Drei Dramen und eine Utopie?

Tom Stoppard über Utopisches im Denken Michail Bakunins und Aleksandr Gercens

 

Der Erfolg scheint ihm Recht zu geben: Gleich sieben Auszeichnungen staubte Tom Stoppard bei den New Yorker Tony Awards 2007 für die besten Broadwayinszenierungen ab. Die Jury ließ sich von der Trilogie The Coast of Utopia in der Inszenierung von Jack O’Brien geradezu hinreißen (vgl. Reynolds 2007). In das überwiegend positive Medienecho mischten sich aber auch kritische Stimmen. Ähnlich verhielt es sich 2002, als die Dramen Voyage, Shipwreck und Salvage erstmals im National Theatre in London aufgeführt wurden (vgl. Zusammenstellung der Rezensionen im Online-Portal The Complete Review). Um Vor- und Nachteile der Stücke soll es hier aber nicht gehen. Vielmehr ist von Interesse, in welchem Verhältnis Stoppards Trilogie zur utopischen Literatur steht – und was das Ganze mit Russland zu tun hat.

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Tom Stoppard hat das Leben und Wirken zweier russischer Visionäre in Szene gesetzt: Im ersten Teil, Voyage, werden die Jugendjahre Michail Bakunins geschildert. Der zweite Teil, Shipwreck, spielt großteils in Paris und nimmt nun auch Aleksandr Gercen ins Blickfeld. In Salvage, dem dritten Teil, zeigt Stoppard vor allem Gercens Jahre in England, seinen Familien- und Freundeskreis. Die Frage drängt sich auf, weshalb ein englischer Dramatiker das Stichwort Utopie anscheinend in erster Linie mit russischen Denkern des 19. Jahrhunderts verbindet.

Was Utopien betrifft, sitzt Stoppard an der Ausgangsquelle: Der Engländer Thomas Morus gab dem Genre der utopischen Literatur seinen Namen. Morus’ Utopia (erschienen 1516 auf Latein und erst 1551 in englischer Übersetzung) definierte, was eine Utopie ist. Morus’ „Nirgend-Ort“ – Morus prägte den Begriff, der sich aus dem griechischen „ou“ – „nicht“ und „topos“ – „Ort“ zusammensetzt und somit einen Ort bezeichnet, den es nicht gibt – ist eine abgelegene Insel, auf der eine vorgeblich ideale Gesellschaftsform herrscht. Einige der Hauptmerkmale sind die Abschaffung von Geld und Privateigentum sowie die Gemeinschaftlichkeit von Kindererziehung und -bildung. Morus, der sich selbst auf Platons Staatsentwürfe in Nomoi und Politeia stützte, fand rasch viele Nachfolger in der Literatur, etwa Tommaso Campanella, Autor von Civitas solis (1623) und Francis Bacon mit New Atlantis (ca. 1624). Immer wieder gab es auch Versuche, solch eine ideal organisierte Gesellschaft in der Realität zu schaffen.

 

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Im 19. Jahrhundert waren es dann Unternehmer wie Charles Fourier, Henri de Saint-Simon und Robert Owen, die aus ihren Fabriken genossenschaftlich organisierte Idealgemeinschaften machen wollten. Das 19. Jahrhundert war die Zeit, in welcher die sozialistischen Aspekte utopischer Gesellschaften besondere Aufmerksamkeit fanden, beispielsweise in William Morris’ News from Nowhere (1890). In Russland wurde utopische Literatur seit dem 18. Jahrhundert geschrieben, zur Blüte gelangte sie aber erst im 19. Jahrhundert. Von besonderer Bedeutung ist die Auseinandersetzung zwischen Nikolaj Černyševskij und Fedor Dostoevskij. Černyševskij arbeitete 1863 in seinen Roman Was tun? (Čto delat’?) ein Kapitel mit dem Titel Der vierte Traum Vera Pavlovnas (Četvertyj son Very Pavlovny) ein. Dieser Traum ist eine utopische Zukunftsvision von einem Russland, in dem alle Menschen gemeinsam in großen Häusern leben, die dem Londoner Kristallpalast der Weltausstellung 1851 ähneln. Keiner leidet Mangel, alle arbeiten zusammen in der Landwirtschaft. Maschinen erleichtern den Menschen die Arbeit. Es gibt kein Geld und kein Privateigentum. Nach der fröhlich verrichteten Arbeit werden die Mahlzeiten gemeinsam eingenommen, abends vergnügt und bildet man sich ebenfalls gemeinsam. Im Rest des Romans mit dem Untertitel Aus Erzählungen von neuen Menschen (Iz rasskazov o novych ljudjach) beschreibt Černyševskij, wie Vera Pavlovna eine Spinnereigenossenschaft aufbaut und unter deren Mitgliedern sozialistische Ideen verbreitet. Dostoevskij sah in Veras Traum hingegen einen Alptraum. In Notizen aus dem Untergrund (Zapiski iz podpol’ja) (1864) pochte er auf das Recht auf Irrationalität und Leiden und schimpfte auf Menschen, die sich anmaßten, ihre Modelle eines idealen Lebens anderen Menschen aufzudrängen. Bakunin liegt in Bern auf dem Bremgarter Friedhof begraben. Auf seinem Grabstein steht: „Rappelez-vous de celui qui sacrifia tout pour la liberté de son pays“ (Erinnert euch an den, der alles für die Freiheit seines Landes geopfert hat) Genau vor solchen Bestrebungen warnte Dostoevskij.

Werke wie das Černyševskijs waren es, die Friedrich Engels dazu veranlassten, verschiedene Einzelpamphlete zum Gesamttext Der Sozialismus auf dem Weg von der Utopie zur Wissenschaft (1882) zusammenzuführen. Der Begriff Utopie nimmt bei Engels und im allgemeinen Sprachgebrauch sowohl des Deutschen als auch des Russischen auch einen negativen Beiklang an und wird als Synonym zu Irrealität und Phantasterei verstanden:

„Die Gesellschaft bot nur Mißstände; diese zu beseitigen war Aufgabe der denkenden Vernunft. Es handelte sich darum, ein neues, vollkommeneres System der gesellschaftlichen Ordnung zu erfinden […] Diese neuen sozialen Systeme waren von vornherein zur Utopie verdammt; […] Wir können es literarischen Kleinkrämern überlassen, an diesen, heute nur noch erheiternden Phantastereien feierlich herumzuklauben […]. Wir freuen uns lieber der genialen Gedankenkeime und Gedanken, die unter der phantastischen Hülle überall hervorbrechen und für die jene Philister blind sind.“ (Engels 1979, 54)

Was hat diese Auseinandersetzung nun mit Stoppard zu tun? Die Antwort darauf ist zweitgeteilt. Einen utopischen Text hat der in Zlin (Tschechoslowakei) geborene und 1946 nach Großbritannien gelangte Dramatiker mit seiner Trilogie jedenfalls nicht geschrieben. Er entwirft keine Idealgesellschaft, sondern zeigt Denker mit utopischen – utopisch hier im Sinne von erträumten, in die Zukunft projizierten – Ideen. In Stoppards Darstellung tun diese Revolutionäre nicht viel, sondern reden hauptsächlich darüber, was ihnen an der russischen Gesellschaft kritisierenswert erscheint. Wie sie allerdings diese Situation aktiv verändern könnten, davon ist eigentlich nie die Rede.

Dass Stoppards Dramen keine Utopien sind, ist nicht überraschend. Utopien sind aus der Mode gekommen. Die Naivität, es könne eine ideale Staats- und Gesellschaftsform geben, ist den Menschen, nicht zuletzt wegen ihrer Erfahrungen mit den unterdrückerischen Systemen des 20. Jahrhunderts, abhanden gekommen. Diese brachten eine neue Form des Genres, die Anti-Utopie, hervor. Evgenij Zamjatin war es, der zu Beginn der 1920er Jahre mit Wir (My) als Erster in aller Deutlichkeit zeigte, zu welchen Auswüchsen ein System fähig ist, das sich auf die Fahnen geschrieben hat, das Wohl aller herbeizuführen. Unterdrückung, Entindividualisierung und Maschinisierung sind die Folge. Einen anderen Ausweg bot die Science Fiction. Nicht ideale, aber doch bessere Lebensumstände sind mit Hilfe phantastischer technischer Entwicklungen denkbar. Utopische Elemente finden sich deswegen heutzutage noch am ehesten in der Science-Fiction-Literatur.

Weswegen beruft sich Stoppard dann auf die Insel Utopia, an deren Küste er die russischen Visionäre laut dem Gesamttitel der Trilogie landen lässt? (Auch die Einzeltitel Voyage, Shipwreck und Salvage spielen mit ihrer Reisemetaphorik auf utopische Texte an, in denen häufig ein Reisender in ein unbekanntes Land oder in die Zukunft gelangt – nicht selten nach einem Schiffbruch, z. B. in Faddej Bulgarins Wahrscheinliche Lügengeschichten oder Reise durch die Welt im 29. Jahrhundert (Pravdopodobnye nebylicy, ili Stranstvovanie po svetu v 29-om veke; 1824), und dann von Einheimischen in diesem paradiesisch anmutenden Reich herumgeführt wird) Es ist das utopische Denken, das ihn interessiert. Wie verlief der sozialutopische Diskurs in Russland im 19. Jahrhundert? Wie entwickelte er sich im Zeitraum von 1833 bis 1868? Wer beteiligte sich an ihm? Stoppard lässt jeden auftreten, der im 19. Jahrhundert in Russland etwas zum Thema zu sagen hatte. Nikolaj Ogarev fehlt ebenso wenig wie Ivan Turgenev, Nikolaj Černyševskij, Konstantin Aksakov, Petr Čaadaev oder Vissarion Belinskij. Auch Karl Marx tritt auf. Welche Position auch immer man zu den Gedanken und zur Situation im Russland jener Zeit vertritt oder hervorheben möchte, es findet sich ein passendes Zitat in Stoppards Dramentrilogie. Nahezu jeder Satz wird zu einer grundsätzlichen Aussage. Weite Strecken des zweiten Teils lesen sich wie das Destillat der Diskussion zwischen Westlern und Slavophilen. Den Slavophilen Aksakov etwa lässt Stoppard sagen: Aksakov: „You Westernisers apply for passports with letters from your doctors and then go off and drink the waters in Paris…“ (Shipwreck, 13) Stoppards Turgenev hingegen erklärt: “The only thing that’ll save Russia is western culture transmitted by […] people like us.“ (Shipwreck, 18)

Stoppard hat sich in seinen Werken mit unterschiedlichsten historischen Epochen von der Zeit Shakespeares (Screenplay zum Film Shakespeare in Love, 1998) über das britische 19. Jahrhundert (Arcadia, Drama, 1993) bis zu Prag in der Zeit von 1968 bis 1990 (Rock’n’Roll, Drama, 2006) befasst. Insofern stellt The Coast of Utopia keine Ausnahme dar. Dass er mit dem Begriff der Utopie bzw. des Utopischen gerade Russland in Verbindung bringt, liegt wohl vor allem daran, welchen Effekt die Ideen Bakunins und Gercens letztendlich hatten. Nach der Revolution von 1917 versuchten die Kommunisten, mit der Sowjetunion einen Gegenentwurf zum kapitalistischen Gesellschaftssystem zu verwirklichen. Nun gilt für Utopien eine Grunddevise: Sie dürfen nicht wahr werden, da sie sich gerade durch ihre Phantastik definieren. Versuche, die Visionen in Wirklichkeit umzusetzen, sind meist zum Scheitern verurteilt – man betrachte nur das klägliche Ende von Fouriers oder Owens’ utopistischen Siedlungen. Die Abweichungen des Sowjetsystems vom sozialistisch-kommunistischen Gesellschaftsentwurf sind ein Beleg für diese These. Das Scheitern des sowjetischen Experiments kann als Folge des Verstoßes gegen genannte Grundprämisse verstanden werden. Gerade die Diskrepanz zwischen Idee und Realität stellt Stoppard in den Vordergrund. Er zeigt Bakunin und Gercen in der kritischen Sicht ihrer Zeitgenossen. Bakunin macht er ein wenig lächerlich, indem er immer wieder Szenen schildert, in denen Bakunin von einem neu entdeckten Philosophen schwärmt, nur um ihn ein paar Seiten weiter in Grund und Boden zu verdammen. Im einen Moment ist Fichte das Nonplusultra, im nächsten Hegel. Ein Dialog zwischen Bakunin und Marx verläuft wie folgt:

Bakunin: I’ve been living in barracks with the Republican Guard. You won’t believe this but it’s the first time I’ve actually met anyone from the working class.
Marx: Really? What are they like? (Shipwreck, 41)

Deutlicher könnte Stoppard den Unterschied zwischen Theorie und Praxis nicht kommentieren.

 

Černyševskij, Nikolaj: Čto delat’? In: Sobranie sočinenij, Band 1. Moskva 1974.

Dostoevskij, Fedor: Zapiski iz podpol’ja. In: Polnoe sobranie sočinenij, Band 5. Leningrad 1973.

Engels, Friedrich: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft. Berlin 1979.

Heller, Leonid; Niqueux, Michel: Geschichte der Utopie. Bietigheim-Bissingen 2003.

Morus, Thomas: Utopia. In: The Complete Works, Band 4. 1965.

Reynolds, Nigel: Stoppard’s Utopia Sweeps Seven Tonys. In: The Telegraph, 12.06.2007.

Stoppard, Tom: The Coast of Utopia. Voyage, Shipwreck, Salvage. 3 volumes. London 2002.

Schweickle, Günther und Irmgard (Hg.): Metzler Literaturlexikon. Stichwörter zur Weltliteratur. Stuttgart  1990.

Zamjatin, Evgenij: My. In: Sočinenija, Band 3. München 1986.

 

The Complete Review: The Coast of Utopia by Tom Stoppard. www.complete-review.com/reviews/stoppt/coastofu.htm. (16.08.2007).

Nerger, Klaus: Grabstätten, cemeteries, graveyards, Gräber. www.knerger.de/Die_Personen/politiker_44/politiker_45/bakuninpolitiker_45.html (16.08.2007.)

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