Der Zerfall des Atoms – textueller Suizid eines Nihilisten auf Gottessuche

Raspad atoma (dt. Der Zerfall des Atoms) – hinter diesem Titel verbirgt sich ein Stück russischer Exilliteratur, das hierzulande bisher ebenso unbekannt geblieben ist, wie dessen Autor. Es handelt sich um Georgij Vladimirovič Ivanov, einen Petrograder Lyriker, der vor seinem Eintritt in die akmeistische ‚Dichterzunft‘ den Ego-Futuristen nahestand, und 1922 wie viele andere Mitglieder der russischen Intelligenzija infolge des Bürgerkriegs sein Heimatland verließ. Im Pariser Exil als erfolgloser Dichter ein ärmliches Dasein fristend, zunehmend in Depression und Alkoholismus versunken, verfasste Ivanov 1937 das besagte Werk, das seinen eigenen geistigen Verfall widerzuspiegeln scheint. Tiefer Zynismus und Lebensekel angesichts der „unmenschlichen Anmut und beseelten Grässlichkeit der Welt“, abgelöst von trübseligem Schwelgen in lichten und schmerzvollen Erinnerungen an eine vergangene Liebe; infantil-märchenhafte Tiergeschichten neben fieberhaften Vergewaltigungs- und Mordgelüsten; Fragen nach der Daseinsberechtigung von Kunst und Literatur sowie voyeuristische Schilderungen von Szenen in Pariser Pissoirs – all dies und einiges mehr fügt sich zusammen zu einem verstörend-faszinierenden Panoptikum.

In Form eines geradezu bekenntnishaften Monologs, dessen Duktus an Gogol’s Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen und Dostoevskijs Aufzeichnungen aus dem Kellerloch erinnert, enthüllt der Erzähler die fatale Widersprüchlichkeit menschlicher Existenz in einer von Entfremdung und Sinnverlust heimgesuchten Welt. Wenngleich er die Entität einer ‚ewigen Wahrheit‘ keinesfalls anzweifelt, verneint er nicht nur die Möglichkeit einer wahrhaftigen Abbildung der Realität durch Literatur und Fotografie, sondern darüber hinaus die Verlässlichkeit der Realität schlechthin. Die damit verbundene Unsicherheit gegenüber der eigenen subjektiven Wahrnehmung äußert sich in einer Gleichzeitigkeit gegensätzlicher Wirklichkeiten. So überlagern sich innerhalb der Narration oftmals verschiedene zeitliche Rahmen, Traum- und Alltagserleben, als auch real-historische und fiktive Ereignisse. Dieses vom Dichter selbst zeitlebens als „Talent des doppelten Sehens“ bezeichnete Prinzip wird ebenso in Ivanovs später Lyrik ein zentrales Motiv bilden. Zudem lässt sich jener janusköpfige Blick auf die Wirklichkeit vor einem wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund betrachten. Infolge bahnbrechender Erkenntnisse innerhalb der Quantentheorie sieht sich die Physik in den 1930er Jahren vor das Problem gestellt, dass in einem mikrophysikalischen System Phänomene gemessen werden können, die auf die Makrowelt übertragen undenkbar sind. Die paradoxe Einsicht, dass den Atomen sowohl eine Teilchen- als auch eine Welleneigenschaft innewohne, dass die kleinsten Bausteine der Materie im Zerfall begriffen seien, führt zu einem radikalen Wandel im damaligen Realitätsverständnis.

Durch das Verwirrspiel widersprüchlicher Wahrnehmungen täuscht Ivanov äußerst raffiniert darüber hinweg, dass sein Werk, welches er selbst als „lyrisches Prosa-Poem“ bezeichnet, in seiner Komposition sehr wohl auf Gesetzmäßigkeiten beruht, die aufgrund ihrer Komplexität erst bei genauerer Lektüre augenfällig werden. Obgleich nicht metrisch organisiert, lässt der Text doch einige lyrische Strukturen erkennen. Auch dominiert hinsichtlich der Personen eine für die Lyrik charakteristische Polysemantik. So wird das ‚Du‘, dessen Abwesenheit für den Erzähler das Drama seines ‚Ichs‘ darstellt, in verschiedener Gestalt heraufbeschworen – in Gestalt der ehemaligen Geliebten, der mythologischen Figur der Psyche, der eines toten vergewaltigten Mädchens, in Gestalt der Kunst, des Lebens, Gottes oder des Sinns der Existenz.

Ein besonderes Merkmal der ideellen und emotionalen ‚Orchestrierung‘ des Erzählens ist wiederum das dynamische Wechselspiel verschiedener Textmotive, eine  Technik, die an ein musikalisches Verfahren der Symphonik, die so genannte ‚motivisch-thematische Arbeit‘ erinnert: Auf die dramatische Auseinandersetzung zweier kontrastierender Motive folgt deren Ineinanderfließen, aus dem sich schließlich ein gänzlich neues Motiv formt.

Ähnliches vollzieht sich, wenn Ivanov in Form von Zitaten und Paraphrasierungen Reminiszenzen an Werke unterschiedlicher literarischer Epochen gegeneinander laufen lässt:

„Es scheint ihr (der Seele), als verdorre nach und nach alles, was ihr einst Leben spendete. Es scheint ihr, als verdorre sie selbst. Sie ist unfähig zu schweigen und hat verlernt zu sprechen. Und krampfgeschüttelt blökt sie, wie eine Taubstumme, die anstößige Fratzen schneidet. ‚Georgiens Hügel ruh’n in schummeriger Nacht‘ – will sie klangvoll, feierlich aussprechen, dem Schöpfer und sich selbst zum Preise. Und mit einem Widerwillen, der dem Entzücken gleicht, murmelt sie fluchend hinter dem metaphysischen Gitterzaun irgendein ,dyr bul ščyl ubešščur‘.“

Zwei russische Dichter, deren literarisches Wirken zweihundert Jahre trennen, erscheinen hier als Vertreter konträrer philosophisch-ästhetischer Konzeptionen: Puškin als Symbol für dichterische Harmonie und Anmut auf der unzugänglichen Seite des ‚metaphysischen Gitterzauns‘, auf der anderen Kručenych, Sinnbild für das ‚transmentale Chaos‘ der futuristischen ‚Antikunst‘.

Die Entstehungszeit des Werks fällt in ein Jahr, das die Welt mit angehaltenem Atem erlebt.: 1937. In der Sowjetunion hat der Terror seinen Höhepunkt erreicht, in Europa beobachtet man mit großer Besorgnis die weltpolitische Entwicklung. Immer deutlicher werden die Anzeichen für einen neuen Krieg von unabsehbarem Ausmaß. Ebenso wie die sich gegenüber stehenden Motive des Lebens und des Traums sind im Bewusstsein des Erzählers „die Geschichte (s)einer Seele und die Geschichte der Welt“ untrennbar ineinander verflochten, wodurch das Empfinden der Absurdität von der Ebene der eigenen Existenz auf eine universale Ebene transponiert wird. Der aus diesem Empfinden gespeiste Lebensekel geht beim Erzähler immer wieder in ein desillusioniertes Sich-Aufbäumen gegen die „alles verschlingende Grässlichkeit der Welt“ über, eine Haltung, die eine Nähe zu existenzialistischen Konzeptionen erkennen lässt. Nicht umsonst bezeichnet der befreundete Schriftsteller Roman Gul’ Ivanov als „den einzigen existenzialistischen Dichter unserer Literatur“. In Bezug auf den ‚Lebensekel‘ fällt besonders eine thematische Parallele zu Jean-Paul Sartres Roman La nausée ins Auge. Im Gegensatz zu Sartres Protagonist Antoine Roquentin glaubt Ivanovs lyrisches Ich allerdings nicht an einen „Trost durch erdichtete Schönheit“, sondern reagiert mit zerstörerischem Zynismus, indem er – auch wenn sich dies lediglich in seiner Imagination abzuspielen scheint – einen besinnungslosen Mord an einer Pariser Prostituierten begeht, und schließlich die monströse Logik des Absurden an ihre absolute Grenze führt: Der Selbstmord wird zum einzigen Mittel, um der Widersprüchlichkeit des menschlichen Dahindämmerns zu entkommen.

Ebenjene Widersprüchlichkeit scheint sich auch im literarischen Schaffen des Autors selbst niederzuschlagen: Während er in Raspad atoma die moralischen und philosophischen Suchen einer humanistischen Tradition der russischen Literatur fortführt, bricht er gleichzeitig mit deren Illusionen und den „verwelkten Ideen der Welt“. Trotz seines unerbittlichen Nihilismus empfindet Ivanov seinen Schmerz als einen „Teil des göttlichen Wesens“, und unternimmt den verzweifelten Versuch „durch das Chaos des Widerspruchs zur ewigen Wahrheit vorzudringen, wenn auch nur zu deren blassem Abglanz.“ In einem Brief an Vladimir Markov aus dem Jahre 1957 schreibt Ivanov gar, er betrachte den Inhalt seines Poems als zutiefst religiös.

Interessanterweise wird Raspad atoma im selben Jahr wie Sartres Roman publiziert, nämlich 1938, wenn auch in einer erheblich geringeren Auflage von nur knapp 200 Exemplaren. In russischen Exilschriftstellerkreisen ruft Ivanovs Prosa-Poem zudem äußerst gegensätzliche Reaktionen hervor. Nur wenige zeitgenössische Kritiker bemerken seine literarische Originalität und Bedeutsamkeit, wie etwa das symbolistische ‚Dreiergespann‘ Merežkovskij – Gippius – Zlobin. So bezeichnet Merežkovskij Ivanovs Werk als „genial“, Gippius betont, dieses wolle keine Literatur sein, mehr noch gehe es über die Grenzen der Literatur hinaus, und Zlobin konstatiert, Raspad atoma sei „sehr zeitgenössisch und für uns, die Menschen der 30er Jahre unseres Jahrhunderts, unendlich wichtig.“
Mit besonderer Geringschätzung hingegen reagiert ein gewisser Vladimir Sirin (alias Nabokov), der das Werk aufgrund seiner „dilettantischen Gottessuche und banalen Pissoirbeschreibungen“ als „schlichtweg schlecht“ bezeichnet, ja abschätzig hinzufügt, „Ivanov hätte sich besser niemals an der Prosa versuchen sollen“. Ähnlich negativ fällt auch das Urteil des Schriftstellers Vladislav Chodasevič aus, dessen vernichtende Kritik unter den emigrierten Schriftstellern letztlich eine „stille Übereinkunft des Schweigens“ zur Folge hat.

Dieses Schweigen soll denn auch mehr als ein halbes Jahrhundert andauern. Erst 1994 wird Raspad atoma gemeinsam mit Ivanovs Gesamtwerk in Russland veröffentlicht. Die einzige Übersetzung in eine andere europäische Sprache erfolgt im Jahre 2004 durch den italienischen Slawisten S. Guagnelli (La disintegrazione dell’atomo). 2005 erscheint auf dem russischen Fernsehsender Telekanal Kul’tura ein dokumentarischer Beitrag von Il’ja Lajner, der sich erstmals filmisch dem Leben und dichterischen Wirken Ivanovs widmet, und dessen Titel – Georgij Ivanov. Raspad atoma – sich auf das nämliche Werk bezieht.

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Buchcover U-Faktorija, 2007.

Nicht nur um Raspad atoma in einem Zeitgeist-Kontext zu verorten, sondern vor allem, um den kaum bemerkten genialen Coup zu begreifen, der sich in Ivanovs umstrittenen Werk verbirgt, lohnt es, folgenden Hintergrund zu betrachten:
1924 diagnostiziert der französische Literaturkritiker Marcel Arland eine „neue Krankheit des Jahrhunderts“, an welcher der Nachkriegsintellektuelle leide, eine Krankheit, die von Paul Valery bereits 1919 als Phänomen des in einer geistigen Krise befindlichen „europäischen Hamlets“ benannt worden ist. Die Glaubwürdigkeit einer Literatur, die Anspruch auf eine wahrhaftige Verbindung zur Wirklichkeit erhebt, scheint in Frage gestellt. Angesichts dieser Sinnkrise entwickeln in den frühen 30er Jahren Georgij Adamovič und andere Schriftsteller der ‚Pariser Note‘ ein poetologisches Konzept, welches ‚literarische Fiktion‘ durch eine Schreibweise ersetzt, die das Verfassen eines in seiner Subjektivität evidenten ‚menschlichen Schriftstücks‘ ermöglichen soll. Dieses Konzept, das an die bereits in den 70er Jahren des 19. Jahrhundert von Edmond de Goncourt geprägte Idee des ‚document humain‘ anknüpft, fordert eine Literatur, die auf traditionelle ästhetische Ideale zugunsten einer ehrlichen Reflektion der modernen conditio humana verzichtet. Der deutliche Akzent auf Authentizität bedingt dabei eine Unterordnung formaler unter inhaltliche Aspekte, und rechtfertigt sowohl ‚Unzulänglichkeiten‘ auf der stilistischen Ebene, als auch einen beizeiten ‚anti-literarischen‘ Sprachgebrauch, der vor obszönen und fäkalen Ausdrücken nicht zurückschreckt. Eine „zuverlässige literarische Form“ soll sich zudem ausschließlich aus einer Beschreibung dessen konstituieren, was innerhalb der Sphäre des vom Autor selbst Gesehenen, Wahrgenommenen, Erlebten liege. Hinter dieser subjektiv-dokumentarischen Motivation steht das Bedürfnis, den Eindruck der Künstlichkeit eines konstruierten Textes zu vermeiden, und durch eine Annäherung literarischer Verfahren an das Wesen der Fotografie einen Effekt von ‚Wahrhaftigkeit zu erreichen.

Ebendieser Diskurs ist es, der sich in Raspad atoma niederschlägt. Da Ivanov, während er vermeintlich an poetologischen Verfahren des ‚menschlichen Schriftstücks‘ im Sinne der ‚Pariser Note‘ festhält, das vom nämlichen Konzept angestrebte Ideal der ‚Wahrhaftigkeit‘ vehement negiert, ist der Duktus in Raspad atoma als der eines ‚agent provocateur‘ zu sehen. Indem Ivanov darüber hinaus jene Puškin’sche Ästhetik, der er sich vormals verschrieben hatte, in den Schmutz zieht, gibt er sich selbst, sowie seinem gesamten vorherigen literarischen Schaffen buchstäblich ‚die Kugel‘. In Ivanovs Erzähler manifestiert sich der geistige Verfall eines ‚europäischen Hamlets‘, der angesichts des inneren Widerspruchs der Idee einer ‚wahrhaftigen Literatur‘ in teuflisches Gelächter ausbricht.

 

Иванов, Георгий: Собрание сочинений в 3  томах. Том 2: проза. Из-во: „Согласие“.  Москва, 1994.
Dieses Buch wird mittlerweile nicht mehr für den Buchhandel gedruckt, einzelne Drucke können beim Verlag bestellt werden.

Иванов, Георгий: Стихи, Проза. Из-во: „У- Фактория“. Серия: „Русская поэзия“.  Екатеринбург, 2007.

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