Das Internet – ein Ort und Mittel für Vieles. Ob privates Chatten, Nachrichten lesen oder eine virtuelle Firmenfeier über Videokonferenz veranstalten – die Kommunikationsformate durchziehen fast alle Lebensbereiche. Aber wie wäre es mit täglichen philosophischen Reflexionsübungen in Form von kleinen Märchen? Genau das praktiziert der russische Schriftsteller Viktor Krotov (*1946), indem er seit 2007 mit steigender Frequenz kleine Märchen mit weniger als 100 Wörtern (auch Märchen-Brösel genannt) in seinem LifeJournal veröffentlicht und mittlerweile in weiteren sozialen Netzwerken wie Twitter und Vkontakte verlinkt.
In Märchen denken: Schriftsteller aus philosophischem Interesse
Viktor Krotov entstammt einer sowjetischen Pädagogenfamilie. Er studierte Mathematik an der Lomonossow-Universität Moskau, begann aber bereits während des Studiums zu schreiben und unternahm in dieser Zeit seine ersten Versuche, eine „sinnerfüllte Weltanschauung“ zu formulieren. Seitdem geht seine Arbeit als Mathematiker, Programmierer und Forscher unmittelbar mit schriftstellerischer Tätigkeit einher, die von großer persönlicher philosophischer Neugier, einen ebenso schlichten wie universellen Weg für das Begreifen der Welt zu finden, begleitet wurde. Heute ist der 75-jährige Viktor Krotov vor allem als Kinderbuchautor und Leiter literarischer Workshops für Kinder und Erwachsene bekannt, was seinem einst gestellten philosophischen Ziel keineswegs zuwiderläuft, denn gerade in seinen Kinderbüchern ist ihm gelungen, ein breiteres Publikum an Kindern und Eltern für „die wichtigsten Dinge” im Leben zu interessieren. Auch wenn Krotov absichtlich niemals direkt ausformuliert, welche „wichtigsten Dinge“ er meint, ist es ihm immer gelungen, seine Leserschaft dazu zu bewegen, es selbst für sich herauszufinden. Krotovs Werke umfassen Traktate und Bücher zu unterschiedlichen philosophischen Fragen, sowie Essays, Erzählungen, zahlreiche Bücher zu pädagogischen Themen über Kindheit, Erziehung und Kreativität, von denen ein bedeutender Teil dem Erfinden eigener Geschichten und Bücher gewidmet ist. Doch was seine Werke durchgängig begleitet, ist die kleine Form. Das Kleine scheint in Krotovs Schaffen ein besonderes Denkmittel zu sein. Selbst seine Autobiografie über die früheste Kindheit ist in Form kleiner Erinnerungsskizzen verfasst. Von allen kleinen Formen ist aber das Märchen das beliebteste und meistgedruckte Genre.
Drei kleine Formen: Märchen – Aphorismus – Dreizeiler
Heute darf man auf seinem Blog auf LiveJournal fast jeden Tag ein Kurzmärchen lesen, das zumeist ebenso einfallsreich wie einfältig ist. Einige Märchen erinnern an Gleichnisse, weil sie in metaphorischer Form philosophische Fragen formulieren, andere erzählen von erfundenen Kuriositäten und lassen der Phantasie freien Lauf. Durch Kürze, Skizzenhaftigkeit und metaphorische Verdichtung lassen sich die Märchen als kleine philosophische Reflexionsimpulse rezipieren, deren Fortsetzung der Leser_innenschaft über lassen wird.
Das Buchweizenkorn
Alle Körner in der Buchweizenpackung wollten später Brei werden. Nur das eine Korn träumte davon, zu reisen. Als die Packung aus dem Supermarkt nach Hause getragen wurde, sprang das Korn heraus und flog mit dem Wind über den Asphalt. Erst wurde es fast von einem Spatz verschlungen. Danach beinahe von einem Schuh zertreten – daraufhin versteckte sich das Korn in der Erde. Doch nach dem Regen keimte es aus. Und so begann seine Reise aus dem Erdreich zum Himmel.
Anzeige ohne Gegenstand
Wü träumte davon, eine Anzeige in der Zeitung aufzugeben. Aber er wusste nicht worüber. Das Geld hatte er im Übrigen auch nicht. Aber eines Tages schenkte man ihm einen Gutschein für eine Anzeige aus zehn Wörtern. Wü schrieb: „Danke fürs Lesen. Ich brauche nichts. Alles Gute!“ Als die Anzeige gedruckt wurde, freute er sich sehr. Wie viele Antworten er bekam! Von wem? Von genau solchen wie er, die nichts brauchten, außer ein gutes Wort.
Verirrung im Kopf
Es war einmal ein Mädchen. Es war so winzig, dass es sich in den eigenen Haaren verirrte. Und geriet direkt in den Kopf. Dort war es dann ganz einsam. Es schlenderte umher und spiegelte sich in den eigenen Gedanken wie in ebenso vielen Spiegeln. „Wie ist es doch langweilig hier!“, dachte das Mädchen schwermütig. Plötzlich kam ihr eine Idee: „Ich sollte über die Anderen nachdenken!“ Siehe da –sofort tauchten die Anderen auf. Und halfen ihr raus.
aus: Abwärts! (2020)
Die Märchen-Brösel sind die beliebteste, aber nicht die einzige kleine Form, die Krotov in sein Kommunikationsnetzwerk einbringt: seit der Anmeldung auf Twitter in 2019 erprobt der Schriftsteller das Netzwerk, um eine weitere kleine Form zu distribuieren – den Aphorismus. Krotovs Aphorismen stellen genau wie seine Märchen eine Art regelmäßige literarische Praxis dar. Jeder einzelne Aphorismus hat den Charakter einer Definition – ein beliebiges Wort wird in besonders prägnanter und scharfsinniger Weise ausdefiniert und im Thread alphabetisch angeordnet. Für solche einzeiligen Pointen scheint gerade Twitter mit seiner listenartigen Threadstruktur besonders geeignet:
AUTORITÄT – jemand, den wir zur Bestätigung unseres Standpunkts heranziehen.
BEGREIFEN – etwas fangen, ohne es der Freiheit zu berauben.
CHANCE – ein Flugticket und die Möglichkeit, den Flug zu verpassen.
DUMMHEIT – einziger triftiger Grund, um auf die eigene Denkweise stolz zu sein.
ERFAHRUNG – Stütze der Zukunft in der Vergangenheit.
aus: Abwärts! (2021)
Die Aktivität des Schriftstellers in sozialen Netzwerken repräsentiert aber nur den geringeren Teil seines Œuvre der kleinen Formen, die er seit Jahrzehnten erfindet und sammelt. Seit 1995 wurden mehrere Tausend Aphorismen von Viktor Krotov herausgegeben, sowohl von etablierten Verlagen als auch auf Eigeninitiative des Autors im Internetverlag Ridero in Form von elektronischen Büchern. Die kleinen Märchen-Brösel, von denen Krotov über anderthalb Tausend geschrieben hat, wurden in zwölf Bänden herausgegeben, neue Kurzmärchen erscheinen aktuell ebenfalls als E-Book oder auf sozialen Netzwerken.
Neben Kurzmärchen und Aphorismen gibt es noch eine dritte kleine Form der Lyrik – Dreizeiler, oder, wie Krotov sie selbst bezeichnet, freie Dreizeiler. Diese kleinen ungereimten Gedichte stellen kurze dreizeilige Meditationen dar und handeln meist von besonderen autobiografischen Momenten oder alltäglichen Beobachtungen. Die Dreizeiler wurden im Selbstverlag in acht Bänden herausgegeben.
„Der Pfad von der Metro zur Arbeit –
das ist mein Meditationsraum.
Macht nichts, dass Glatteis ist“
„Ich komme stolz daher:
Habe den Ball gut getroffen,
der von den Jungs wegrollt“
„Blättchen für Blättchen welkt die Rose.
Und es schmerzt mich wie einen Säugling,
der nicht wusste, dass Blumen sterben“
(aus dem Russischen ins Deutsche übertragen von Darja Benert, 2021)
Alle drei kleinen Formen bezeichnet Krotov als seine Lieblingsgenres. Zurecht, denn gerade durch Kürze und Prägnanz kann eine metaphorische Konzentration erreicht werden, deren Bildhaftigkeit nur mit wenigen Worten einen starken Reflexionsimpuls gibt. Ob einziger Wendepunkt in der kurzen Handlung des Märchens, einprägende Metapher eines Dreizeilers oder kurze Eindeutigkeit eines Aphorismus – mit der Erfindung und Veröffentlichung dieser kleinen Formen kommt Viktor Krotov über die Jahre und Jahrzehnte nicht nur dem Ziel näher, eine „sinnerfüllte Weltanschauung“ zu formulieren, sondern betreibt eine bemerkenswert alltagstaugliche Praxis des philosophischen Reflektierens in literarischer Form. Die kommunikationsstiftende Rolle der sozialen Netzwerke scheint diese Praxis bestens zu unterstützen, denn gerade durch die schnelle Distribution können Effekte von Spontaneität und Unmittelbarkeit erzeugt werden. Die durch Verdichtung erzielte Prägnanz und die Offenheit des nicht zu Ende Ausbuchstabierten sind gleichermaßen in Krotovs Sinn: jeder kann seine ganz persönlichen „wichtigen Dinge“ für sich herausfinden, und zwar bei jedem Lesen wieder aufs Neue.
Literatur:
Krotov, Viktor: Kak izmenitʹ filosofiju k lučšemu: Popytka zagljanutʹ v buduščee. (Dt.: „Wie kann man die Philosophie verbessern. Ein Versuch in die Zukunft zu blicken“), Online-Verlag Ridero, 2019.
Krotov, Viktor: Neue Kurzmärchen, in: Abwärts! Nummer 38, Berlin, BasisDruck Verlag 2020, S. 22-23.
Krotov, Viktor: Einige Verständnisse und Unverständnisse, in: Abwärts! Nummer 40, Berlin, BasisDruck Verlag 2021, S. 22.
Benert, Darja: Poetik der Naivität bei Viktor Krotov, in: Haiku – Epigramm – Kurzgedicht. Kleine Formen in der Lyrik Mittel- und Osteuropas. Köln, Böhlau Verlag 2021, S. 231-248.