entsteht beim Leser der Eindruck, Einblicke in einen in sich vernetzten Mikrokosmos zu erhalten, für den die Peripherie Zagrebs eine ideale, abgrenzbare Bühne bietet. Die Geschichten sind fest in einem Viertel verankert, der Schauplatz bestimmt die Menschen und damit den Text maßgeblich, auch wenn die Themen universell sind. Der Autor lässt am Ort der Geschehnisse keinen Zweifel, das Viertel Utrine, die Straßennamen, die Märkte und Cafés, sie sind alle namentlich genannt.
Ausfahrt Zagreb Süd ist ein Großstadtroman über Zagreb, das in den Nachwehen des nationalistischen Wahns ein kleines Refugium des Rückzugs darstellt. Der Krieg wird zwar nur gestreift, sein Schatten lastet dennoch ständig über der Stadt und ihren Menschen. Popović belässt seinen Figuren die Möglichkeit auf ein glückliches Weiterwursteln, es ergeben sich neue Konstellationen und Chancen. Nicht ohne Ironie heißt es gegen Ende: „Dies ist eine Geschichte mit Happy End. Wie schon Blaise Cendrars sagte: Traurig zu sein, ist zu leicht, zu blöd, zu bequem, ist nicht schlau und liegt immer auf der Hand.“

Auch Ivan Kalda, der Protagonist und Ich-Erzähler des gleichnamigen Romans, versucht sein turbulentes Leben zu rekonstruieren – eine verwickelte Angelegenheit: die Kindheit ohne Vater, die Jugend mit zu vielen Drogen und zu wenig Sex, das Überleben als Fotograf im Krieg und im darauf folgenden Turbokapitalismus. Kalda wächst in Dubrava, einem Arbeiterviertel Zagrebs, auf. Er war alles andere als ein Wunschkind, so hinterfragt er die Intentionen seiner Eltern auf skurrile Weise: „Mal ganz ehrlich, fragst du dich nicht auch schon mal, ob man ein Kind produzieren und dann sagen kannst: Es tut uns leid, wir haben uns vertan, wir hätten lieber eine Katze oder so etwas Ähnliches.“ Nachdem der spielsüchtige Vater die Familie für immer verlässt, um als Zocker durch Europa zu ziehen, müssen sich Kalda und seine Mutter alleine durchschlagen, was in seiner Erinnerung kein großes Problem darstellt. Denn erstens vermissen beide den Vater nicht unbedingt und „überhaupt waren das noch Zeiten, in denen man von der eigenen Arbeit noch leben konnte. Man konnte ganz solide glücklich sein, wenn man nicht zu viel verlangte, und meine Mutter gehörte zu dieser Sorte glücklicher Menschen.“ Dubrava wird als hartes Pflaster beschrieben, Kalda kann sich aber durchaus beweisen, wenn nötig, behilft er sich schon mal mit einem Ziegelstein, um einen stärkeren Kontrahenten niederzuschlagen. Es herrschen also – so ironisch-verklärt stellt Kalda seine Kindheit dar – raue Sitten, wobei die ethnische Herkunft kaum eine Rolle spielt.

Der Roman erzählt Kaldas Biografie in zwei Strängen. Dessen Werdegang wird rückblickend aufgerollt und durch Bestandsaufnahmen seiner aktuelle Situation unterbrochen, die sich auch durch die Verwendung von Präsens vom Rest abheben. Daraus ergibt sich eine besondere Spannung: Der Erzähler ist eine gestrandete Persönlichkeit, er schmeißt seinen Job hin, um den verachteten Chef, einen Zeitungsherausgeber und Kriegsgewinnler, zu demütigen. Er lebt getrennt von Frau und Sohn, dem gegenüber er sich nicht würdig fühlt, ein Vater zu sein. Die offensichtlich schwierige Kindheit, die sein Therapeut als Auslöser seiner Neurosen sieht, betrachtet Kalda zwar mit lakonischem Weltekel. Dennoch merkt der Leser, dass dessen Traumatisierung anderswo begründet liegt und sich daher dem Leser und Kalda selbst erst nach und nach eröffnet.
Nach dem widerwilligen Abschluss der Schule kauft sich der junge Mann eine Kamera, was sein Leben verändert: er wird Fotograf. Der aufkommende Krieg rüttelt am Ethos des Künstlers. Kalda wird Kriegsfotograf. Die Rolle der Medien, die den Krieg zur Stärkung der Auflagen benutzen, wird von Kalda zwar durchschaut, dennoch spielt er ihr Spiel mit. Es kommt zum Bruch mit seinen Auftraggebern, als er aus moralisch-idealistischen Gründen deren Handeln nicht mehr mittragen will. Nun muss er mit den neuen Verhältnissen zurechtkommen, denn der Krieg spülte die Skrupellosesten nach oben und ließ für ihn nur noch einen Platz am Rande der Gesellschaft übrig. Die biographisch begründeten Zweifel des Autors an der Rolle der Kriegsberichterstatter werden hier ersichtlich.

Kalda ist nicht nur die Entwicklungsgeschichte eines Mannes, es ist auch eine Tour de Force durch die Geschichte Jugoslawiens, Kroatiens, Zagrebs. Ohne Verklärung der „schlechten alten Zeiten“ wird die Korrumpierung und Orientierungslosigkeit nach dem Krieg gezeigt, eine Gesellschaft die nicht verarbeiten kann, woran sie sich nicht erinnern möchte: „Aber lassen wir das, wir wollen doch nicht zu Ruinen werden, in denen die Erinnerungen vor sich hinmodern. Das bringt nichts. Erinnerungen helfen auch nicht. Es gibt keinen Weg, die Wirklichkeit abzuschütteln, sie zu vergessen. Ich habe viele Menschen gesehen, die versucht haben zu fliehen, aber sie waren nicht zu retten. Die Wirklichkeit ist ein Käfig, grausamer als ein Konzentrationslager. Es gibt kein Entkommen.“ Kalda muss sich dennoch erinnern, an den Krieg und wie er ihn gesehen hat, mit eigenen Augen und durch die Linse seiner Leica, und an seine „verschwundene“ Mutter. Obendrein taucht nach Jahrzehnten sein Vater wieder auf. Das Ende des Romans gibt aber Hoffnung, dass die harten Zeiten für Kalda vorbei sein könnten, dass vor allem drei Generationen von männlichen Kaldas, Väter und Söhne, eine Chance auf Versöhnung und eine mögliche gemeinsame Zukunft haben.

Die beiden Romane lichten in komplexen und vielfältigen Schattierungen die Lebenswelt der Nachkriegsgeneration in Zagreb ab, einer Stadt die nicht mehr vergleichbar ist mit jener vor 1991. Edo Popović gelingt damit eine trotzige, von skurrilem Humor geprägte und höchst unterhaltsame Bestandsaufnahme seiner Generation.

 

Kalda. Voland und Quist. Dresden/ Leipzig 2008.

Ausfahrt Zagreb-Süd. Voland und Quist. Dresden/ Leipzig 2006.

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