

Durchsichtigkeit
Zu Marek Bieńczyks neuem Essay
Es ist vor allen Dingen eine Reise durch die Moderne. In ihr treten, so Bieńczyk, zwei Kräfte zum Duell an: die Rousseau’sche Idee der „Durchsichtigkeit menschlicher Herzen“, einer durch nichts verstellten Kommunikation der Individuen, und der pessimistische Reaktionismus, der an der Zwielichtigkeit, Uneindeutigkeit, bedrohlicher Dunkelheit der Individuen festhält und jede Utopie des gesellschaftlichen Fortschritts im Zeichen der gegenseitigen Annäherung und Offenlegung der Interessen mit Erfolg demontiert. Für Bieńczyk gilt Rousseau als derjenige, der das Phantasma der Transparenz mit seinen emphatischen Schlagworten von der Reinheit der Herzen, Durchsichtigkeit der Seelen, der natürlichen Unschuld (die Anderen sind schuld, nicht der, der einen unverstellten Zugang zu sich selbst hat!) geweckt hat. Trotz der Demontage durch die Psychoanalyse etwa, hat dieses Phantasma in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen imaginative Kraft und geheime Anziehung behalten. Dass ausgerechnet ein polnischer Autor sich für die Rousseau’sche Utopie der Transparenz, d.h. eines unverstellten Gesprächs in der Gesellschaft, erwärmt, lässt sich wahrscheinlich mit dem Hinweis erklären, dass in Polen immer noch die Erinnerung an den „Polnischen August“, an den ersten Sieg der Solidarność-Bewegung im August 1980 fortlebt. Diese kurze Zeit des Aufbruchs wird mit Recht „Karneval der Freiheit“ genannt. Was sie kennzeichnete, war das Aufscheinen einer Utopie, der Idee einer gesellschaftlichen Reform im Zeichen der Transparenz. Bieńczyk deutet diese Interpretation nur sehr verhalten an.
Innerhalb der neuen polnischen Essayistik nimmt Bieńczyk einen besonderen Platz ein. Er ist Romanist, Kenner und Übersetzer französischer Literatur und – wie der schweizerische Literaturwissenschaftler Jean Starobinski – an der Erforschung der Geschichte der Melancholie interessiert. Fast alle seine Publikationen, darunter zwei Romane, kreisen mehr oder weniger um das Thema der Melancholie, die er als eigene Form der existentiellen Erfahrung versteht. Diese Erfahrung braucht Bilder, sie ist imaginativ. Man könnte Bieńczyk daher als einen Phänomenologen der existentiellen Imagination bezeichnen. Besonders die Chiffren und Bilder der Melancholie haben es ihm angetan. Er sammelt sie mit großer Hingabe und versucht sie als Phantasmen zu lesen. Den Auftakt seiner Spurensuche bildet vor allem die 1990 erschienene Monographie zu Zygmunt Krasiński (Der schwarze Mann. Krasiński angesichts des Todes, Warszawa 1990), dessen Leben er als obsessiv melancholische Erfahrung der Existenz beschreibt. Die Todessehnsucht Krasińskis ist für Bieńczyk der Ausdruck einer Selbst- und Weltwahrnehmung, die das Leben als Scheitern erfährt.
Dem Schwarzen Mann folgte die Essaysammlung unter dem Titel Melancholie. Von denen, die das Verlorene nie wiederfinden (Melancholia. O tych, co nigdy nie odnajdą straty, 1998), sowie eine weitere Essaysammlung: Dürers Augen. Über die romantische Melancholie (2002). Bieńczyk publizierte auch zwei Romane (Terminal, 1998 [dt. Terminal, 2000.], und Tworki, 1999.), in denen die Erfahrungen der Leere, des Verlustes und des Verschwindens einen roten Faden bilden. Die Romanfiguren selbst sind eher postmoderne Erzählgesten, Muster des Individuellen oder der Sprache. Das Schwinden und Verschwinden eines Menschen fasziniert Bieńczyk schon allein deshalb, weil dieser selbst in der zurückbleibenden Leere Spuren hinterlässt. Mit diesem Bild endet auch sein neuestes Buch Przezroczystość.
Bieńczyk bewegt sich auf einem nicht klar abgesteckten Gebiet. Zur Durchsichtigkeit führen schier unendlich viele Wege. Man kann sich schnell verlaufen. Der Autor unternimmt eine große Anstrengung, damit ihm das nicht passiert. Seine Geschichte der Durchsichtigkeit betrifft immerhin die kollektive Imagination. Und die bringt häufig Chimären hervor und lässt sich nicht systematisieren. Bieńczyks Streifzug durch die Moderne befasst sich mit Bildern und liebäugelt mit der Fiktion. Es wäre verkehrt, die Erzählung als Geistesgeschichte zu lesen, obwohl sie sich diesen Anstrich gibt. Um die existenzielle Dimension dessen zu zeigen, was er Durchsichtigkeit nennt, ist der Erzähler immer auch auf individuelle Einbildungskraft angewiesen. Vor dem falschen Pathos der Geschichte rettet er sich – vielleicht – in den Pathos individueller existentieller Erfahrung, die zwar in ihrer universellen Struktur zur Mitteilung drängt, gleichzeitig aber immer nur in der Einsamkeit stattfindet. Durchsichtigkeit ist für ihn nicht nur eine seltsam unbestimmte Eigenschaft des Seins und der Dinge oder eine Utopie, sondern „ein Motiv, eine Wahrheit, eine Illusion, ein existenzielles Hobby, eine Halt bietende Stütze“ – nicht nur für die eigene Existenz, sondern auch für einen Text. Der Text von Bieńczyk ist ein vibrierendes, vielleicht auch durchsichtiges und zuweilen auch hysterisches Gewebe (wie ein sich zusammenziehender Körper, der seine Existenz als Verlust der Transparenz erlebt), das die vielen Facetten des Phantasmas, sei es in der Literatur, der Philosophie, Architektur, den Bildenden Künsten, oder Musik zu Tage fördert und in sich „einsaugt“. Die Spurensuche führt an keiner Stelle zu einer Kategorie oder zu einem Begriff. Durchsichtigkeit soll ein Traum, ein Begehren bleiben, eine imaginative Kraft, die sich nirgendwo zu einem Ding verdichten sollte. Das ist einerseits eine Schwierigkeit des Textes, aber sie macht gleichzeitig seine utopische Blickrichtung aus.
Der Erzähler schwärmt für die Lichtflecke auf den Bildern Edward Hoppers, für Aquarien, für Kapitän Nemos Unterseeboot, das mit gleichsam großen gläsernen Augen ein ungeheuer weites Panorama überblickt. Er schwärmt für den gläsernen Klang des Bandoneons, für die zeichenlose Sprache der Herzen, von der Krasiński träumte, für den durchsichtigen einzigen Satz, der alles sagt und seine Spur gänzlich verwischt, für den namenlos begrabenen Walter Benjamin, auf dessen Spuren er das verschwindend Geringe sucht. Er bewegt sich dabei gerne am Rande des Kitsches, manche Metapher steht ungeschützt da, wie das „kristallene Herz“ des Jean Jacques Rousseau.
Er durchleuchtet die ambivalenten Erscheinungen des europäischen Phantasmas: die utopische Glasarchitektur des Phantasten Paul Scheerbart, den Crystal Palace der Londoner Weltausstellung als Beispiel für Visionen eines lichtdurchfluteten, leichten und transparenten Lebens in den Städten. Gleichzeitig ist der Crystal Palace ein Modell des kapitalistischen Innenraums, der das Außen als Ware und Behaglichkeit gefiltert reinlässt, um den konsumierenden Insassen an seinen festen Ort zu binden. Schließlich erinnert er auch an die verwirklichte permanente Ingerenz einer unsichtbar gewordenen Macht in alle Lebensbereiche – wie in Foucaults Überwachen und Strafen. Sie wäre nicht möglich ohne die Idee der Durchsichtigkeit. Auch das gegenwärtige politische Spiel mit der Transparenz in den westlichen Demokratien passt in die Reihe. Der französische Ausdruck jouer la transparence verrät unfreiwillig die doppelte Aufgabe durchsichtiger Politik: nicht nur auf Transparenz – in Abgrenzung zum politischen Gegner – setzen, sondern sie geschickt spielen. Überall dort, wo am Rand neue verdeckte Bereiche der Macht entstehen.
Bieńczyks Buch hat ein verstecktes Motto. Es ist nicht ein Satz, sondern ein ganzer Text und eine ‘eingefrorene’ Szene. Der Erzähler zitiert einen längeren Abschnitt aus dem berühmten letzten Teil der Dubliners von James Joyce, der die Überschrift The dead trägt. In der pathetischen Schlussszene schaut Gabriel durch das Fenster in die Nacht hinaus und denkt, während er den rieselnden Schnee betrachtet, über das Vergehen nach. Nein, er ist vom Vergehen ergriffen. Seine Vision des Endes, so heißt es dort, betrifft die Lebenden und die Toten zugleich und versammelt sie gewissermaßen in einer Dimension. Diejenigen, die sind, werden bald nicht mehr sein, und die, die waren, sind als Schatten anwesend. Der in die Winternacht hinausschauende Gabriel ist sein Bruder „im Sehen“, bekennt der Erzähler. Die existentielle Erfahrung des Vergehens ist ihnen beiden gemeinsam, und sie schauen in die gleiche Richtung: in die weiße, klare und kalte Struktur der Zeit, in der einzelne Existenzen ihre Konturen verlieren und in die „reine und ungetrübte Gestalt des Seins“ eingehen. Alle Vorstellungen des Geisterhaften und Durchsichtigen haben vielleicht mit dieser Hypostasierung des Seins zu tun. Ziehen wir dem Seienden alles Materielle ab, so bleibt eben nur diese durchsichtige „Substanz“ übrig, die doch in der Imagination mehr ist als reine Dauer oder bloßes Vorhandensein. Für Bieńczyk ist das Durchsichtige also die ephemere Form der existenziellen Erfahrung, die durch den Sehenden, durch dessen Blick wohl am besten versinnbildlicht wird.
Der „Zeuge der Durchsichtigkeit“, wie der Erzähler den Protagonisten aus The dead apostrophiert, ist zugleich ein Bild für die Melancholie. Damit knüpft Bieńczyk an seine andere, schon bekannte Obsession an. Der Versuch über die Durchsichtigkeit ist eine Erweiterung und Vervollständigung seiner bisherigen Arbeiten zur „Theorie“ der Melancholie. Sie bietet einen zuweilen naiv-hoffnungsvollen Raum für diejenigen, „die das Verlorene nie wiederfinden“.
Marek Bieńczyk: Przezroczystość (Durchsichtigkeit). Znak. Kraków 2007.
Der schwarze Mann. Krasiński angesichts des Todes (Czarny człowiek. Zygmunt Krasiński wobec śmierci). IBL. Warszawa 1990.
Terminal, Roman. PIW. Warszawa 1994. Neuauflage. Sic!. Warszawa 1998.
Melancholie. Von denen, die das Verlorene nie wiederfinden (Melancholia. O tych, co nigdy nie odnajdą straty), Essays. Sic!. Warszawa 1998.
Tworki, Roman. Sic!. Warszawa 1999.
Dürers Augen. Über die romantische Melancholie (Oczy Dürera. O melancholii romantycznej), Essays. Sic!. Warszawa 2002.