Zwischen Ungewissheit und Zuversicht – Ein Roadmovie von Moskau nach Murmansk

Auf einer langen Zugfahrt in den russischen Norden teilt sich eine finnische Archäologie-Studentin ein Abteil mit einem jungen russischen Minenarbeiter. Abteil Nr. 6 erzählt von der auf der Reise entstehenden Freundschaft und verleiht dem klassischen Genre des Roadmovies und Coming-of-Age Films ein neues Gefühlsspektrum.

 

Wer schon einmal allein auf Reisen war, noch dazu an einen unbekannten Ort, noch dazu als Frau, wird sich in Juho Kuosmanen’s „Abteil Nr. 6(finn. „Hytti nro 6“ 2021) schnell selbst wiedererkennen, und sicherlich auch die Mischung aus Hochgefühl und Beklemmung, die ein solches Unterfangen mit sich bringt. Schon bei Tolstoj und Dostojevskij rauscht der Zug als literarischer Topos in die obskure Zukunft, und bietet auch im Film – „Strangers on a Train“ (Alfred Hitchcock 1951) oder „Before Sunrise“ (Richard Linklater 1995) – Möglichkeiten für ungewöhnliche Begegnungen und persönliche Transformation. Laura (Seidi Haarla) kommt aus Finnland, studiert in Moskau Archäologie und versucht, in das Leben ihrer großen Liebe Irina zu passen. Anders als geplant bricht sie nun allein nach Murmansk auf, wo sie sich Petroglyphen, historische Felszeichnungen, ansehen möchte. Im Abteil sitzt sie Ljocha (Yuriy Borisov) gegenüber, der selbst auf dem Weg nach Murmansk ist, um dort beim Bergwerk Olenegorsk GOK zu arbeiten. Auf den ersten Blick ist er lebendig gewordenes Vorurteil: Alkoholisiert und derb ignoriert er alle Grenzen der Höflichkeit und der Intimsphäre. Laura versucht, das Abteil zu wechseln und scheitert an der eisigen Schaffnerin. Auch auf den engen Gängen des Zuges gelingt es ihr nicht, dem aufdringlichen Charakter ihrer neuen Bekanntschaft zu entkommen. Als Irina am Telefon schon beim ersten Halt des Zuges Welten entfernt zu sein scheint, bleibt Laura nur die Flucht nach vorn. Es folgt eine überraschend behutsame Annäherung zwischen den Reisenden, die durch ein innovatives Drehbuch humorvoll und charmant wirkt, ohne abgedroschen oder kitschig zu sein.

 

„Abteil Nr. 6“ feierte vergangenes Jahr seine Premiere auf dem Cannes Film Festival und wurde mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman der finnischen Autorin Rosa Liksom aus dem Jahr 2011. Während die Romanfahrt die Protagonist_innen und Leser_innen bis nach Ulan Bator durch die Sowjetunion der 80er Jahre führt, durchquert „Abteil Nr. 6 filmisch das Russland der 90er Jahre. Das Ziel ist nun Murmansk – Russlands „Tor zur Arktis“. Die Hafenstadt war bis 1991 militärisches Sperrgebiet und wichtiger sowjetischer Handelsstützpunkt, ein Symbol für internationalen Einfluss. Das Murmansk nach dem Fall der Sowjetunion ist im Film wie in einen Winterschlaf gefallen und breitet nach Ende der Zugreise eine Landschaft vor uns aus, die wie eingefroren zwischen Vergangenheit und Zukunft schwebt.

 

Auch Laura befindet sich auf ihrer Reise in der Schwebe zwischen ihrem zurückgelassenen Leben in Moskau und einem neuen Selbstvertrauen. Der Kultur-, Klassen-, und Charakter-Clash der beiden Hauptcharaktere weicht in der Unmittelbarkeit des Zugabteils zögerlich spielerischem Schlagabtausch und Familiarität. Spontan entscheidet sich Laura, den nächtlichen Zwischenstopp in Petrozavodsk nicht im Zug zu verbringen, sondern mit Ljocha zur Datscha einer alten Dame zu fahren. „Frauen sind sehr kluge Wesen“, sagt diese ihr über einem Glas Selbstgebrannten, und fügt hinzu: „Ich habe mit 15 gelernt, meinem inneren Selbst zu vertrauen. Ich tue was es mir sagt.“ Damit spricht sie Laura aus der Seele: Schauspielerin Seidi Haarla verkörpert auf nahbare Weise eine stille und sehr mutige Protagonistin, die mehrere Ungewissheiten mit ihrem inneren Selbst vereinbaren muss – nicht zuletzt ihre Skepsis über den Charakter des verschlossenen Ljocha. Juriy Borisov sticht durch seine dynamische Spielweise und ausgeprägte Mimik hervor. Leicht vornübergebeugt lugt er unter seiner Braue hervor, zwischen Misstrauen und „mischief“: mal unheilvoll, mal schelmenhaft. So wie Laura muss auch die Zuschauer:in dieses Films immer wieder neu evaluieren, ob Ljocha als Gefahr oder Freund einzuschätzen ist.

 

Der anfänglichen Fremde und Unbehaglichkeit wirkt „Abteil Nr. 6“ mit einer Nostalgie entgegen, die sich, wie eine Erinnerung, aus mehreren Sinnen zusammensetzt. Die Kamera ist ausschließlich handgeführt, hier soll keine Symmetrie, sondern Authentizität und Nähe entstehen. Einige Male sehen wir sogar durch die Linse von Lauras heißgeliebter Camcorder-Videokamera. Tagebuchartig hält sie so ihre Reise in Aufnahmen der Bahnsteige, ihres kleinen Abteils und der vorbeiziehenden Landschaft fest, für Irina und für sich selbst. Sowohl der Camcorder als auch die Filmkamera vermitteln Farben und Texturen auf haptische Weise: Woll- und Schneedecken kommunizieren Wärme und Kälte; die Beschaffenheit von Kleidungsstücken oder der Umschlag des zerschlissenen Buches über die Petroglyphen werden eindrucksvoll eingefangen. Filmmusik gibt es außer dem ikonischem Reise-Hit „Voyage voyage“ von Desireless keine. Rhythmus und Melodie von „Abteil Nr. 6“ sind das Rattern der Eisenbahnräder auf den Gleisen und das Murmeln der Zuginsassen im Bordrestaurant. Dieses Summen und Rauschen des Fuhrwerks unterstützt das sinnliche Erleben des Filmes.

 

Immer wieder beeindruckt und überrascht „Abteil Nr. 6“ durch seine einnehmende Erzählweise: Der Film umfährt das Risiko, in stereotype Handlungs- und Dialogvorbilder aus dem reichen Repertoire seiner Genres zu verfallen und schafft es so, eine originelle Perspektive auf die klassischen Themen der Selbstfindung und zwischenmenschlichen Begegnungen zu offenbaren. Mit „Abteil Nr. 6“ gelingt Kuosmanen ein originelles Spiel mit Zuversicht und Zweifel und eine absolut sehenswerte Darstellung des vielzitierten Sprichworts: „Der Weg ist das Ziel“.

 

Kuosmanen, Juho: Hytti nro 6 (Abteil Nr. 6), Finnland, Deutschland, Estland, Russland, 2021, 107 Min.

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