2021 war ein erfolgreiches Jahr für Dragica Rajčić. Zuerst erschien ihr neuer Roman Liebe um Liebe bei Matthes & Seitz, dann wurde ihr der Schweizer Literaturpreis für das Langgedicht Glück verliehen.
Dragica Rajčić wurde am 1959 in der Nähe von Split geboren. 1978 floh sie von Kroatien in die Schweiz, wo sie sich als Gastarbeiterin aufhielt. Nach ihrer Rückkehr im Jahr 1988 musste sie 1991 aufgrund des Jugoslawienkriegs erneut zusammen mit ihren drei Kindern in die Schweiz flüchten. Seither lebt sie in Zürich und Innsbruck, wo sie als Autorin und Dozentin für literarisches Schreiben tätig ist. Dragica Rajčić hat bereits früh mit dem Schreiben auf Kroatisch begonnen. Seit ihrem ersten Aufenthalt in der Schweiz erschienen auch Gedichte, Kurzprosa und Theaterstücke auf Deutsch, in denen sie Fremdheit auch fremdsprachlich ausdrückt.
Mit Dragica Rajčić hat Vilsan Zulji über Zoom gesprochen. Eigentlich sollte es ein Treffen in einem Café werden, aber aufgrund von Corona war das nicht möglich. Im Mittelpunkt des Gesprächs stand der neue Roman „Liebe um Liebe“: „Es ist ein Roman“, wie sie selbst sagt, „über Fluch und Gnade der Literatur, eine Liebeserklärung an das kommende Selbst, entstanden aus der Erneuerung der Sprache durch Geduld des Fischens aus der Dunkelheit.“
Vilsan Zulji: Ich freue mich sehr, dass Sie heute für uns Zeit gefunden haben.
Dragica Rajčić: Ja zum Glück, denn eigentlich habe ich nicht so viel Zeit. (lacht) Besonders, wenn ich in Zürich bin, da ich dann kurzfristig alle Termine zusammenrücken muss, seien es die Übersetzungen, Preise, Lesungen. Oder meine Kinder treffen, die hier leben. So ist ständig viel los, aber im Juni habe ich wieder Ruhe, weil ich dann wieder nach Kroatien zurückgehe.
V.Z.: Das heisst in Kroatien können Sie sich dann ganz auf sich und Ihre Texte konzentrieren?
D.R.: Nein, gar nicht! Dieses verdammte Zoom kommt ja überall hin. (lacht) Früher hat man sich noch Briefe geschrieben, da hat es einen Monat lang bis zur Antwort gebraucht. Heute mit den Mails muss man innerhalb von Minuten antworten. Aber damals hat man es ja nicht anders gewusst.
V.Z.: Und heute wissen wir es anders bzw. besser, aber bestehen trotzdem auf einem stressigen Leben. Unglaublich!
D.R.: Genau. Dann komm mal lieber mit deinen Fragen, bevor die Zeit um ist. (lacht)
V.Z.: Sehr gerne! (Dragica Rajčić macht noch ein Erinnerungsfoto von uns).
V.Z.: Seit den Halbgedichten einer Gastfrau haben Sie bewusst (oder unbewusst) Deutsch mit „kroatischem Hintergrund“ gedichtet und so eigenwillig kunstvolle Brüche in der Standardsprache evoziert. In „Wohin geht die Sprache“ heißt es in Ihrem Essay: „Ich schreibe Kroatisch durch Deutsch hindurch, Deutsch durch Kroatisch, hätte ich nur die erste Sprache, wie käme ich aus diesem abgelagerten Schmerz hinaus?“. Wie kamen Sie eigentlich auf die Idee, auf diese Weise zu dichten?
D.R.: Die Idee war einfach da. Ich habe schon mit fünf Jahren angefangen zu dichten. Das Dichten war wie ein Spielzeug für mich. Also mit den wenigen Zutaten, die man zur Verfügung hat, etwas poetisch Sinnvolles ausdrücken zu können. Die Gedichte zur „Gastfrau“ habe ich zuerst auf Kroatisch geschrieben und in Kroatien veröffentlicht, bevor ich sie dann 1986 ins Deutsche sinngemäß übertragen habe. Aber die Gedichte selbst sind aus reiner Spielfreude entstanden, denn die guten Ideen kommen nie wirklich geplant zustande, sondern eher spontan.
V.Z.: Dann war die Rezeption in Kroatien eine andere als hier im deutschsprachigen Raum?
D.R.: Es kommt immer drauf an, für welches Zielpublikum man schreibt. Wenn ich auf Kroatisch über Gastarbeiter geschrieben habe, dann habe ich den Verwandten, den verlassenen Ehefrauen usw. geschrieben. Denn ihr Bild von Gastarbeitern war ein buntes, mit schön angezogenen Kleidern und guten Autos, viel Geld. Als ich in die Schweiz kam und selbst Gastarbeiterin war, habe ich aber miterlebt, dass diese Leute früh morgens um 5 Uhr zur Tram gehen, bis 19 Uhr abends arbeiten und noch Kinder aus der Krippe abholen. D.h. die Trugbilder von Fröhlichkeit und Reichtum, welche die Leute in Kroatien von Gastarbeitern produzierten, dienten ihnen als Selbstbestätigung von einem schönen Bild der Emigration. Doch mit welchem Preis dieses Leben bezahlt wird, das war ihnen nicht bewusst, solange man es nicht auf der eigenen Haut erfuhr.
V.Z.: Und was ist mit dem deutschsprachigen Publikum?
D.R.: Wenn ich für das deutsche Publikum schrieb, dann um Gastarbeiter für die Menschen in der Schweiz sichtbarer zu machen, damit diese auch eine Stimme erhalten können, denn es hat sie niemand nach ihrem Alltag gefragt. Sie wurden eher körperlich, als äusserlich anwesende Arbeiterschicht erkannt, die das Gastland, also die Schweiz, reicher machten, aber sie wurden nicht wirklich bewusst als Teil der Gesellschaft wahrgenommen. Und so hat sich dann auch die Botschaft meiner Gedichte verändert, indem ich die Perspektive ummodelte, wobei das Zielpublikum nicht mehr Ex-Jugoslawien, sondern die Schweiz wurde. So konnte ich mit einer anderen Sprache eine andere Wirklichkeit reflektieren, die dann plötzlich auf symbolischer Ebene an neuer Bedeutung gewann. Ich hatte zum Beispiel Schweizer Dichter*innen gelesen, etwa Kurt Marti oder Erika Burkart, und später den Österreicher Erich Fried, um mich auch poetisch an der deutschen Sprache und deren Gedankengut heranzutasten und diese dann mit meiner kroatischen Dichtung in Verbindung zu setzen. Mein Ziel war es vor allem, die Sprache auseinanderzunehmen und so neue Gucklöcher zu ermöglichen. Jedoch hätte ich nie zu träumen gewagt, dass ich ein grosses Zielpublikum in der Schweiz mit meinen „Halbgedichten“ ansprechen würde.
V.Z.: Das kenne ich gut. Ich komme selbst aus einer Gastarbeiterfamilie, und manchmal bekomme ich von den Leuten hier im deutschsprachigen Raum wirklich das Gefühl, dass meine Eltern oder Verwandten aufgrund ihrer sozialen Schicht nicht imstande wären zu denken, weil sie still vor sich hinarbeiten. Doch oft liegt es an der noch fehlenden Sprachbeherrschung und Unsicherheit, die jemanden zurückhält, sich zu äussern. Oder die Person ist einfach noch nicht in den Dialogen geübt, wie sie im Gastarbeiterland geführt werden. Mit Ihren Halbgedichten haben Sie definitiv Gastarbeiter*innen eine Stimme gegeben, von denen man zuvor noch wenig wusste, ausser, dass sie aus verschiedenen Gründen emigriert sind. Und vielleicht ist genau das auf Resonanz in der Schweiz gestossen, da ich das Publikum hier doch als ziemlich offen und aufgeweckt erlebe, etwas Neues zu lernen.
D.R.: Ich warte jetzt in der Schweiz auch auf tamilische oder asiatische Lyrik. Dort verhält es sich im Prinzip ähnlich. Erst die Gedanken ermöglichen den Dialog, d.h. die Sprache.
V.Z.: Apropos Sprache! Sie sprechen in Ihrem Essay von einem „abgelagertem Schmerz“ in Ihrer Dichtung. Wie hängen Schmerz und Sprache eigentlich zusammen? Ist der Schmerz auf Kroatisch ein anderer als ein deutscher Schmerz?
D.R.: Das ist eine interessante Frage, vor allem im sozialisierten Ausdruck von Schmerz; also wie man diesen stilisiert und einführt. Zum Beispiel sind in der iranischen Dichtung die Männer Träger der Emotionen, und nicht alles, was Frauen zugeschrieben wird, wird auch den Männern zugeschrieben. So sind diese etwa schwankend oder wehmütig, und ihre Gedichte dürfen ausufernd sein. Bei mir ist es so, dass ich aus einer mündlichen Tradition komme, die von der Grossmutter sozialisiert war. Da wurden die Gefühle alle laut gesungen. Der Schmerz wohnte sozusagen mitten im Herzen, weshalb diese Art von Liedern oder Gedichten (zum Beispiel sevdalinke: Sevdalinka heißt die traditionelle, ursprünglich städtische Liebeslyrik in Bosnien und Herzegowina, A.d.R.) sehr dramatisch sind und die Tränen echt. Wenn ich aber im Sommer in Kroatien bin und wieder diese Lieder aus meiner Jugend höre, kann ich meinem Mann, der Österreicher ist, zwar die Lieder übersetzen, aber nicht die Empfindung dieser Wörter, da die Grenzen der Empfindungen zu Grenzen der Sprache werden. Es geht um die Art des Ausdrucks, die eine Kultur pflegt, und diese imaginierte Menschlichkeit, die sich etwa in Kroatien durch den Ausdruck der eigenen Gefühle manifestiert, welche uns dort zwar so bekannt und nah ist, aber dann doch schwer in Worte zu fassen ist. Ich merke das an meinen Kindern. Einerseits will ich ihnen als Elternteil diese Nähe in Form von Liebe und Sorge weitergeben, die mir aus Kroatien bekannt ist. Da sie aber auch hier in der Schweiz aufgewachsen sind, fehlt einem als Elternteil eine gewisse andere Form des Ausdrucks, die man den Kindern mitgeben möchte, damit sie sich auch hier im deutschsprachigen Raum zurechtfinden können.
V.Z.: Das kann ich gut verstehen. Meinen Eltern erging es nicht anders, als sie hierhergezogen sind. Noch heute empfinden sie Schuldgefühle, dass sie es hätten besser machen können, sei es in der Integration im Gastland oder in der Aufrechterhaltung der eigenen balkanischen Traditionen. Doch was ich spannend finde ist, wie Sie sagen, dass sich kulturelle Gefühle sprachlich schwer übersetzen lassen. Sie versuchen sich auch in ihren Gedichten an diese Gefühle heranzutasten, was im Deutschen nochmals eine spezielle Atmosphäre evoziert, da das Kroatische ihnen innewohnt. Sie schreiben, um nochmals Ihren Essay zu erwähnen, dass „die Sprache nicht dorthin reicht, wo die Empfindung ist“, nämlich, wo die „dahinterliegende Geschichte begraben liegt“. Desweitern sprechen Sie auch von den „unberührbaren Wörtern“.
D.R.: Ja, aber dort ging es vor allem um Generationen-Traumata. Diese Rückkehr zur Realität nach dem Krieg, besonders in der 68er-Bewegung, um die Mauer des Schweigens und des Leids zu durchbrechen, war der Hunger nach Liebe. Es ging um etwas „Wahres“, was die Menschen im Jetzt suchen und ausdrücken wollten. Da es damals diesen Themen jedoch an Bodenhaftigkeit fehlte, die noch bis heute in der Nachkriegsliteratur thematisiert werden, trat stattdessen die Sprachlosigkeit aufgrund der schmerzhaften Ereignisse ein. Zum Beispiel wird im Balkan nicht über den schrecklichen Krieg von 1991 gesprochen, der aktuell von Bedeutung wäre, sondern über den Zweiten Weltkrieg, um die aktuelle Thematik zu umgehen und keine neuen Wunden aufzureißen. Stattdessen habe ich von Lana Bastašić während der „Tage Südosteuropäischer Literatur“ im Literaturhaus Zürich gehört, dass wir aufhören sollten, über die Geschichten des Sozialismus zu sprechen, da die jetzige Generation sich mit dem Krieg auseinandersetzt. Autor_innen, die aus ihrem Heimatland weggegangen sind, so wie ich, reden jetzt in der Diaspora von einem distanzierten Standpunkt über den Krieg, wobei die Leute, die noch innerhalb der Trümmer ihrer Heimat geblieben sind, Mühe haben, dieser Sprachlosigkeit näher zu kommen, weil das Sich-Erinnern immer mit Scham und dergleichen verbunden ist. Ich weiss noch, wie Bundesrat Adolf Ogi 1991 zum Jugoslawienkrieg sagte: „Mensche tuen enand Kopf abschloh“. Doch wie kann ich jemandem den Kopf abschlagen, wenn eine Bombe auf meinem Kopf fällt? Männer kämpften miteinander, und Frauen und Kinder waren Kriegsbeute, mussten evakuiert werden, was sich bis heute in den Kriegsszenarien nicht geändert hat. Ich denke, Du kennst ähnliche Geschichten aus deinem Verwandtenkreis.
V.Z.: Gewiss. Jedoch herrscht, wie Sie es erwähnen, eine Sprachlosigkeit. Ich kenne Leute, die in den Krieg gezogen sind, aber immer noch wie ein Grab schweigen, weshalb ich nun Ihr Konzept der „unberührbaren Wörter“ und der „dahinterliegenden Geschichte“ besser nachvollziehen kann. Bei uns wird auch nicht gerne darüber gesprochen, oder man ist schon früh geflüchtet und steht nicht wirklich in Berührung mit solchen Kriegsgeschichten und Traumata. Doch manchmal, da hake ich nach, weil ich spüren kann, dass mehr dahintersteckt und es kommt trotzdem sehr wenig dabei raus. Deshalb kenne ich meine Familiengeschichte auch nicht so gut.
D.R.: Ich habe mir angewöhnt, dass wenn jemand nicht darüber sprechen möchte, ich nicht mehr nachfrage, weil vielleicht eine Wahrheit dahintersteckt, die ich selbst nicht ertragen könnte. Gerade im Zweiten Weltkrieg ging es darum, einen Menschen unter besonderen Umständen zu töten, und wenn diese Grenze überschritten wurde – sei es als Verteidigung oder Befehl oder besonders in einem Zweikampf – dann sitzt das Trauma tief. Das ist was ganz anderes, als wenn wir Krimifilme schauen, wo jemand erschossen und getötet wird. Doch wenn man im Krieg den Auftrag vom Militär bekommt, eine Bombe abzuwerfen, ist man dann ein Mörder? Wenn man mittendrin im Kriegsfeld ist und um einem herum geschossen wird, sodass man nicht mehr weiss, ob man sich verteidigen oder davonrennen soll, und dann bei der Heimrückkehr gefragt wird, ob man zwei Löffel Zucker im Kaffee haben möchte – ist das nicht fast schon ironisch, wie sehr diese Kriegserlebnisse verdrängt werden wollen? Gerade von solchen Umständen handelt auch mein Buch Glück, also von Menschen, die Kinder bekommen und sie vor allem Möglichen schützen wollen, aber nichts weiter als die Verbreitung von Angst, Repression und Gewalt kennen, weil sie selbst nicht anders erzogen wurden, geschweige denn eine Alternative in ihrem Leben gekannt haben. Deshalb sehe ich mich eher als eine Skeptikerin der Wörter, wenn ich schreibe, weil immer mehr dahintersteckt, als man zu wissen glaubt.
V.Z.: Dann lassen Sie uns nun über Ihr Buch sprechen. Heimat steht für Sie analog zum Wort Glück. Wortwörtlich gibt es jedoch nicht das her, was man sich unter Glück normalerweise vorstellen würde. Für das gleichnamige Buch Glück als Langgedicht haben Sie dieses Jahr den Schweizer Literaturpreis gewonnen. Dort thematisieren Sie die Rollenverteilung von Mann und Frau im Balkan, den patriarchalen Machtmissbrauch und das tolerierende weibliche Schweigen. Glück handelt letztlich von der Flucht aus dem Elternhaus, um Glück in der Liebe zu finden, nur um dann vor der eigenen Ehe wieder erneut zu flüchten. Wieso war es für Sie gerade wichtig, die Thematik von Gewalt, Flucht und Schmerz unter dem Titel Glück anzusprechen?
D.R.: Ich habe in vielen Interviews bereits gesagt, dass mein Buch Glück eine Antwort auf Ingeborg Bachmanns Roman Malina ist. Dort gibt es ein ganzes Kapitel über „Glücklich mit Ivan“, und das Schreiben wird als Versuch betrachtet, das Glück zu sortieren. Jedoch wird bei Ana Jagoda z.B. klar, dass sie trotz der Flucht aus ihrer Heimat das vorgeprägte Bild von Unglück mit sich nimmt. Auch wenn Ana Jagoda nicht mehr in ihrem Dorf lebt, da sie mit ihrem Ehemann Igor nach Chicago zieht und Glück erhofft, ist ihr schmerzliches Dorfleben trotzdem stets in oder mit ihr anwesend.
V.Z.: Und das Glück?
D.R.: Die Frage ist vielmehr: Wer definiert Glück? Glück wächst, indem man geliebt wird. Auch Gewalt entsteht nicht einfach so, sondern ist als Ausdruck von Wut auf das Leben zu verstehen, wenn man zu wenig Liebe erfahren hat. Ein Mann muss beispielsweise hart sein, was im Patriarchat noch bis heute als Ideal gilt. Frauen wären dann vielmehr dafür da, andere mit Liebe zu füttern und das Herz zu erweichen – aber sie selbst bekommen diese Liebe nicht. Stattdessen flüchten die Männer vor ihren Frauen, nur um diese Härte von Männlichkeit anderswo auszuleben, und erwarten dasselbe dann auch noch von ihren Söhnen, so wie das sozialisierte Frauenbild von Müttern an die Töchter weitergegeben wird. Dabei wird vergessen, wie solche Rollenmuster dem eigenen Familienglück im Weg stehen können; besonders die Gewaltbeziehungen, die daraus resultieren. So kommt das Kinderschlagen als Erziehungsmethode hinzu, was in der Schweiz oder in Österreich vor 100 Jahren nicht anders gewesen ist. Das Problem ist, dass die Art von Pädagogik niemanden gestört hat, weil man es so hingenommen hat und Liebe somit unbewusst zu einer Notwendigkeit geworden ist. Ich weiss, in meiner Klasse wurden damals alle Kinder geschlagen, und die Kinder haben sich im Pausenhof untereinander geschlagen, nur um dann vom Schuldirektor rausgeholt und geschlagen zu werden, damit sie andere nicht schlagen. Kann man sich so Liebesglück erhoffen?
V.Z.: Also eigentlich ein Liebesschrei, nicht? Das erinnert mich an eine Passage in Glück, wo Sie den Liebesschrei als eine «Zumutung» und «wartende imaginäre Liebe» beschreiben. Vielleicht heisst auch deshalb ihr Nachfolgeroman Liebe um Liebe. Sie schreiben ausserdem in Glück: „Die Szene/es ist immer Krieg/ich will Frieden“. Die Fremdheit im eigenen Herzen erörtern Sie dort erschreckend real, sobald man als Leser*in mit der kontextuellen Gewalt vertraut wird. Oft spielt die Protagonistin Ana Jagoda selbst mit Suizidgedanken, um allem ein Ende zu setzen. Sie befindet sich also immer wieder auf der dunklen, statt auf der hellen Seite ihres Glücks, was als Grenzerfahrung ihres „schwankenden Bewusstseins“ zu verstehen wäre, wenn Sie als Autorin in Ihrem Buch zwischen Paradiesvorstellungen und Realität der Liebe unterscheiden. Was bedeutet das für die Figur Ana Jagoda insgesamt, keine Liebe zu kennen?
D.R.: Der Kern des Buches ist auf der Bühne verständlicher, da ja Glück ursprünglich als Theaterstück aufgeführt wurde. Dort wirft Ana Jagoda mit Papierfetzen um sich. Sie erschreibt sich ihr Leben, aber erliest sich ein Ideal, indem sie sich in der Literatur und im Schreiben eine lebbare Ideologie ersucht. Und diese ist mit einem Ideal von Glück verbunden, das als Liebesruf zu verstehen ist, der einem das Herz wieder erweichen sollte. Deshalb wollte ich ursprünglich mein Buch „Liebeshunger“ nennen, weil die Fantasie um Liebe unersättlich ist. Doch Ana gräbt sich dabei selbst eine Grube, indem sie weiss, dass sie dieses Ideal im echten Leben nicht aufrechterhalten kann, da sie selbst Liebe nicht von zuhause kannte. Genauso verhält es sich auch bei Igor, Ana Jagodas Ehemann, der Ana schlägt, weil ihm diese Rolle so mitgegeben wurde und ihm nichts als das Trinken blieb. Er greift zur Flasche, während sie nach Stift und Papier sucht. Er weiß, dass sie ihn verlassen wird, weil sie ihn nie so lieben wird, wie er einst von seiner früh verstorbenen Mutter geliebt wurde, bevor er dann von seinem kriegstraumatisierten Vater misshandelt wurde. Mit ihrer anfänglichen Verliebtheit glauben sowohl Ana als auch Igor, dass sie das Ideal der Liebe aufrechterhalten können in ihren Rollen als Frau und Mann. Doch seit ihrem Elternhaus waren sie beide Opfer, mit der Unmöglichkeit konfrontiert, sich geschützt und geliebt zu fühlen, weshalb sie beide später in ihrer Ehe sowohl Täter als auch Opfer sind.
V.Z.: Wie lässt sich diese Umkehrung denn gerade bei Ana Jagoda verstehen? Als Leser_in hat man das Gefühl, dass sie das Opfer sei.
D.R.: In Liebe um Liebe erfahren wir beispielsweise, dass Ana Jagodas Ahnenreihe von den eigenen Verwandten, also Neffen oder Brüdern, missbraucht wurde – jedoch mit Zustimmung dieser Frauen. Und dass Ana ihr Kind abtreiben muss, ist ihre Schuld, weil sie sich von ihrem Cousin schwängern liess, es aber Igor nicht sagen darf. Ana hat also vielmehr zu verbergen als wir eigentlich wissen. Sie ist es, die im Roman schreibt, was sie gleichzeitig zu einer unglaubwürdigen Figur macht. Als Leser_innen gehen wir mit ihr, leiden mit ihr, doch wenn wir das von aussen betrachten, ist die Geschichte eine andere, da sowohl Ana als auch Igor miteinander korrespondieren.
V.Z.: Deshalb finde ich in Ihrem Roman Liebe um Liebe die hinzugefügten Kapitel über das Rollenspiel so bedeutend, wenn Ana Jagoda sich während ihrer Therapie in verschiedene Personen ihres nahen Umfeldes psychisch hineinzuversetzen versucht, um ihre Traumata zu verarbeiten, was nochmals ganz andere Perspektiven auf alle Charaktere wirft. So meint Ana, Igor pflege die Vorstellung, dass Ana ihn verachte, wie es sein Vater tat, und ihn für einen Idioten hält. Deshalb sei das Schweigen für Igor der beste Weg, den geborgten und nachfühlenden Worten Anas entgegenzuwirken, denn er wisse schon längst, dass sie ihn betrüge. Interessant ist aber hier, dass die Worte im Akt der Aussprache eine andere Realität zu fixieren versuchen, nämlich Igors durch Anas Worte. Sie entscheidet dadurch, wieviel Machtspielraum sie Igor überlässt und wie sie ihn darstellt.
D.R.: Wenn Ana diese Rollen spielt, geht es besonders um die Wut, die hier bei ihr rauskommt. Wenn es im christlichen Gebot heißt, wir sollten die andere Wange hinhalten, wenn die eine Seite geohrfeigt wurde, heißt es dann, wenn Igor sie fast umgebracht hat, soll er es nochmals tun? Nein. In diesem Rollenspiel geht es vielmehr darum, dass Ana selbst nicht in Versuchung kommen sollte, Igor Gleiches anzutun, und ihm in dieser Täterschaft zur Komplizin wird. Sie hat also Angst vor ihrer eigenen Gewalt. Sich selbst zu töten ist bereits als Gewaltakt zu verstehen, und nun diese Wut auf Igor und auf ihren Vater, der sie ebenfalls geschlagen hat, sowie auf Männer wie den Pfarrer Danilo, der sie als Schülerin misshandelte; all diese Wut wird ihr bewusst. Daraus ist definitiv eine Stärke hervorzuholen, doch letztlich sehe ich hier eine Angst des Alleinseins. Die bereits bestehenden Schuldgefühle lassen sich eben nicht durch Täterschaft begleichen, sondern indem man beginnt, etwas zu bedauern und zu begreifen – vor allem, wenn es nicht mehr veränderbar ist und in der Vergangenheit liegt. Gerade Liebe erfindet sich immer neu durch mehrere schmerzliche Erfahrungen hindurch, weil man so erst merkt, was einem gut oder schlecht tut, und man nicht etwa auf ewig zusammen sein muss, bis dass der Tod uns scheidet.
V.Z.: In Glück erfahren wir aber auch, dass man manchmal nicht alle Freiheiten als Mensch hat. So landet Ana nach der Beziehung mit Igor im „Womenirrhaus“ – nicht aber, weil sie es wollte, sondern weil es ihre letzte Option war. Doch lernt sie dort gerade durch Gleichgesinnte zu verstehen, wie selbstverständlich es sein kann, über Gewalt und alles, was zuvor verschwiegen werden musste, offen zu sprechen. Es wird eine neue Intimität geschaffen. Was bedeutet diese Art von Selbstverständlichkeit für Frauen heute und für das weibliche schreibende Ich?
D.R.: Schon allein damit, dass ich das Wort „Womenirrhaus“ benutze, wollte ich andeuten, dass die Frauen nicht in einem Irrenhaus leben, sondern die Frauen aus einer „irren“ Welt dort hinkommen, um sie einzuschliessen und zu schützen. Und dieses Umkippen des Horrors in eine Alltäglichkeit ist eigentlich sehr erschreckend. Denn, indem die Frauen dort lernen, mit ihren Erlebnissen umzugehen, findet gleichzeitig eine Milderung und Anpassung statt. Die Loslösung der Worte von der Emotion geschieht hier also ganz selbstverständlich, um ihre Empfindungen „normal“ zu machen. So normal also, dass wir heute alle über Gewalt nüchtern sprechen und in den Medien berichten können. Auch wenn man die problematischen Erlebnisse in so einem Frauenhaus anspricht – da sich die Frauen in der Realität für den Täter geschämt haben, und sich noch bis heute in einer männerdominierten Welt fremdschämen sollten – so ist es nichts weiter als eine schizophrene Sprache, die sich entwickelt und zeigt, dass eigentlich nichts in Ordnung ist, nur weil es anderen Frauen genau so erging und ganz plötzlich darüber gesprochen werden kann. Also auch hier haben wir wieder diesen Zwiespalt der Sprache, indem sie Trägerin der Wörter ist, aber nicht immer Überträgerin der Empfindung.
V.Z.: Da muss ich an eine Szene denken, als Ana in Ihrem Roman Liebe um Liebe wieder zurück in ihre Heimat geht und auf ihre Mutter trifft. Sie wäscht den Körper ihrer Mutter in der Badewanne, und indem beide Körper als verletzliche Körper mit einer gemeinsamen Ahnengeschichte aufeinandertreffen, findet plötzlich eine gefühlsmässige Versöhnung statt, die so in Worten nie stattfinden konnte. Das heißt, die physische Rückkehr in ihrer Heimat ermöglicht erst diese Versöhnung mit der Vergangenheit, und sie ermöglicht auch eine andere Zukunft für Ana.
D.R.: Genau. Die Rückkehr war symbolisch gemeint, wo man den Körper der Mutter als Menschen wieder annimmt, indem sich Ana selbst als Mensch wieder wahrnimmt. So trifft hier die christliche Liebesideologie auf die kommunistische Ideologie des Gleichheitsprinzips, was zusammen als Heilungsprozess gelesen werden kann. Ingeborg Bachmann sagt, dass wir im Leben an unsere Grenzen gehen, doch diese Grenzen waren uns schon vorgegeben. Nun eine eigene Lebensbasis daraus zu machen ist nicht leicht, aber durch die Rückkehr und Visualisierung dessen, wie man da hineingeraten ist, wird Ana erst deutlich, was sie von Zuhause mitgenommen hat in ihr eigenes Leben und in ihre Ehe mit Igor. Es sind gerade diese starren Konzepte von Weiblichkeit und Männlichkeit, die dieses Erbe von Unglück erschaffen und einen verfolgen.
V.Z.: Und gerade diese beginnen heute sich zu verändern, indem wir uns nun an Hochschulen mit selbstgewählten Pronomina ansprechen, um ein Bewusstsein des Spektrums von Sexualität und Rollenverteilungen aufzuzeigen.
D.R.: Oh ja, da war ich auch positiv überrascht. Es ist gerade sehr interessant mitzuverfolgen, wie die aktuelle Sprachdiskussion neue Welten schafft. Stell Dir vor, wenn es bald durch diverses Ansprechen keine geschlechtliche Unterdrückung mehr geben wird? Das war vor 20 Jahren noch kaum vorstellbar. Eine neue Art der Positionierung des menschlichen Wesens entwickelt sich gerade durch Eure Generation. Und ich träume davon, dass eines Tages alle als „gleich“ angesprochen werden, statt diese stetigen Formen der Machtausübung und Machtverteilung. Auch die Pandemie hat viele Richtungen angestossen, wie wir nun miteinander umgehen werden, indem wir aufmerksamer auf die Sprache achten werden.
V.Z.: Darauf bin ich ebenfalls sehr gespannt! Dann bedanke ich mich an dieser Stelle herzlich für das Interview, und für Ihre Zeit, Frau Rajčić.
D.R.: Ja, Gott sei Dank, mir tut die Schulter schon weh vom Zoomen. (lacht) Aber es hat mich ebenfalls sehr gefreut, mit Dir etwas persönlicher in die Thematiken einzusteigen. Alles Gute, und sicher bis bald.
Das Gespräch führte Vilsan Zulji.
Literatur:
Grond, Walter; Perrig, Severin; Fischer, Roland; Rüegger, Romy und Rajčić, Dragica (Hgg.). Wohin geht die Sprache?, Bern 2018.
Rajčić Holzner, Dragica, Glück, Luzern 2019.
Rajčić Holzner, Dragica, Liebe um Liebe, Berlin 2020.Bildquelle: Dragica Rajčić, © Johann Holzner.