Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

„Wer ent­scheidet schon, für wen welche Sprache eine Fremd­sprache ist.“ – ein Inter­view mit Ivna Žic

Ivna Žic ist Schrift­stel­lerin und Thea­ter­re­gis­seurin und lebt heute in Zürich. Sie wurde in Zagreb geboren und wuchs in Zürich und Basel auf. Ihr Roman Die Nach­kom­mende erschien 2019 bei Matthes & Seitz und wurde für den Schweizer Buch­preis, den Öster­rei­chi­schen Buch­preis und den Rau­riser Lite­ra­tur­preis nomi­niert. Zuvor war sie bereits als Thea­ter­au­torin mit ihren Stü­cken Leben wollen. Zusammen (spä­terer Titel: Die Vor­läu­figen) oder Blei erfolg­reich. In Die Nach­kom­mende ver­knüpft Ivna Žic zwei Zeiten und Welten und vor allem auch zwei Sprachen.

Zu einem Gespräch über ihren Roman Die Nach­kom­mende traf sich Kath­rine Spaar mit Ivna Žic in einem Züri­cher Café.

 

Kath­rine Spaar: Frau Žic, vielen Dank, dass Sie heute hier sind, um mit mir über Ihren Roman Die Nach­kom­mende zu spre­chen. Der Roman beginnt mit einer zwölf­stün­digen Zug­fahrt von Paris nach Zagreb. Der Prot­ago­nistin kommt es vor, als sei dies bereits ihre fünf­hun­dertste Fahrt nach Zagreb. Frau Žic, können Sie sich an Ihre erste Reise nach Kroa­tien erinnern?

 

Ivna Žic: Nein, ich glaube das ist bei mir tat­säch­lich ebenso ein Gemisch aus Wie­der­ho­lungen, wie es auch im Roman beschrieben wird. Ich per­sön­lich habe dies auch oft gemacht – mit dem Zug nach Kroa­tien – und kann die erste, zweite, dritte, vierte und fünfte Fahrt nicht mehr wirk­lich aus­ein­an­der­halten. Den beschrie­benen Zustand kann ver­mut­lich jeder nach­voll­ziehen, der mehr­mals an den­selben Ort gereist ist.

 

K.S.: Diese Fahrt ist ja ziem­lich phan­tas­tisch. Die toten oder auch noch lebenden Ver­wandten begleiten die Prot­ago­nistin als eine Art ‚Ahnen­geister‘ wäh­rend ihrer gesamten Reise. Ver­gan­gene Geschichten und Erleb­nisse werden wie­der­ge­geben. Welche Rolle spielen diese Erzäh­lungen der Vergangenheit?

 

I.Ž.: (lacht) Nun, das ist ja eigent­lich eine Frage, die die anderen beant­worten sollten. Viel­leicht können Sie ja erzählen, was es mit Ihnen gemacht hat?

 

K.S.: Ich denke, es könnte ein Kunst­griff sein, sodass der innere Monolog der Prot­ago­nistin zu einem Dialog wird und Gespräche ent­stehen können, obwohl wir uns wei­terhin nur in ihrem Kopf und ihren Gedanken befinden. Wir erfahren durch die Erzäh­lungen etwas über die Protagonistin.

 

I.Ž.: Genau, die Dia­loge und Erzäh­lungen dienen als eine Art Per­so­ni­fi­zie­rung oder Iden­ti­fi­zie­rung der Prot­ago­nistin. Im gesamten Buch ist die Prot­ago­nistin meis­tens allein. Die wenigen echten Begeg­nungen sind eher zufällig. Also wenn sie – ich nenn’ es mal ‚echten‘ Men­schen begegnet, sind dies Leute, die sie eigent­lich gar nicht so gut kennt. Ein Kellner, eine Frau mitten in der Nacht, der alte Mann am Ende. Da tau­chen zufäl­lige Figuren auf. Kunst­griff ist darum der tref­fende Begriff: Man holt diese Men­schen, die sie schon lange kennt – egal ob lebendig oder tot – zum Dialog hervor, aber nicht in einer echten Begeg­nung. Es ist eine andere Situa­tion, wenn das Gespräch phan­tas­tisch gestaltet ist, wie eine Erin­ne­rung, als würden Groß­mutter und Enkelin am Tisch sitzen und plau­dern. Ich wollte diesen Rea­lismus ver­meiden. So kommt man nicht weit, solche Gespräche drehen sich im Kreis, wäh­rend ein fik­tives Gespräch über Erin­ne­rungen einen viel grö­ßeren Raum öffnet. Man weiß letzt­end­lich nicht, ob diese Men­schen so spre­chen würden und so gespro­chen haben – viel­leicht ist dies nur ein Wunsch der Prot­ago­nistin. Wer weiß das?

 

K.S.: Stimmt. Ich kann bestä­tigen, dieser Kunst­griff hat wun­derbar funk­tio­niert. Eigent­lich span­nend, dass Sie die Dia­loge oft im inneren Monolog ver­pa­cken. Sie sind haupt­säch­lich Thea­ter­re­gis­seurin – dort wird viel mehr und ganz anders mit Dia­logen gear­beitet. Was hat Sie daran gereizt, nach vielen Jahren als Autorin für die Bühne, ein Buch zu publi­zieren? Exis­tierte diese Idee schon lange?

 

I.Ž.: Ja, ich habe auch lange an diesem Roman geschrieben, auch beglei­tend zu meiner Arbeit am Theater. Für mich war sein Erscheinen also gar nicht so neu wie für viele Men­schen in meinem Umfeld, die über­rascht waren, dass ich auch Prosa schreibe. Ich arbei­tete tat­säch­lich aber etwa fünf Jahre an diesem Text. Mich begleitet er schon wahn­sinnig lange, gehört schon lange zu meinem Leben dazu. Ich habe gemerkt, dass es mir nicht nur viel Spaß macht, son­dern auch gut tut, diese andere Form, die Prosa, aus­zu­pro­bieren. Auch weil dieser Text letzt­end­lich nur mir und den Leser_innen gehört und nicht durch diese ganze Thea­ter­ma­schine gehen wird mit Büh­nen­bild und Kos­tümen und Schauspieler_innen… Ich liebe dies zwar auch, sonst würde ich nicht Theater machen. Aber mir tat es ein­fach gut, künst­le­risch dem Schreiben eine andere Form zu geben, die erst einmal leiser ist, zwi­schen zwei Buch­de­ckeln ruht und sich nicht noch fünfmal ver­wan­delt. Das ist ganz anders als beim Theater.

 

K.S.: Das klingt für mich fast so, als wäre Theater die Arbeit und Prosa eine Lei­den­schaft für die Frei­zeit – ein Hobby sozusagen? 

 

I.Ž.: Ja und nein; ich nehme natür­lich beides gleich ernst, aber den­noch hatte ich einen gewissen Frei­raum beim Ver­fassen des Romans. Aber eher, weil es nie eine Dead­line gab. Dies ist bei Auf­trägen von Thea­tern natür­lich anders. Auch ein Verlag kann selbst­ver­ständ­lich Dead­lines setzen – mal schauen, wie es jetzt beim zweiten Buch wird – doch von diesem ersten wusste ja niemand.

 

K.S.: Ein zweites Buch? Werden Sie dem­nächst ein wei­teres publizieren?

 

I.Ž.: Bestimmt. Ich sag mal bestimmt. Aber ich lasse mir meine Zeit.

 

K.S.: Kommen wir zurück zu Die Nach­kom­mende: Sie sagen, Sie haben etwa fünf Jahre an diesem Roman geschrieben – eine lange Zeit, fast auch eine Art Reise. Das Reisen ist ja der Kern des Romans. Aus einer Reise ent­stand eine Reise…

 

I.Ž.: Ja genau, es war eine Reise und eine sehr schöne noch dazu, bei der immer wieder ver­dichtet, über­ar­beitet, kor­ri­giert und lek­to­riert wird. Das war ein schöner Teil des Schreibens.

 

K.S.: Der Text ist Prosa, aber doch nicht pro­sa­ty­pisch. Mal ist der Text rechts­bündig, mal steht nur ein ein­ziger Satz auf einer Seite, dazwi­schen füllt hin und wieder ein Rosen­kranz die Seite. Dieser expe­ri­men­telle Schreib­stil, kommt der auch vom Theater?

 

I.Ž.: Das Theater ist sicher freier. Aber Inspi­ra­tion waren auch andere Autoren und Autorinnen. Mir gefallen Werke im expe­ri­men­tellen Bereich – ich zähle meine Arbeit gar nicht unbe­dingt dazu, aber ich lese es gerne. Zudem finde ich, ein Buch ist ein for­males – oder über­haupt – ein Kunst­werk an und für sich. Ich nehme gerne Bücher in die Hand, bei denen ich merke, dass es nicht nur um den Inhalt geht; ich sehe einem Buch an, wenn sich jemand etwas dabei über­legt hat, und viel­leicht auch, was er sich dabei über­legt hat. Die Gestal­tung eines Textes erzählt die Geschichte mit und erzählt auch eine eigene – sie erzählt etwas vom Rhythmus. Auch bei mir wider­spie­gelt dieses For­male den Rhythmus. Ich mag es, wenn dieser sichtbar im Buch ist.

 

K.S.: Die Nach­kom­mende ist nicht nur expe­ri­men­tell gestaltet, son­dern Gestalten oder viel­mehr Malen ist auch Thema des Buches. Sowohl der ver­stor­bene Groß­vater als auch der Lieb­haber der Prot­ago­nistin waren Maler. In wel­cher Bezie­hung stehen Malen und Schreiben für Sie?

 

I.Ž.: Kon­kret mit dem Malen habe ich das Tex­tu­elle bis jetzt gar nicht ver­bunden, mehr grund­sätz­lich mit dem Visu­ellen; Text ist Gestal­tung. Ein Buch ist etwas Wahn­sin­niges, ein Kunst­werk. Ich hätte es nicht unbe­dingt mit dem Malen in Ver­bin­dung gebracht, den­noch finde ich das einen durchaus span­nenden Ansatz. Es ist ein­fach schön, wenn man sich in jeder Kunst­form mit allen der jeweilig mög­li­chen Ebenen aus­ein­an­der­setzt und dann eben nicht eine ver­gisst unterwegs.

 

K.S.: Spie­le­risch ist nicht nur Ihre Text­ge­stal­tung, son­dern auch Ihr Umgang mit der Sprache – mit der Zwei- oder genauer gesagt Drei­spra­chig­keit. Neben dem Deut­schen kommen immer wieder kroa­ti­sche und ver­ein­zelt auch schwei­zer­deut­sche Bruch­stücke vor. Sie selbst leben ja auch in diesen drei Spra­chen. Spie­gelt das Code­s­wit­ching im Buch auch Ihr Sprach­ver­halten wider?

 

Ivna Žic, © Flavio Karrert.

I.Ž.: Einer­seits hat es gewiss mit mir zu tun, ande­rer­seits ist es eine Art Sprach­ver­halten von Mehr­spra­chig­keit, wel­ches ich dar­stellen wollte, das auch über Zwei­spra­chig­keit hin­aus­geht. Eigent­lich ist der Roman vier‑, fünf­spra­chig. Viele redu­zieren das Buch auf die Zwei­spra­chig­keit, wobei ich mir denke: Hey, da sind viel mehr Spra­chen vor­handen. Natür­lich, das Buch ist vor allem auf Deutsch geschrieben, das kann man nicht negieren. Aber den­noch sind die anderen vor­kom­menden Spra­chen in gewissem Sinne gleich­wertig. Mir war es des­halb in der Gestal­tung auch wichtig, dass diese soge­nannten ‚Fremd­spra­chen‘ nicht kur­si­viert werden. Denn wer ent­scheidet schon, für wen welche Sprache eine Fremd­sprache ist. Zudem reprä­sen­tiert die Sprach­viel­falt die Rea­lität. Wenn wir her­um­laufen, fliegen uns ständig ver­schie­dene Sprach­fetzen um die Ohren. Zudem ist Zwei­spra­chig­keit die neue Norm, gerade in der Schweiz, einem vier­spra­chigen Land. Da muss man noch nicht mal Migra­ti­ons­hin­ter­grund haben. Wir tragen alle meh­rere Spra­chen in uns und wir brau­chen sie alle. Unab­hängig davon, was sie bedeuten. Und des­halb ist mir diese Gleich­wer­tig­keit so wichtig. Wären die kroa­ti­schen, eng­li­schen, schwei­zer­deut­schen Teile kursiv, so würde man sie zu diesem Fremden, dem Anderen, dem Nicht­deut­schen machen. Häufig über­setzte ich die Pas­sagen auch nicht, weil ich schon den Anspruch habe, dass wir die Lite­ratur nicht mehr so ein­spra­chig halten müssen. Sie soll aber nicht halb­kroa­tisch oder halb­tür­kisch oder sonst was werden, son­dern die Spra­chen sollen ein­fach neben­ein­an­der­stehen, neben­ein­ander koexis­tieren können.

 

K.S.: Ja, viele kroa­ti­sche Wörter oder auch Sätze werden nicht über­setzt. Was denken Sie, wie geht ein oder eine nicht Kroa­tisch spre­chende Leserin damit um?

 

I.Ž.: Viel­leicht gibt es solche, die sich ärgern, viel­leicht gibt es solche, die es so inter­es­siert, dass sie es goo­geln gehen. Bei den meisten Wör­tern ist aber gar nicht so wichtig, sie zu ver­stehen. Das ist das, was ich meinte, es geht mehr darum, wie die Spra­chen benutzt werden. So ist auch die Welt, in der wir uns bewegen; wir ver­stehen nicht jedes Wort um uns herum. Es ist im Grunde egal, was oder wie­viel man von den Sprach­fetzen im Buch ver­steht. Und ich meine egal in einem posi­tiven Sinne, nicht dass die Bedeu­tungen keinen Wert hätten, son­dern dass es gleich­wertig ist, ob jemand ein Wort ver­steht oder nicht. Ich denke, dieser Umgang mit Mehr­spra­chig­keit kann eine schöne Erfah­rung sein.

 

K.S.: Trotz der Viel­spra­chig­keit ist der Roman auf Deutsch­spra­chige aus­ge­richtet, da er meis­tens auf Deutsch ver­fasst ist. Sind bereits Über­set­zungen geplant?

 

I.Ž.: Auf Eng­lisch wurde bereits eine Pro­be­über­set­zung des ersten Kapi­tels gemacht.

 

K.S.: Und funk­tio­niert das auf Eng­lisch? Die Sprach­spie­le­reien ver­än­dern sich ja dadurch.

 

I.Ž.: Ja, das funk­tio­niert wahn­sinnig gut. Ich bin wirk­lich begeis­tert von dieser Über­set­zung. Es ist näm­lich nicht ein­fach; man muss sich bei einem sol­chen Text trauen, nicht brav eine Eins-zu-eins-Über­set­zung zu machen, son­dern sich auch Frei­räume zu nehmen. Also Sprach­spiele, die ich im Deut­schen mache, ins Eng­li­sche zu über­tragen. Nicht eins-zu-eins, Wort für Wort, son­dern den Rhythmus, den Flow, die Bewe­gung zu über­setzen. Der Ton und die Atmo­sphäre wurden in dieser Über­set­zung genau getroffen, so dass ich sehr begeis­tert bin von dem Ergebnis: Es klingt nach mir, obwohl ich es nicht geschrieben habe – ich bin total geflasht davon und freue mich, wenn das ganze Buch über­setzt wird. Das ist bestimmt eine Herausforderung.

 

K.S.: Und wie sieht es mit einer kroa­ti­schen Über­set­zung aus?

 

I.Ž.: Der Roman wird ins Kroa­ti­sche über­setzt werden. Und wir werden sehen, wie es dort gemacht wird, das ist natür­lich ein sehr span­nender Prozess.

 

K.S.: Apropos Kroa­tien: Eine Leit­figur des Romans ist das Pferd der Rei­ter­statue auf dem Ban-Jelačić-Platz. Es begleitet die Prot­ago­nistin wäh­rend ihres Auf­ent­halts in Zagreb und ver­folgt sie samt Bus­fahrt bis nach Zürich. Was ver­kör­pert dieser Reiter – ins­be­son­dere das Pferd – abge­sehen von der Erlan­gung der staat­li­chen Unab­hän­gig­keit Kroatiens?

 

I.Ž.: Eigent­lich span­nend, dass Sie die Unab­hän­gig­keit nennen. Ich hätte es gar nicht unbe­dingt mit diesem Wort in Ver­bin­dung gebracht. Ich sehe es nicht mit der Unab­hän­gig­keit Kroa­tiens ver­bunden, es ist für mich kein natio­na­lis­ti­sches Pferd. Das wäre ein biss­chen eine zu schmale Inter­pre­ta­tion. Natür­lich ist es sehr poli­tisch auf­ge­laden; es hat zum Bei­spiel immer in ver­schie­dene Rich­tungen gezeigt, mal nach Ungarn – sozu­sagen als Ver­tei­di­gung in diese Rich­tung – dann wurde es ent­fernt nach dem Zweiten Welt­krieg. Und letzt­end­lich zeigte es unpo­li­tisch Rich­tung Süden, Rich­tung Meer. Die Rei­ter­statue ist ein Symbol und steht einer­seits, wie Sta­tuen ja immer, als etwas Mas­sives, Sta­biles da, wört­lich in Stein gemei­ßelt. Ande­rer­seits drehte sich diese Statue wie ein Fähn­chen im Wind. Sie steht darum für das Land, für die Umbrüche und Ver­wand­lungen. Ich ent­wur­zelte die Rei­ter­statue jedoch und benutzte sie ebenso als phan­tas­ti­sches Moment wie auch die toten Ver­wandten und die leb­haften Erin­ne­rungen. Ich finde den Gedanken irgendwie lustig, dass ein so dickes und mas­sives Pferd – wie wir es auch aus anderen euro­päi­schen Städten kennen – sich plötz­lich in Bewe­gung setzt und nebenher trabt. Gleich­zeitig ist das Pferd auch eine Kind­heits­er­in­ne­rung der Protagonistin.

 

K.S.: Welche Kindheitserinnerung?

 

I.Ž.: Auch wenn das Pferd damals nicht da stand, war doch dieser Platz ein sehr wich­tiger Ort – ein Ort, der sehr unpo­li­tisch genutzt wurde. Es war ein sozialer Ort, ein Treff­punkt. Und im Sommer sind solche Städte wie Zagreb dann ein­fach leer. Und auch dieser belebte Platz ist plötz­lich leer. Es ist mega heiß und alle sind am Meer. Und dann hat dieses Pferd plötz­lich keine Funk­tion mehr: nie­mand ist hier, um sich zu treffen, nie­mand schaut das Pferd an. Und plötz­lich, als würde es sich wie in einer sol­chen Som­mer­nacht weg­schlei­chen, taucht es abseits vom Platz wieder auf und begleitet die Prot­ago­nistin. Ja, eigent­lich wie eine Erin­ne­rung. Es ist letzt­lich ein Symbol der Ver­gan­gen­heit. Es ver­kör­pert auch eine Ver­grö­ße­rung oder fun­giert viel­leicht als Per­so­ni­fi­zie­rung eines Kin­der­ge­fühls, das die Prot­ago­nistin von diesem Pferd und diesem Land hatte. Ich denke, man kann ganz viel hier in die Bedeu­tung dieses Pferdes hin­ein­legen. Ich fand es aber auch schlichtweg cool, dieses Pferd zu beleben. Ich meine, wenn man sich schon diesen Spiel­platz eröffnet, mit phan­tas­ti­schen Ele­menten zu arbeiten, dann sollte man auch damit spielen, wer nebst den Men­schen noch vor­kommen kann.

 

K.S.: Inter­es­sant, wie Sie auch hier die Bewe­gung beschreiben. Die Bewe­gung ist ja ein Thema des Romans – es ist alles eine ein­zige Bewe­gung, eben eine Reise.

Wirft man einen Blick auf Ihre Bio­gra­phie, so bemerkt man bald: Die Prot­ago­nistin teilt vieles mit Ihnen. Wie ist das, wenn man eine fik­tive Geschichte auf­schreibt, die auto­bio­gra­phi­sche Züge auf­weist; schöpft man aus den eigenen Erin­ne­rungen und Erfah­rungen? Ver­schwimmen Fik­tives und Erin­ne­rungen – diese beiden Leben – viel­leicht auch mit­ein­ander? So wie auch die ver­gan­genen Zugfahrten?

 

I.Ž.: Grund­sätz­lich ist es doch so, dass jede Autorin und jeder Autor immer aus dem eigenen Leben heraus schreibt – egal ob bei einem Krimi, Sci­ence-Fic­tion oder wel­ches Genre auch immer – man schöpft aus sich selbst. Dies kann auch ledig­lich ein Raum oder eine Atmo­sphäre sein oder eine Figur, die über­setzt wird. Nur weil diese Figur jetzt rea­lis­ti­scher ist, als bei­spiels­weise eine Sci­ence-Fic­tion Figur, kommt relativ schnell dieser auto­bio­gra­phi­sche Gedanke. Und man darf auch nicht ver­gessen, dass Autor_innen am liebsten erfinden. Für andere ist es immer so nahe­lie­gend, das Auto­bio­gra­phi­sche zu erkennen und uns danach zu fragen. Aber was am meisten Spaß macht – also mir zumin­dest – ist doch das Erfinden, das Erzählen. Darum mache ich Theater, darum schreibe ich Bücher, weil ich ein­fach gerne Geschichten erfinde! Und das sollte man nicht unter­schätzen. Es macht mehr Spaß zu erfinden, als Tage­buch zu schreiben.

 

K.S.: Werden Sie denn oft in Bezug auf den Roman mit Fragen zum Auto­bio­gra­phi­schen konfrontiert?

 

I.Ž.: Ja immer wieder. Und das finde ich schade. Ich denke mir dann: Hey, ich sitze doch nicht hier zum Inter­view, damit man mich privat ken­nen­lernt. Ich sitze hier, weil ich ein Buch geschrieben habe und dar­über möchte ich spre­chen. Ich bin bereit, über mein Buch zu spre­chen und dies öffent­lich zu teilen. Das ist meine Lite­ratur oder mein Theater. Und in diesem Rahmen kann man mich ken­nen­lernen, über meine Kunst sozu­sagen. Natür­lich ver­stehe ich es auch in gewissem Masse, dass man mich ken­nen­lernen möchte; ich bin eine lebende Person, die man treffen kann und die nicht seit 200 Jahren tot ist. Aber hey Leute; nehmt diese Her­aus­for­de­rung an! Wir sind doch alle immer in einer Rolle. Ich sitze gerade in einer Rolle hier und Sie als Inter­viewerin ebenso! Ich habe mich heute ent­schieden: Ich komme hierher, ich bin Autorin und werde in dieser Stunde über mein Buch spre­chen. Und das ist jetzt meine Rolle. Ob ich gerade Lie­bes­kummer, Hunger oder Kopf­schmerzen habe, hat nichts ver­loren in einem Inter­view über mein Buch. Lite­ratur ist Fik­tion und schafft Rollen. Man sollte wieder mehr ent­de­cken, Freude daran zu haben, die Kunst spie­le­risch wahr- und anzu­nehmen – eigent­lich wie im Theater. Wir sind und schaffen ständig neue Rollen. Und darum geht es letzt­end­lich auch in diesem Buch.

 

K.S.: Auf ihrer Web­site steht, ihr Roman sei frei zur Dra­ma­ti­sie­rung. Sie haben sich doch dazu ent­schieden, eben kein Thea­ter­stück aus dieser Geschichte zu machen, son­dern bewusst die Roman­form gewählt. Funk­tio­niert der Text denn auch als Drama? Würden Sie die Dra­ma­ti­sie­rung allen­falls selbst vornehmen?

 

I.Ž.: Manchmal über­lege ich tat­säch­lich, ob ich eine Dra­ma­ti­sie­rung vor­nehmen sollte. Wie Sie sagen: Ich habe mich ent­schieden, einen Roman zu schreiben, nicht ein Thea­ter­stück. Ande­rer­seits gibt es im Theater mitt­ler­weile viele Roman­be­ar­bei­tungen. Für mich wäre die Dra­ma­ti­sie­rung eine solche Roman­be­ar­bei­tung für das Theater und ich würde mein Buch nicht als Thea­ter­text einer Thea­ter­au­torin betrachten. Das könnte ein span­nendes Unter­nehmen sein, also wenn jemand Lust darauf hat, warum nicht? Ich finde es aber absolut nicht schlimm, wenn es nicht gemacht wird. Ich öffne ledig­lich die Tür dazu. Ich bin glück­lich, dass ich einen Roman geschrieben habe, dass er hier ist ‒ in sich geschlossen und abgeschlossen.

 

Bild­quelle: Ivna Žic, © Flavio Karrert.