

Zwischen Ungewissheit und Zuversicht – Ein Roadmovie von Moskau nach Murmansk
Auf einer langen Zugfahrt in den russischen Norden teilt sich eine finnische Archäologie-Studentin ein Abteil mit einem jungen russischen Minenarbeiter. Abteil Nr. 6 erzählt von der auf der Reise entstehenden Freundschaft und verleiht dem klassischen Genre des Roadmovies und Coming-of-Age Films ein neues Gefühlsspektrum.
„Abteil Nr. 6“ feierte vergangenes Jahr seine Premiere auf dem Cannes Film Festival und wurde mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman der finnischen Autorin Rosa Liksom aus dem Jahr 2011. Während die Romanfahrt die Protagonist_innen und Leser_innen bis nach Ulan Bator durch die Sowjetunion der 80er Jahre führt, durchquert „Abteil Nr. 6“ filmisch das Russland der 90er Jahre. Das Ziel ist nun Murmansk – Russlands „Tor zur Arktis“. Die Hafenstadt war bis 1991 militärisches Sperrgebiet und wichtiger sowjetischer Handelsstützpunkt, ein Symbol für internationalen Einfluss. Das Murmansk nach dem Fall der Sowjetunion ist im Film wie in einen Winterschlaf gefallen und breitet nach Ende der Zugreise eine Landschaft vor uns aus, die wie eingefroren zwischen Vergangenheit und Zukunft schwebt.
Der anfänglichen Fremde und Unbehaglichkeit wirkt „Abteil Nr. 6“ mit einer Nostalgie entgegen, die sich, wie eine Erinnerung, aus mehreren Sinnen zusammensetzt. Die Kamera ist ausschließlich handgeführt, hier soll keine Symmetrie, sondern Authentizität und Nähe entstehen. Einige Male sehen wir sogar durch die Linse von Lauras heißgeliebter Camcorder-Videokamera. Tagebuchartig hält sie so ihre Reise in Aufnahmen der Bahnsteige, ihres kleinen Abteils und der vorbeiziehenden Landschaft fest, für Irina und für sich selbst. Sowohl der Camcorder als auch die Filmkamera vermitteln Farben und Texturen auf haptische Weise: Woll- und Schneedecken kommunizieren Wärme und Kälte; die Beschaffenheit von Kleidungsstücken oder der Umschlag des zerschlissenen Buches über die Petroglyphen werden eindrucksvoll eingefangen. Filmmusik gibt es außer dem ikonischem Reise-Hit „Voyage voyage“ von Desireless keine. Rhythmus und Melodie von „Abteil Nr. 6“ sind das Rattern der Eisenbahnräder auf den Gleisen und das Murmeln der Zuginsassen im Bordrestaurant. Dieses Summen und Rauschen des Fuhrwerks unterstützt das sinnliche Erleben des Filmes.
Immer wieder beeindruckt und überrascht „Abteil Nr. 6“ durch seine einnehmende Erzählweise: Der Film umfährt das Risiko, in stereotype Handlungs- und Dialogvorbilder aus dem reichen Repertoire seiner Genres zu verfallen und schafft es so, eine originelle Perspektive auf die klassischen Themen der Selbstfindung und zwischenmenschlichen Begegnungen zu offenbaren. Mit „Abteil Nr. 6“ gelingt Kuosmanen ein originelles Spiel mit Zuversicht und Zweifel und eine absolut sehenswerte Darstellung des vielzitierten Sprichworts: „Der Weg ist das Ziel“.
Kuosmanen, Juho: Hytti nro 6 (Abteil Nr. 6), Finnland, Deutschland, Estland, Russland, 2021, 107 Min.