Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

„Und wir spielen Bonnie und Clyde…“

Alek­sandr Chant insze­niert mit In Limbo (Mežsezon’e, RU 2021) das tra­gi­sche, auf wahren Bege­ben­heiten basie­rende Schicksal zweier rus­si­scher Jugend­li­cher als ener­ge­ti­schen Mahl­strom von Gefühlen und Gewalt und ver­setzt bekannte Urmy­then Hol­ly­woods ins post­so­wje­ti­sche Russ­land. Ein Expe­ri­ment, das gelingt.

Road­mo­vies, die von miss­ver­stan­denen jugend­li­chen Aus­rei­ßer­pär­chen auf der Flucht vor Gesetz und Erzie­hungs­be­rech­tigten erzählen, gab es in den ver­gan­genen Jahr­zehnten viele. Von klas­si­schen ame­ri­ka­ni­schen Gangs­ter­bal­laden wie Arthur Penns Bonnie and Clyde (1967) oder Ter­rence Malicks Bad­lands (1973) bis in die bunten 90er Jahre zu David Lynchs enig­ma­ti­schem Wild at Heart (1990), Ridley und Tony Scotts Thelma and Louise (1991) bzw. True Romance (1993) oder Oliver Stones phan­tas­ma­go­rischen Natural Born Kil­lers (1994) erzählte Hol­ly­wood mit ver­schie­densten Reinter­pre­ta­tionen die im Kern doch immer gleiche Geschichte. Dem US-Kino gelingt es, neben dem unge­bun­denen Leben auf der Flucht und dem gewalt­vollen Kon­flikt mit Ver­fol­gern und dem System stets auch mehr zu erzählen: zeit­ge­nös­si­sche Jugend­kul­turen, die Ent­de­ckung des Selbst, sexu­elles Erwa­chen und nicht zuletzt poli­ti­sche Dis­kurse über Gewalt, Auto­rität und Freiheit.

 

2021 dreht Alek­sandr Chant ein Coming-of-Age Road­movie, das keinen Hehl daraus macht, wo seine Vor­bilder liegen und wei­test­ge­hend die Erzähl­for­meln des Genres mit­geht. Auch In Limbo ver­sucht jedoch, der Gen­re­t­ra­di­tion auf eigene Weise eine Note hin­zu­zu­fügen. Nur: Was hat Chants Film letzt­lich über die Gesell­schaft, das Auf­wachsen und das Rebel­lieren im modernen Russ­land zu erzählen?

 

Die unglei­chen Protagonist_innen von In Limbo sind die vor­laute Saša, die mit ihrem auto­ri­tären Stief­vater im Kon­flikt steht, und der schüch­terne Danny, ein­ge­engt von der wahn­haften Für­sorge seiner Mutter. Beide ent­schließen sich, mit ihren Eltern­häu­sern zu bre­chen und reißen nach ersten Annä­he­rungs­ver­su­chen zusammen aus. Was folgt, ist eine Reise von Jeka­te­rin­burg ins tiefste rus­si­sche Hin­ter­land, auf der Saša und Danny, die Auto­ri­täten und die Eltern stets auf ihren Fersen, eine unschul­dige jugend­liche Liebe für­ein­ander ent­de­cken und den Obrig­keiten ein ums andere Mal von der Klinge springen müssen (was gelingt). Wäh­rend sich die Schlinge um die beiden immer weiter zuzieht, lernen sie ein­ander und sich selbst kennen, sie laden Schuld auf sich. Neben Epi­soden der Span­nungen und der Gewalt sind da aber auch die Momente der Ruhe und Zärt­lich­keit, die sich ein­ander die Waage halten.

 

 

Chant ver­sucht, die Rebel­lion seiner Figuren mit einem Gewitter von unkon­ven­tio­nellen Schnitt­tech­niken, schnellen Kame­ra­fahrten und auf­ge­drehtem Sound­track zu unter­malen. Dies unter­streicht in groß ange­legten Sze­na­rien den lauten, hek­ti­schen Cha­rakter der Erzäh­lung, aber auch die Auf­leh­nung seiner ener­ge­ti­schen und chao­ti­schen Haupt­fi­guren. Vom Mut zum Expe­ri­men­tellen pro­fi­tiert der Film immens, denn In Limbo ist her­vor­ra­gend mon­tiert. Teils kommen Szenen wie kurze Musik­vi­deos mit Social Media Ästhetik daher, die sich zwi­schen den Häu­ser­schluchten und Blocks Jeka­te­rin­burgs, der her­un­ter­ge­kom­menen Well­blech­sied­lung im Hin­ter­land oder vor der Erha­ben­heit der Sibi­ri­schen Einöde abspielen. So kre­iert der Regis­seur einen Sog, der die Zuse­henden mit auf die Höl­len­fahrt in den Limbo reißt.

 

Die blu­tige Irr­fahrt ins Unge­wisse als letzte Mög­lich­keit noch frei leben zu können, die Chants Haupt­fi­guren antreten, ist inspi­riert von der wahren tra­gi­schen Geschichte zweier rus­si­scher Jugend­li­cher, die schwer bewaffnet ihre Flucht für jeden sichtbar im Internet per Live­stream zeigten. Die Tat wurde 2016 zum inter­na­tio­nalen Medi­en­er­eignis. Die der Geschichte inne­woh­nende Medi­en­re­fle­xi­vität der Ereig­nisse lässt Chant an meh­reren Stellen seines Films ein­fließen und schafft es so, ein Gene­ra­tio­nen­por­trait über die rus­si­sche Gene­ra­tion [Z] zu erzählen. Saša und Danny kennen das System nicht mehr, in dem ihre Eltern auf­wuchsen. Dessen Zer­fall erlebten sie nicht, sie sind Kinder von Putins Russ­land. Die beiden ver­kör­pern eine Jugend, die von ihren Eltern nicht ver­standen werden kann, nicht ver­standen werden will. Es han­delt sich dabei um DEN Topos des rus­si­schen Art­house-Kinos der letzten Jahre. Hier tritt die (noch-SU-sozia­li­sierte) alte Gene­ra­tion gegen die neue (post­so­wje­tisch auf­ge­wach­sene) Gene­ra­tion an. Es sind Tra­di­tionen von Repres­sion, Gewalt und Bevor­mun­dung, derer sich das Duo zu ent­ziehen ver­sucht und so suchen sie sich einen Platz außer­halb dieser Gesell­schaft. Sie maro­dieren durch die Stadt, erregen öffent­li­ches Ärgernis durch Dieb­stahl und Van­da­lismus (auch ein Kon­terfei Putins wird ganz bei­läufig über­malt – eine Aktion, die schon im Juni 2022 undenkbar ist; im Kino UND in der Rea­lität). Dabei flammt immer wieder eine uner­bitt­liche Gesell­schafts­dia­gnostik auf. Es scheint, als haben sich die Men­schen damit abge­funden, in Unglück, Armut und Repres­sion zu leben ohne auch nur ein Anzei­chen der Auf­leh­nung gegen die Ver­hält­nisse. Dem Regis­seur gelingt es, die Hoff­nungs­lo­sig­keit dar­stellbar zu machen, die im Abschieds­brief des 2016 beim Sturm ihres Ver­stecks durch die Polizei ums Leben gekom­menen jungen Paars erklingt: „Ich habe Dich geliebt, aber Du hast nicht bemerkt, dass Du meinen Ver­stand und mein Leben rui­niert hast.“

 

Mit In Limbo beweist Alex­ander Chant, dass die jugend­liche Rebel­lion im Kino nie­mals wirk­lich aus­er­zählt ist und ver­steht es, ihr wei­tere Facetten hin­zu­zu­fügen. Nicht zuletzt mit dem Ver­weis auf die wahren Hin­ter­gründe der Geschichte zeichnet der Film das gleich­zeitig schrille und düs­tere Bild einer ver­rohten Gesell­schaft, die einen Strudel aus Gewalt und Gegen­ge­walt her­vor­bringt, in der Kinder zu Bluttäter_innen werden und die der Wirk­lich­keit gar nicht so unähn­lich ist. Lohnt sich in einer sol­chen Gesell­schaft der Moment des Auf­leh­nens, der Revo­lu­tion? Oder ist sie dazu ver­dammt, im Kugel­hagel zu enden?

 

Chant, Alek­sandr A.: Mežsezon’e (In Limbo), Russ­land, 2021, 110 Min.