Sigizmund Dominikovič Kržižanovskij
Sigizmund Dominikovič Kržižanovskij hätte ein Glücksfall für jeden anspruchsvollen Leser werden können, wäre er nicht, wie er es selbst formulierte, „für seine Unbekanntheit bekannt“ geworden. Die zahlreichen, jedoch unsinnigen Vergleiche mit Franz Kafka, Hermann Hesse, Albert Camus, Jorge L. Borges, die sich in wissenschaftlichen Texten und Kritiken nach der Veröffentlichung seines Gesamtwerkes in den 90er Jahren wiederholen, widersprechen jedoch seiner Unbekanntheit und verstärken das Paradoxon eines Schriftstellers, der in den literarischen Kreisen seiner Epoche als „Schriftsteller ohne Bücher“ galt.
Kržižanovskij, russischsprachiger Autor polnischer Herkunft, wurde 1887 in Kiew geboren und starb 1950 in Moskau. Er studiert Jura in Kiew und parallel dazu belegt er Kurse in klassischer Philologie und Philosophiegeschichte. Nach dem Studium arbeitet er als Rechtsanwaltassistent, 1918 beginnt er schließlich, Geschichte- und Literaturwissenschaft, Theaterwissenschaft und Musik an Konservatorien und Theaterinstituten zu dozieren. 1922 zieht er nach Moskau um, in die Stadt, die reichhaltiges Material für viele seiner Texten bietet. Drei Jahre lang schweift Kržižanovskij durch Moskau, erforscht die Stadt, lernt ihre dynamische Sprache durch Schilder, Straßennamen und Toponymien kennen und macht sie zum Thema zahlreicher philosophischer, soziologischer, psychologischer und sogar linguistischer Erzählungen: „Ich kann in keiner Weise von meinem Thema abkommen: ich lebe i n i h m…“, steht in seiner Erzählung Štempel: Moskva (Stempel: Moskau) geschrieben. Dieses städtische Umherschweifen führt neben Štempel: Moskva zu den Essays Moskovskie vyveski (Moskowitische Geschäftsschilder), Kollekcija sekund (Sekunden-
sammlung) und 2000 (K voprosu o pereimenovanii moskovskih ulic) (2000 (Zur Frage der Umbenennung der moskowitischen Straßen)).
Parallel zu seiner literarischen Arbeit beschäftigt sich Kržižanovskij mit der Psychologie des künstlerischen Schaffens und entwickelt seine eigenen kulturphilosophischen Konzeptionen. Er erforscht Shakespeare, Edgar Alan Poe, Puškin, liest die westlichen Philosophen und wird von ihnen inspiriert – besonders von Kant und Leibniz. Er schreibt Essays über das Theater und arbeitet an Theateradaptionen. In den 20er Jahren, der Zeit des revolutionären Theaters und dessen unbestreitbar großer Autoritäten wie Stanislavskij, Mejerchol’d, Evreinov, Tairov und Michail Čechov, stellt Kržižanovskij seine eigene Theaterphilosophie auf. Trotz seiner Unbekanntheit präsentiert er sie selbstbewusst auf der Sitzung der Sektion Theater an der Staatlichen Akademie der Künste am 20. Dezember 1923. In seiner ersten theoretischen Arbeit, Philosophema über das Theater, missbilligt Kržižanovskij die Allmacht des Regisseurs, schreibt dem Schauspieler eine aktivere Rolle zu und spricht sich hauptsächlich gegen die Theatralisierung des Soziallebens durch den Staat aus.
In den Moskauer Literaturkreisen, in denen er häufig seine Erzählungen vorliest, ist Kržižanovskij vor allem für seine sehr fundierte Bildung und dazu noch als „Schriftsteller ohne Bücher“ bekannt. Trotz wiederholter Versuche gelingt es Kržižanovskij, nur acht Erzählungen und eine povest’ zu Lebzeiten zu veröffentlichen. Seine Werke werden von der offiziellen Zensur verboten und von Zeitschriftenredaktionen abgelehnt, die die Veröffentlichung „unaktueller“ und „unpassender“ Texte nicht riskieren wollen. Selbst von Gorkij, dessen Rolle in der literarischen Öffentlichkeit der 20er und 30er Jahre nicht zu unterschätzen ist, wird er nicht unterstützt. Bekannte Kržižanovskijs überbringen Gorkij 1932 einige seiner Texte in der Hoffnung, dass er den Weg zu ihrer Veröffentlichung bahnen wird. In seinem Antwortschreiben beanstandet Gorkij, obwohl er, wie er einräumt, nicht in der Lage sei, den philosophischen Wert der Texte Kržižanovskijs zu beurteilen, dennoch das „schlaue leere Geschwätz“, das in der „heutigen“ Zeit aber „deplaziert“ sei. Die neue Gnoseologie, die sich zu dieser Zeit herausbildet, stützt sich laut Gorkij nicht auf ästhetische Anschauung und das Wort, sondern auf Handlung und Fakten. Deswegen sei er der Meinung, dass die Texte Kržižanovskijs kaum einen Verlag finden werden und selbst wenn, werden sie nur einige junge Hirne „verrenken“. „Und ist dies eigentlich nötig?“, fragt Gorkij abschließend, wie Vadim Perel’muter in Posle katastrofy (Nach der Katastrophe) schreibt.
Kržižanovskij arbeitet jedoch weiter und tritt – wie die häufigen Einträge in seinen Notizheften bezeugen – dieser ausweglosen Situation mit bitterem Humor gegenüber: „Ich möchte gern von der Kunst (und von dem Gewissen) ausgehen, aber ich weiß nicht, wo die Tür ist.“ Oder: „Mit dem Heute stehe ich auf Kriegsfuß, doch mich liebt die Ewigkeit.“
Hinsichtlich der Schreibweise Kržižanovskijs sind ein paar ‚technische‘ Besonderheiten zu erwähnen: Anfänglich schreibt Kržižanovskij mit der Hand, allmählich verfällt er jedoch der Gewohnheit, seine Texte zu diktieren, da er „laut denken“ müsse, damit er „den Text als klingendes Wort wahrnimmt.“ Seine Frau, Anna Bovšek schreibt auch, dass er keine Schreibmaschine besaß und niemals daran dachte, eine für den eigenen Gebrauch anzuschaffen. Die Existenz seiner pedantisch geführten Notizhefte bezeugt eine sehr systematische Materialsammlung vor dem Beginn des eigentlichen Schreibakts: „Das Sujet legte sich erst auf das Blatt Papier nieder, nachdem es durchdacht und unter Qualen geschaffen worden war, erst nachdem ein System von Bildern bestimmt, die Komposition gefunden, die notwendigen Wörter entdeckt und die Phrasen geschliffen worden waren“. Das Archiv Kržižanovskijs besteht aus über 3.000 getippten Manuskriptseiten und ist, teilweise dank seiner Frau, fast vollständig erhalten geblieben.
Aufgrund seiner fundierten Bildung, seiner alles andere als oberflächlichen Kenntnis der Philosophie und Literatur der Antike und der Moderne, seiner Fremdsprachenkenntnisse – einschließlich Altgriechisch und Latein – und seiner Beschäftigung mit verschiedenen Kunstrichtungen, sind die Texte Kržižanovskijs genau die Sorte von Texten, die beim Lesen Fußnoten und Kommentare benötigen. Nicht nur die Themen (z.B. kantianische Philosophie, mathematische Probleme, das Verhältnis von Zeit und Raum, altgriechische Mythen u.a.), die sich hinter literarischen Gestalten verstecken, sondern auch die Sprache an sich (lateinische Zitate, altgriechische, deutsche und englische Wörter, Neologismen und selten verwendete Begriffe) formen komplizierte und umfassende Textkörper, die ein vielseitiges Lesen erfordern.
Das Werk Kržižanovskijs befindet sich oft im Dilemma zwischen der Logik des philosophischen Denkens und der Intuition des künstlerischen Schaffens –, was der Literaturforscher Vadim Perel‘muter, „die Wahl zwischen Kant und Shakespeare“ nennt. Die wissenschaftlichen Texte des Schriftstellers sind eng mit seinen literarischen verbunden, in denen durch das Irreale die realsten Fragen gestellt werden.
Kržižanovskij entwickelt seine Themen und Motive auf eine sehr eigenwillige Weise. Oft werden die metaphorischen Bedeutungen der Wörter in den Erzählungen durch die Beschreibung ihres wörtlichen Sinnes oder eines ihrer wörtlichen Aspekte dargestellt. Einem ‚schmerz-
haften‘ Wort wird die reale Fähigkeit zu körperlichem Schmerz zugeschrieben (Poetomu). Metaphorisch gemeint kann ein Wort z.B. das Herz ‚zerschmettern‘, doch in Poetomu passiert dieses Zerschmettern wörtlich, es wird dargestellt. Merkwürdigerweise wird das Irreale in den Erzählungen Kržižanovskijs nicht durch Metaphern, sondern durch die Wörtlichkeit erreicht. Ein Gänserich, der den Sinn der Poesie durch einen wörtlichen Schmerz erfährt (Gus’), einGedanke, der mit der Feder ringt und sich verweigert geschrieben zu werden (Žizneopisanie odnoj mysli), ein wissenschaftlicher Artikel, der sich in eine phantastische Erzählung verwandelt (Risunok perom), ein Wort, das das Herz des Dichters ritzt – dies sind nur einige der Beispiele für Handlungen, in denen die Wörter, Begriffe und Gegenstände wie Bilder und Figuren handeln.
Seine Methode, Begriffe in Bilder zu verwandeln, nennt Kržižanovskij in seinen Zapisnye tetradi (Notizhefte) einen „experimentellen Realismus“, den er wie folgt beschreibt: „mit den Begriffen wie mit den Bildern umzugehen und sie wie Bilder aufeinander zu beziehen – das sind die beiden Grundverfahren meiner literarischen Erfahrung“. Bovšek nennt diese „Inszenierung“ von Gedanken, Begriffen und generell von seelen-
losen Gegenständen „personifizierte Denkverfahren, die von handelnden Figuren realisiert werden“. Am häufigsten – und in Großbuch staben geschrieben – verkörpern beispielsweise die Zeit, die Stille, das Buch, das Wort, der Gedanke usw. handelnde Figuren. Mit der Methode des „experimentellen Realismus“ verwandelt Kržižanovskij das Bild des Denkprozesses in den Denkprozess des Bildes. Wenn das fiktionale Leben der Wort- oder Ding-Figuren die Realisierung ihrer eigenen Gedanken ist, dann sind die Texte Kržižanovskijs das Enzephalogramm dieser Gedanken.
Nach diesem kurzen Überblick über die Thematik und die Verfahren Kržižanovskijs ist sicher deutlich geworden, warum Gorkij diese als „deplaziert“ charakterisiert hat. Kržižanovskij ist nicht an der typischen sowjetischen Thematik interessiert und missbilligt die propagandistische Literatur. In den Zapisnye tetradi hält er weiter fest: „Die ist der Literatur genauso ähnlich, wie die Natur dem Zoologischen Garten“. Oder: „Alle diese anmaßend geschminkten Einbände machen es so: Sie nehmen die Leere und kleiden sie mindestens in eine Lederjacke; nachdem alle Knöpfe die Leere verschlossen haben, wissen sie nicht, was dann.“ Kržižanovskij erlaubt seinen Schreibwerkzeugen jedoch nicht, sich gegen die Wirklichkeit zu erheben, wie es in vielen seiner Erzählungen passiert. Und dennoch: Trotz der zahlreichen fruchtlosen Versuche, publiziert zu werden, verweigert er niemals das Schreiben. „In meinem ganzen schwierigen Leben war ich ein literarisches Nichtsein (nebytie), ehrlich am Sein (bytie) arbeitend.“
Seine 1939 geschriebene Erzählung Bumaga terjaet terpenie (Das Papier verliert die Geduld) handelt vom Aufstand der Buchstaben, die eines Tages von allen schriftlichen Texten abtreten und die Papiere, die Zeitungen und die Bücher entleeren. Nach einem viertägigen Streik gegen die blöden Gedanken, die so oft die Buchstaben als Sinnträger zu tragen gezwungen sind, kehren sie entschlossen, nur der Wahrheit zu dienen, zu den Büchern zurück. Eine Welt ohne Texte ist eine Welt ohne Gedächtnis. Für Kržižanovskij selbst gilt jedoch das Gegenteil: Hinsichtlich seiner Biographie wird die Gedächtnismetapher seines Textes elf Jahre nach seiner Entstehung, 1950, realisiert und führt allmählich zu Kržižanovskijs Tod. Er erkrankt an „Alexie“ (griech. Abwesenheit von Wörtern), auch „Schriftblindheit“ genannt, und erleidet eine Lähmung des Teils des Gedächtnisses, in dem das Alphabet gespeichert ist. Merkwürdigerweise kann Kržižanovskij trotzdem schreiben, jedoch das Geschriebene nicht mehr lesen oder verstehen. Anna Bovšek berichtet: „Er kaufte ein Alphabet, stürzte sich darauf in dem Versuch, Buchstaben zu erlernen, doch kehrten die Buchstaben nicht züruck“. Sieben Monate später stirbt Kržižanovskij.
Sowohl die literarischen Werke Kržižanovskijs, als auch seine wissenschaftlichen Arbeiten bieten heutzutage eine höchst interessante Forschungsaufgabe. Eine ganze Reihe von Erzählungen, die Schreibprozesse reflektieren, könnten in Bezug auf die Instrumentalität und die Körperlichkeit der in ihnen thematisierten fiktiven Schreibszenen untersucht werden. Auch die Literarisierung philosophischer, mathe-
matischer und psychoanalytischer Konzeptionen, seine Definition von Lyrik, die sprachlichen Verfahren seiner Texte und, nicht zu vergessen, seine von scharfsinnigen Aphorismen vollen Notizhefte wären mögliche Forschungsbereiche eines vielseitigen Lesens, dem vielseitigen Schreiben Kržižanovskijs würdig. Nun steht eine Wiederauflage des 1991 erschienenen Bandes oder eine Neuübersetzung seiner Schriften anhand der russischen Gesamtausgabe aus, damit sein Schreibtisch nicht – wie eine seiner Figuren ihn in der Erzählung Klub ubijc bukv (Der Klub der Mörderbuchstaben) beschreibt – der „Friedhof seiner Ideen“ bleibt.
Sigizmund D. Kržižanovskij: Vozvraščenie Mjunhgauzena. Povesti. Novelly. Leningrad 1990.
Sigismund D. Kržižanovskij: Lebenslauf eines Gedankens, hg. von Wadim Perelmuter.Kiepenheuer. Köln 1991.
Sigizmund D. Kržižanovskij: Zapisnye tetradi. In: Toronto Slavic Quarterly. Academic Electronic Journal in Slavic Studies, Bd. 19, 2007. unter: www.utoronto.ca/tsq/19/index19.shtml.
Anna Bovšek: Glazami druga (Materialy k biografii Sigizmunda Dominikoviča Kržižanovskogo). In: Sigizmund Kržižanovskij: Vozvraščenie Mjunhgauzena. Povesti. Novelly. Leningrad 1990.
Vadim Perel’muter: Posle katastrofy. In: Kržižanovskij S. D.: Sobranie sočinenij v 5 tomah, tom 1 . Sankt-Peterburg 2001.