Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

“Wer defi­niert Glück?” – ein Gespräch über Glück und Mehr­spra­chig­keit mit Dra­gica Rajčić

2021 war ein erfolg­rei­ches Jahr für Dra­gica Rajčić. Zuerst erschien ihr neuer Roman Liebe um Liebe bei Matthes & Seitz, dann wurde ihr der Schweizer Lite­ra­tur­preis für das Lang­ge­dicht Glück verliehen.

Dra­gica Rajčić wurde am 1959 in der Nähe von Split geboren. 1978 floh sie von Kroa­tien in die Schweiz, wo sie sich als Gast­ar­bei­terin auf­hielt. Nach ihrer Rück­kehr im Jahr 1988 musste sie 1991 auf­grund des Jugo­sla­wi­en­kriegs erneut zusammen mit ihren drei Kin­dern in die Schweiz flüchten. Seither lebt sie in Zürich und Inns­bruck, wo sie als Autorin und Dozentin für lite­ra­ri­sches Schreiben tätig ist. Dra­gica Rajčić hat bereits früh mit dem Schreiben auf Kroa­tisch begonnen. Seit ihrem ersten Auf­ent­halt in der Schweiz erschienen auch Gedichte, Kurz­prosa und Thea­ter­stücke auf Deutsch, in denen sie Fremd­heit auch fremd­sprach­lich ausdrückt.

Mit Dra­gica Rajčić hat Vilsan Zulji über Zoom gespro­chen. Eigent­lich sollte es ein Treffen in einem Café werden, aber auf­grund von Corona war das nicht mög­lich. Im Mit­tel­punkt des Gesprächs stand der neue Roman “Liebe um Liebe”: “Es ist ein Roman”, wie sie selbst sagt, “über Fluch und Gnade der Lite­ratur, eine Lie­bes­er­klä­rung an das kom­mende Selbst, ent­standen aus der Erneue­rung der Sprache durch Geduld des Fischens aus der Dunkelheit.”

 

Vilsan Zulji: Ich freue mich sehr, dass Sie heute für uns Zeit gefunden haben. 

 

Dra­gica Rajčić: Ja zum Glück, denn eigent­lich habe ich nicht so viel Zeit. (lacht) Beson­ders, wenn ich in Zürich bin, da ich dann kurz­fristig alle Ter­mine zusam­men­rü­cken muss, seien es die Über­set­zungen, Preise, Lesungen. Oder meine Kinder treffen, die hier leben. So ist ständig viel los, aber im Juni habe ich wieder Ruhe, weil ich dann wieder nach Kroa­tien zurückgehe.

 

V.Z.: Das heisst in Kroa­tien können Sie sich dann ganz auf sich und Ihre Texte konzentrieren? 

 

D.R.: Nein, gar nicht! Dieses ver­dammte Zoom kommt ja überall hin. (lacht) Früher hat man sich noch Briefe geschrieben, da hat es einen Monat lang bis zur Ant­wort gebraucht. Heute mit den Mails muss man inner­halb von Minuten ant­worten. Aber damals hat man es ja nicht anders gewusst.

 

V.Z.: Und heute wissen wir es anders bzw. besser, aber bestehen trotzdem auf einem stres­sigen Leben. Unglaublich!

 

D.R.: Genau. Dann komm mal lieber mit deinen Fragen, bevor die Zeit um ist. (lacht)

 

V.Z.: Sehr gerne! (Dra­gica Rajčić macht noch ein Erin­ne­rungs­foto von uns).

 

V.Z.: Seit den Halb­ge­dichten einer Gast­frau haben Sie bewusst (oder unbe­wusst) Deutsch mit “kroa­ti­schem Hin­ter­grund” gedichtet und so eigen­willig kunst­volle Brüche in der Stan­dard­sprache evo­ziert. In “Wohin geht die Sprache” heißt es in Ihrem Essay: “Ich schreibe Kroa­tisch durch Deutsch hin­durch, Deutsch durch Kroa­tisch, hätte ich nur die erste Sprache, wie käme ich aus diesem abge­la­gerten Schmerz hinaus?”. Wie kamen Sie eigent­lich auf die Idee, auf diese Weise zu dichten? 

 

D.R.: Die Idee war ein­fach da. Ich habe schon mit fünf Jahren ange­fangen zu dichten. Das Dichten war wie ein Spiel­zeug für mich. Also mit den wenigen Zutaten, die man zur Ver­fü­gung hat, etwas poe­tisch Sinn­volles aus­drü­cken zu können. Die Gedichte zur “Gast­frau” habe ich zuerst auf Kroa­tisch geschrieben und in Kroa­tien ver­öf­fent­licht, bevor ich sie dann 1986 ins Deut­sche sinn­gemäß über­tragen habe. Aber die Gedichte selbst sind aus reiner Spiel­freude ent­standen, denn die guten Ideen kommen nie wirk­lich geplant zustande, son­dern eher spontan.

 

V.Z.: Dann war die Rezep­tion in Kroa­tien eine andere als hier im deutsch­spra­chigen Raum? 

 

D.R.: Es kommt immer drauf an, für wel­ches Ziel­pu­blikum man schreibt. Wenn ich auf Kroa­tisch über Gast­ar­beiter geschrieben habe, dann habe ich den Ver­wandten, den ver­las­senen Ehe­frauen usw. geschrieben. Denn ihr Bild von Gast­ar­bei­tern war ein buntes, mit schön ange­zo­genen Klei­dern und guten Autos, viel Geld. Als ich in die Schweiz kam und selbst Gast­ar­bei­terin war, habe ich aber mit­er­lebt, dass diese Leute früh mor­gens um 5 Uhr zur Tram gehen, bis 19 Uhr abends arbeiten und noch Kinder aus der Krippe abholen. D.h. die Trug­bilder von Fröh­lich­keit und Reichtum, welche die Leute in Kroa­tien von Gast­ar­bei­tern pro­du­zierten, dienten ihnen als Selbst­be­stä­ti­gung von einem schönen Bild der Emi­gra­tion. Doch mit wel­chem Preis dieses Leben bezahlt wird, das war ihnen nicht bewusst, solange man es nicht auf der eigenen Haut erfuhr.

 

V.Z.: Und was ist mit dem deutsch­spra­chigen Publikum? 

 

D.R.: Wenn ich für das deut­sche Publikum schrieb, dann um Gast­ar­beiter für die Men­schen in der Schweiz sicht­barer zu machen, damit diese auch eine Stimme erhalten können, denn es hat sie nie­mand nach ihrem Alltag gefragt. Sie wurden eher kör­per­lich, als äus­ser­lich anwe­sende Arbei­ter­schicht erkannt, die das Gast­land, also die Schweiz, rei­cher machten, aber sie wurden nicht wirk­lich bewusst als Teil der Gesell­schaft wahr­ge­nommen. Und so hat sich dann auch die Bot­schaft meiner Gedichte ver­än­dert, indem ich die Per­spek­tive ummo­delte, wobei das Ziel­pu­blikum nicht mehr Ex-Jugo­sla­wien, son­dern die Schweiz wurde. So konnte ich mit einer anderen Sprache eine andere Wirk­lich­keit reflek­tieren, die dann plötz­lich auf sym­bo­li­scher Ebene an neuer Bedeu­tung gewann. Ich hatte zum Bei­spiel Schweizer Dichter*innen gelesen, etwa Kurt Marti oder Erika Bur­kart, und später den Öster­rei­cher Erich Fried, um mich auch poe­tisch an der deut­schen Sprache und deren Gedan­kengut her­an­zu­tasten und diese dann mit meiner kroa­ti­schen Dich­tung in Ver­bin­dung zu setzen. Mein Ziel war es vor allem, die Sprache aus­ein­an­der­zu­nehmen und so neue Guck­lö­cher zu ermög­li­chen. Jedoch hätte ich nie zu träumen gewagt, dass ich ein grosses Ziel­pu­blikum in der Schweiz mit meinen “Halb­ge­dichten” anspre­chen würde.

 

V.Z.: Das kenne ich gut. Ich komme selbst aus einer Gast­ar­bei­ter­fa­milie, und manchmal bekomme ich von den Leuten hier im deutsch­spra­chigen Raum wirk­lich das Gefühl, dass meine Eltern oder Ver­wandten auf­grund ihrer sozialen Schicht nicht imstande wären zu denken, weil sie still vor sich hin­ar­beiten. Doch oft liegt es an der noch feh­lenden Sprach­be­herr­schung und Unsi­cher­heit, die jemanden zurück­hält, sich zu äus­sern. Oder die Person ist ein­fach noch nicht in den Dia­logen geübt, wie sie im Gast­ar­bei­ter­land geführt werden. Mit Ihren Halb­ge­dichten haben Sie defi­nitiv Gastarbeiter*innen eine Stimme gegeben, von denen man zuvor noch wenig wusste, ausser, dass sie aus ver­schie­denen Gründen emi­griert sind. Und viel­leicht ist genau das auf Reso­nanz in der Schweiz gestossen, da ich das Publikum hier doch als ziem­lich offen und auf­ge­weckt erlebe, etwas Neues zu lernen. 

 

D.R.: Ich warte jetzt in der Schweiz auch auf tami­li­sche oder asia­ti­sche Lyrik. Dort ver­hält es sich im Prinzip ähn­lich. Erst die Gedanken ermög­li­chen den Dialog, d.h. die Sprache.

 

V.Z.: Apropos Sprache! Sie spre­chen in Ihrem Essay von einem “abge­la­gertem Schmerz” in Ihrer Dich­tung. Wie hängen Schmerz und Sprache eigent­lich zusammen? Ist der Schmerz auf Kroa­tisch ein anderer als ein deut­scher Schmerz?

 

D.R.: Das ist eine inter­es­sante Frage, vor allem im sozia­li­sierten Aus­druck von Schmerz; also wie man diesen sti­li­siert und ein­führt. Zum Bei­spiel sind in der ira­ni­schen Dich­tung die Männer Träger der Emo­tionen, und nicht alles, was Frauen zuge­schrieben wird, wird auch den Män­nern zuge­schrieben. So sind diese etwa schwan­kend oder weh­mütig, und ihre Gedichte dürfen aus­ufernd sein. Bei mir ist es so, dass ich aus einer münd­li­chen Tra­di­tion komme, die von der Gross­mutter sozia­li­siert war. Da wurden die Gefühle alle laut gesungen. Der Schmerz wohnte sozu­sagen mitten im Herzen, wes­halb diese Art von Lie­dern oder Gedichten (zum Bei­spiel sev­da­linke: Sev­da­linka heißt die tra­di­tio­nelle, ursprüng­lich städ­ti­sche Lie­bes­lyrik in Bos­nien und Her­ze­go­wina, A.d.R.) sehr dra­ma­tisch sind und die Tränen echt. Wenn ich aber im Sommer in Kroa­tien bin und wieder diese Lieder aus meiner Jugend höre, kann ich meinem Mann, der Öster­rei­cher ist, zwar die Lieder über­setzen, aber nicht die Emp­fin­dung dieser Wörter, da die Grenzen der Emp­fin­dungen zu Grenzen der Sprache werden. Es geht um die Art des Aus­drucks, die eine Kultur pflegt, und diese ima­gi­nierte Mensch­lich­keit, die sich etwa in Kroa­tien durch den Aus­druck der eigenen Gefühle mani­fes­tiert, welche uns dort zwar so bekannt und nah ist, aber dann doch schwer in Worte zu fassen ist. Ich merke das an meinen Kin­dern. Einer­seits will ich ihnen als Eltern­teil diese Nähe in Form von Liebe und Sorge wei­ter­geben, die mir aus Kroa­tien bekannt ist. Da sie aber auch hier in der Schweiz auf­ge­wachsen sind, fehlt einem als Eltern­teil eine gewisse andere Form des Aus­drucks, die man den Kin­dern mit­geben möchte, damit sie sich auch hier im deutsch­spra­chigen Raum zurecht­finden können.

V.Z.: Das kann ich gut ver­stehen. Meinen Eltern erging es nicht anders, als sie hier­her­ge­zogen sind. Noch heute emp­finden sie Schuld­ge­fühle, dass sie es hätten besser machen können, sei es in der Inte­gra­tion im Gast­land oder in der Auf­recht­erhal­tung der eigenen bal­ka­ni­schen Tra­di­tionen. Doch was ich span­nend finde ist, wie Sie sagen, dass sich kul­tu­relle Gefühle sprach­lich schwer über­setzen lassen. Sie ver­su­chen sich auch in ihren Gedichten an diese Gefühle her­an­zu­tasten, was im Deut­schen noch­mals eine spe­zi­elle Atmo­sphäre evo­ziert, da das Kroa­ti­sche ihnen inne­wohnt. Sie schreiben, um noch­mals Ihren Essay zu erwähnen, dass “die Sprache nicht dorthin reicht, wo die Emp­fin­dung ist”, näm­lich, wo die “dahin­ter­lie­gende Geschichte begraben liegt”. Des­wei­tern spre­chen Sie auch von den “unbe­rühr­baren Wörtern”. 

 

D.R.: Ja, aber dort ging es vor allem um Gene­ra­tionen-Trau­mata. Diese Rück­kehr zur Rea­lität nach dem Krieg, beson­ders in der 68er-Bewe­gung, um die Mauer des Schwei­gens und des Leids zu durch­bre­chen, war der Hunger nach Liebe. Es ging um etwas “Wahres”, was die Men­schen im Jetzt suchen und aus­drü­cken wollten. Da es damals diesen Themen jedoch an Boden­haf­tig­keit fehlte, die noch bis heute in der Nach­kriegs­li­te­ratur the­ma­ti­siert werden, trat statt­dessen die Sprach­lo­sig­keit auf­grund der schmerz­haften Ereig­nisse ein. Zum Bei­spiel wird im Balkan nicht über den schreck­li­chen Krieg von 1991 gespro­chen, der aktuell von Bedeu­tung wäre, son­dern über den Zweiten Welt­krieg, um die aktu­elle The­matik zu umgehen und keine neuen Wunden auf­zu­reißen. Statt­dessen habe ich von Lana Bastašić wäh­rend der “Tage Süd­ost­eu­ro­päi­scher Lite­ratur” im Lite­ra­tur­haus Zürich gehört, dass wir auf­hören sollten, über die Geschichten des Sozia­lismus zu spre­chen, da die jet­zige Gene­ra­tion sich mit dem Krieg aus­ein­an­der­setzt. Autor_innen, die aus ihrem Hei­mat­land weg­ge­gangen sind, so wie ich, reden jetzt in der Dia­spora von einem distan­zierten Stand­punkt über den Krieg, wobei die Leute, die noch inner­halb der Trümmer ihrer Heimat geblieben sind, Mühe haben, dieser Sprach­lo­sig­keit näher zu kommen, weil das Sich-Erin­nern immer mit Scham und der­glei­chen ver­bunden ist. Ich weiss noch, wie Bun­desrat Adolf Ogi 1991 zum Jugo­sla­wi­en­krieg sagte: “Men­sche tuen enand Kopf abschloh”. Doch wie kann ich jemandem den Kopf abschlagen, wenn eine Bombe auf meinem Kopf fällt? Männer kämpften mit­ein­ander, und Frauen und Kinder waren Kriegs­beute, mussten eva­ku­iert werden, was sich bis heute in den Kriegs­sze­na­rien nicht geän­dert hat. Ich denke, Du kennst ähn­liche Geschichten aus deinem Verwandtenkreis.

 

V.Z.: Gewiss. Jedoch herrscht, wie Sie es erwähnen, eine Sprach­lo­sig­keit. Ich kenne Leute, die in den Krieg gezogen sind, aber immer noch wie ein Grab schweigen, wes­halb ich nun Ihr Kon­zept der “unbe­rühr­baren Wörter” und der “dahin­ter­lie­genden Geschichte” besser nach­voll­ziehen kann. Bei uns wird auch nicht gerne dar­über gespro­chen, oder man ist schon früh geflüchtet und steht nicht wirk­lich in Berüh­rung mit sol­chen Kriegs­ge­schichten und Trau­mata. Doch manchmal, da hake ich nach, weil ich spüren kann, dass mehr dahin­ter­steckt und es kommt trotzdem sehr wenig dabei raus. Des­halb kenne ich meine Fami­li­en­ge­schichte auch nicht so gut. 

 

D.R.: Ich habe mir ange­wöhnt, dass wenn jemand nicht dar­über spre­chen möchte, ich nicht mehr nach­frage, weil viel­leicht eine Wahr­heit dahin­ter­steckt, die ich selbst nicht ertragen könnte. Gerade im Zweiten Welt­krieg ging es darum, einen Men­schen unter beson­deren Umständen zu töten, und wenn diese Grenze über­schritten wurde – sei es als Ver­tei­di­gung oder Befehl oder beson­ders in einem Zwei­kampf – dann sitzt das Trauma tief. Das ist was ganz anderes, als wenn wir Kri­mi­filme schauen, wo jemand erschossen und getötet wird. Doch wenn man im Krieg den Auf­trag vom Militär bekommt, eine Bombe abzu­werfen, ist man dann ein Mörder? Wenn man mit­ten­drin im Kriegs­feld ist und um einem herum geschossen wird, sodass man nicht mehr weiss, ob man sich ver­tei­digen oder davon­rennen soll, und dann bei der Heim­rück­kehr gefragt wird, ob man zwei Löffel Zucker im Kaffee haben möchte – ist das nicht fast schon iro­nisch, wie sehr diese Kriegs­er­leb­nisse ver­drängt werden wollen? Gerade von sol­chen Umständen han­delt auch mein Buch Glück, also von Men­schen, die Kinder bekommen und sie vor allem Mög­li­chen schützen wollen, aber nichts weiter als die Ver­brei­tung von Angst, Repres­sion und Gewalt kennen, weil sie selbst nicht anders erzogen wurden, geschweige denn eine Alter­na­tive in ihrem Leben gekannt haben. Des­halb sehe ich mich eher als eine Skep­ti­kerin der Wörter, wenn ich schreibe, weil immer mehr dahin­ter­steckt, als man zu wissen glaubt.

 

V.Z.: Dann lassen Sie uns nun über Ihr Buch spre­chen. Heimat steht für Sie analog zum Wort Glück. Wort­wört­lich gibt es jedoch nicht das her, was man sich unter Glück nor­ma­ler­weise vor­stellen würde. Für das gleich­na­mige Buch Glück als Lang­ge­dicht haben Sie dieses Jahr den Schweizer Lite­ra­tur­preis gewonnen. Dort the­ma­ti­sieren Sie die Rol­len­ver­tei­lung von Mann und Frau im Balkan, den patri­ar­chalen Macht­miss­brauch und das tole­rie­rende weib­liche Schweigen. Glück han­delt letzt­lich von der Flucht aus dem Eltern­haus, um Glück in der Liebe zu finden, nur um dann vor der eigenen Ehe wieder erneut zu flüchten. Wieso war es für Sie gerade wichtig, die The­matik von Gewalt, Flucht und Schmerz unter dem Titel Glück anzusprechen? 

 

D.R.: Ich habe in vielen Inter­views bereits gesagt, dass mein Buch Glück eine Ant­wort auf Inge­borg Bach­manns Roman Malina ist. Dort gibt es ein ganzes Kapitel über “Glück­lich mit Ivan”, und das Schreiben wird als Ver­such betrachtet, das Glück zu sor­tieren. Jedoch wird bei Ana Jagoda z.B. klar, dass sie trotz der Flucht aus ihrer Heimat das vor­ge­prägte Bild von Unglück mit sich nimmt. Auch wenn Ana Jagoda nicht mehr in ihrem Dorf lebt, da sie mit ihrem Ehe­mann Igor nach Chi­cago zieht und Glück erhofft, ist ihr schmerz­li­ches Dorf­leben trotzdem stets in oder mit ihr anwesend.

 

V.Z.: Und das Glück?

 

D.R.: Die Frage ist viel­mehr: Wer defi­niert Glück? Glück wächst, indem man geliebt wird. Auch Gewalt ent­steht nicht ein­fach so, son­dern ist als Aus­druck von Wut auf das Leben zu ver­stehen, wenn man zu wenig Liebe erfahren hat. Ein Mann muss bei­spiels­weise hart sein, was im Patri­ar­chat noch bis heute als Ideal gilt. Frauen wären dann viel­mehr dafür da, andere mit Liebe zu füt­tern und das Herz zu erwei­chen – aber sie selbst bekommen diese Liebe nicht. Statt­dessen flüchten die Männer vor ihren Frauen, nur um diese Härte von Männ­lich­keit anderswo aus­zu­leben, und erwarten das­selbe dann auch noch von ihren Söhnen, so wie das sozia­li­sierte Frau­en­bild von Müt­tern an die Töchter wei­ter­ge­geben wird. Dabei wird ver­gessen, wie solche Rol­len­muster dem eigenen Fami­li­en­glück im Weg stehen können; beson­ders die Gewalt­be­zie­hungen, die daraus resul­tieren. So kommt das Kin­der­schlagen als Erzie­hungs­me­thode hinzu, was in der Schweiz oder in Öster­reich vor 100 Jahren nicht anders gewesen ist. Das Pro­blem ist, dass die Art von Päd­agogik nie­manden gestört hat, weil man es so hin­ge­nommen hat und Liebe somit unbe­wusst zu einer Not­wen­dig­keit geworden ist. Ich weiss, in meiner Klasse wurden damals alle Kinder geschlagen, und die Kinder haben sich im Pau­senhof unter­ein­ander geschlagen, nur um dann vom Schul­di­rektor raus­ge­holt und geschlagen zu werden, damit sie andere nicht schlagen. Kann man sich so Lie­bes­glück erhoffen?

 

V.Z.: Also eigent­lich ein Lie­bes­schrei, nicht? Das erin­nert mich an eine Pas­sage in Glück, wo Sie den Lie­bes­schrei als eine «Zumu­tung» und «war­tende ima­gi­näre Liebe» beschreiben. Viel­leicht heisst auch des­halb ihr Nach­fol­ge­roman Liebe um Liebe. Sie schreiben aus­serdem in Glück: “Die Szene/es ist immer Krieg/ich will Frieden”. Die Fremd­heit im eigenen Herzen erör­tern Sie dort erschre­ckend real, sobald man als Leser*in mit der kon­tex­tu­ellen Gewalt ver­traut wird. Oft spielt die Prot­ago­nistin Ana Jagoda selbst mit Sui­zid­ge­danken, um allem ein Ende zu setzen. Sie befindet sich also immer wieder auf der dunklen, statt auf der hellen Seite ihres Glücks, was als Grenz­erfah­rung ihres “schwan­kenden Bewusst­seins” zu ver­stehen wäre, wenn Sie als Autorin in Ihrem Buch zwi­schen Para­dies­vor­stel­lungen und Rea­lität der Liebe unter­scheiden. Was bedeutet das für die Figur Ana Jagoda ins­ge­samt, keine Liebe zu kennen? 

 

D.R.: Der Kern des Buches ist auf der Bühne ver­ständ­li­cher, da ja Glück ursprüng­lich als Thea­ter­stück auf­ge­führt wurde. Dort wirft Ana Jagoda mit Papier­fetzen um sich. Sie erschreibt sich ihr Leben, aber erliest sich ein Ideal, indem sie sich in der Lite­ratur und im Schreiben eine leb­bare Ideo­logie ersucht. Und diese ist mit einem Ideal von Glück ver­bunden, das als Lie­besruf zu ver­stehen ist, der einem das Herz wieder erwei­chen sollte. Des­halb wollte ich ursprüng­lich mein Buch “Lie­bes­hunger” nennen, weil die Fan­tasie um Liebe uner­sätt­lich ist. Doch Ana gräbt sich dabei selbst eine Grube, indem sie weiss, dass sie dieses Ideal im echten Leben nicht auf­recht­erhalten kann, da sie selbst Liebe nicht von zuhause kannte. Genauso ver­hält es sich auch bei Igor, Ana Jagodas Ehe­mann, der Ana schlägt, weil ihm diese Rolle so mit­ge­geben wurde und ihm nichts als das Trinken blieb. Er greift zur Fla­sche, wäh­rend sie nach Stift und Papier sucht. Er weiß, dass sie ihn ver­lassen wird, weil sie ihn nie so lieben wird, wie er einst von seiner früh ver­stor­benen Mutter geliebt wurde, bevor er dann von seinem kriegs­trau­ma­ti­sierten Vater miss­han­delt wurde. Mit ihrer anfäng­li­chen Ver­liebt­heit glauben sowohl Ana als auch Igor, dass sie das Ideal der Liebe auf­recht­erhalten können in ihren Rollen als Frau und Mann. Doch seit ihrem Eltern­haus waren sie beide Opfer, mit der Unmög­lich­keit kon­fron­tiert, sich geschützt und geliebt zu fühlen, wes­halb sie beide später in ihrer Ehe sowohl Täter als auch Opfer sind.

 

V.Z.: Wie lässt sich diese Umkeh­rung denn gerade bei Ana Jagoda ver­stehen? Als Leser_in hat man das Gefühl, dass sie das Opfer sei.

 

D.R.: In Liebe um Liebe erfahren wir bei­spiels­weise, dass Ana Jagodas Ahnen­reihe von den eigenen Ver­wandten, also Neffen oder Brü­dern, miss­braucht wurde – jedoch mit Zustim­mung dieser Frauen. Und dass Ana ihr Kind abtreiben muss, ist ihre Schuld, weil sie sich von ihrem Cousin schwän­gern liess, es aber Igor nicht sagen darf. Ana hat also viel­mehr zu ver­bergen als wir eigent­lich wissen. Sie ist es, die im Roman schreibt, was sie gleich­zeitig zu einer unglaub­wür­digen Figur macht. Als Leser_innen gehen wir mit ihr, leiden mit ihr, doch wenn wir das von aussen betrachten, ist die Geschichte eine andere, da sowohl Ana als auch Igor mit­ein­ander korrespondieren.

 

V.Z.: Des­halb finde ich in Ihrem Roman Liebe um Liebe die hin­zu­ge­fügten Kapitel über das Rol­len­spiel so bedeu­tend, wenn Ana Jagoda sich wäh­rend ihrer The­rapie in ver­schie­dene Per­sonen ihres nahen Umfeldes psy­chisch hin­ein­zu­ver­setzen ver­sucht, um ihre Trau­mata zu ver­ar­beiten, was noch­mals ganz andere Per­spek­tiven auf alle Cha­rak­tere wirft. So meint Ana, Igor pflege die Vor­stel­lung, dass Ana ihn ver­achte, wie es sein Vater tat, und ihn für einen Idioten hält. Des­halb sei das Schweigen für Igor der beste Weg, den geborgten und nach­füh­lenden Worten Anas ent­ge­gen­zu­wirken, denn er wisse schon längst, dass sie ihn betrüge. Inter­es­sant ist aber hier, dass die Worte im Akt der Aus­sprache eine andere Rea­lität zu fixieren ver­su­chen, näm­lich Igors durch Anas Worte. Sie ent­scheidet dadurch, wie­viel Macht­spiel­raum sie Igor über­lässt und wie sie ihn darstellt. 

 

D.R.: Wenn Ana diese Rollen spielt, geht es beson­ders um die Wut, die hier bei ihr raus­kommt. Wenn es im christ­li­chen Gebot heißt, wir sollten die andere Wange hin­halten, wenn die eine Seite geohr­feigt wurde, heißt es dann, wenn Igor sie fast umge­bracht hat, soll er es noch­mals tun? Nein. In diesem Rol­len­spiel geht es viel­mehr darum, dass Ana selbst nicht in Ver­su­chung kommen sollte, Igor Glei­ches anzutun, und ihm in dieser Täter­schaft zur Kom­plizin wird. Sie hat also Angst vor ihrer eigenen Gewalt. Sich selbst zu töten ist bereits als Gewaltakt zu ver­stehen, und nun diese Wut auf Igor und auf ihren Vater, der sie eben­falls geschlagen hat, sowie auf Männer wie den Pfarrer Danilo, der sie als Schü­lerin miss­han­delte; all diese Wut wird ihr bewusst. Daraus ist defi­nitiv eine Stärke her­vor­zu­holen, doch letzt­lich sehe ich hier eine Angst des Allein­seins. Die bereits bestehenden Schuld­ge­fühle lassen sich eben nicht durch Täter­schaft beglei­chen, son­dern indem man beginnt, etwas zu bedauern und zu begreifen – vor allem, wenn es nicht mehr ver­än­derbar ist und in der Ver­gan­gen­heit liegt. Gerade Liebe erfindet sich immer neu durch meh­rere schmerz­liche Erfah­rungen hin­durch, weil man so erst merkt, was einem gut oder schlecht tut, und man nicht etwa auf ewig zusammen sein muss, bis dass der Tod uns scheidet.

 

V.Z.: In Glück erfahren wir aber auch, dass man manchmal nicht alle Frei­heiten als Mensch hat. So landet Ana nach der Bezie­hung mit Igor im “Women­irr­haus” – nicht aber, weil sie es wollte, son­dern weil es ihre letzte Option war. Doch lernt sie dort gerade durch Gleich­ge­sinnte zu ver­stehen, wie selbst­ver­ständ­lich es sein kann, über Gewalt und alles, was zuvor ver­schwiegen werden musste, offen zu spre­chen. Es wird eine neue Inti­mität geschaffen. Was bedeutet diese Art von Selbst­ver­ständ­lich­keit für Frauen heute und für das weib­liche schrei­bende Ich?

 

D.R.: Schon allein damit, dass ich das Wort “Women­irr­haus” benutze, wollte ich andeuten, dass die Frauen nicht in einem Irren­haus leben, son­dern die Frauen aus einer “irren” Welt dort hin­kommen, um sie ein­zu­schliessen und zu schützen. Und dieses Umkippen des Hor­rors in eine All­täg­lich­keit ist eigent­lich sehr erschre­ckend. Denn, indem die Frauen dort lernen, mit ihren Erleb­nissen umzu­gehen, findet gleich­zeitig eine Mil­de­rung und Anpas­sung statt. Die Los­lö­sung der Worte von der Emo­tion geschieht hier also ganz selbst­ver­ständ­lich, um ihre Emp­fin­dungen “normal” zu machen. So normal also, dass wir heute alle über Gewalt nüch­tern spre­chen und in den Medien berichten können. Auch wenn man die pro­ble­ma­ti­schen Erleb­nisse in so einem Frau­en­haus anspricht – da sich die Frauen in der Rea­lität für den Täter geschämt haben, und sich noch bis heute in einer män­ner­do­mi­nierten Welt fremd­schämen sollten – so ist es nichts weiter als eine schi­zo­phrene Sprache, die sich ent­wi­ckelt und zeigt, dass eigent­lich nichts in Ord­nung ist, nur weil es anderen Frauen genau so erging und ganz plötz­lich dar­über gespro­chen werden kann. Also auch hier haben wir wieder diesen Zwie­spalt der Sprache, indem sie Trä­gerin der Wörter ist, aber nicht immer Über­trä­gerin der Empfindung.

 

V.Z.: Da muss ich an eine Szene denken, als Ana in Ihrem Roman Liebe um Liebe wieder zurück in ihre Heimat geht und auf ihre Mutter trifft. Sie wäscht den Körper ihrer Mutter in der Bade­wanne, und indem beide Körper als ver­letz­liche Körper mit einer gemein­samen Ahnen­ge­schichte auf­ein­an­der­treffen, findet plötz­lich eine gefühls­mäs­sige Ver­söh­nung statt, die so in Worten nie statt­finden konnte. Das heißt, die phy­si­sche Rück­kehr in ihrer Heimat ermög­licht erst diese Ver­söh­nung mit der Ver­gan­gen­heit, und sie ermög­licht auch eine andere Zukunft für Ana. 

 

D.R.: Genau. Die Rück­kehr war sym­bo­lisch gemeint, wo man den Körper der Mutter als Men­schen wieder annimmt, indem sich Ana selbst als Mensch wieder wahr­nimmt. So trifft hier die christ­liche Lie­bes­ideo­logie auf die kom­mu­nis­ti­sche Ideo­logie des Gleich­heits­prin­zips, was zusammen als Hei­lungs­pro­zess gelesen werden kann. Inge­borg Bach­mann sagt, dass wir im Leben an unsere Grenzen gehen, doch diese Grenzen waren uns schon vor­ge­geben. Nun eine eigene Lebens­basis daraus zu machen ist nicht leicht, aber durch die Rück­kehr und Visua­li­sie­rung dessen, wie man da hin­ein­ge­raten ist, wird Ana erst deut­lich, was sie von Zuhause mit­ge­nommen hat in ihr eigenes Leben und in ihre Ehe mit Igor. Es sind gerade diese starren Kon­zepte von Weib­lich­keit und Männ­lich­keit, die dieses Erbe von Unglück erschaffen und einen verfolgen.

 

V.Z.: Und gerade diese beginnen heute sich zu ver­än­dern, indem wir uns nun an Hoch­schulen mit selbst­ge­wählten Pro­no­mina anspre­chen, um ein Bewusst­sein des Spek­trums von Sexua­lität und Rol­len­ver­tei­lungen aufzuzeigen. 

 

D.R.: Oh ja, da war ich auch positiv über­rascht. Es ist gerade sehr inter­es­sant mit­zu­ver­folgen, wie die aktu­elle Sprach­dis­kus­sion neue Welten schafft. Stell Dir vor, wenn es bald durch diverses Anspre­chen keine geschlecht­liche Unter­drü­ckung mehr geben wird? Das war vor 20 Jahren noch kaum vor­stellbar. Eine neue Art der Posi­tio­nie­rung des mensch­li­chen Wesens ent­wi­ckelt sich gerade durch Eure Gene­ra­tion. Und ich träume davon, dass eines Tages alle als “gleich” ange­spro­chen werden, statt diese ste­tigen Formen der Macht­aus­übung und Macht­ver­tei­lung. Auch die Pan­demie hat viele Rich­tungen ange­stossen, wie wir nun mit­ein­ander umgehen werden, indem wir auf­merk­samer auf die Sprache achten werden.

 

V.Z.: Darauf bin ich eben­falls sehr gespannt! Dann bedanke ich mich an dieser Stelle herz­lich für das Inter­view, und für Ihre Zeit, Frau Rajčić.

 

D.R.: Ja, Gott sei Dank, mir tut die Schulter schon weh vom Zoomen. (lacht) Aber es hat mich eben­falls sehr gefreut, mit Dir etwas per­sön­li­cher in die The­ma­tiken ein­zu­steigen. Alles Gute, und sicher bis bald.

 

Das Gespräch führte Vilsan Zulji.

 

Lite­ratur:

Grond, Walter; Perrig, Severin; Fischer, Roland; Rüegger, Romy und Rajčić, Dra­gica (Hgg.). Wohin geht die Sprache?, Bern 2018.

Rajčić Holzner, Dra­gica, Glück, Luzern 2019.

Rajčić Holzner, Dra­gica, Liebe um Liebe, Berlin 2020.

Bild­quelle: Dra­gica Rajčić, © Johann Holzner.