Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Fil­misch insze­niert: Ein Theater der Ausgrenzung

„Three Thousand Num­bered Pieces“ (2022) – drei­tau­send num­me­rierte Stücke. Ein unga­ri­sches Roma-Ensemble bringt seine eigenen Dis­kri­mi­nie­rungs­er­fah­rungen auf die deut­sche Thea­ter­bühne und sorgt für Empö­rung. Wie­viel Satire ist zu viel? Und wer darf wie über Min­der­heiten spre­chen? Ein kon­fron­ta­tiver Film über gesell­schaft­lich und per­sön­lich inter­na­li­sierten Ras­sismus und dessen absurde Erscheinungsformen.

 

Eine Straße in einem unga­ri­schen Dorf: Ein Hof nach dem anderen zieht in Schritt­ge­schwin­dig­keit vor­über, schrei­ende Kinder rennen um ver­fal­lene Häuser. Hunde bellen, Jugend­liche und ältere Men­schen in Trai­nings­an­zügen stehen zusammen, lachend und rau­chend. Die Höfe glei­chen ein­ander. Eine rohe Fas­sade folgt der nächsten, ein geflicktes Fenster reiht sich an das andere. Die immer glei­chen Bret­ter­zäune drängen sich an Schot­ter­wege voller Schlag­lö­cher. Die Straße weitet sich. Das Dorf scheint nicht enden zu wollen, bis es dann doch langsam aus dem Sicht­feld ver­schwindet. Zunächst breitet sich Erleich­te­rung aus, die jedoch all­mäh­lich von einem Gefühl der Ver­wir­rung und Schuld über­schattet wird.

Diese letzte Szene von „Three Thousand Num­bered Pieces“ ist tech­nisch und nar­rativ auf ein Minimum redu­ziert. Sie unter­scheidet sich dadurch dras­tisch von der über­in­sze­niert anmu­tenden Thea­tralik des rest­li­chen Films. Mit diesem über­ra­schen­der­weise rea­lis­ti­schen Ende ent­steht eine beson­dere Ein­dring­lich­keit. Eine Art voy­eu­ris­ti­sche Fas­zi­na­tion scheint von der Sze­nerie aus­zu­gehen. Gleich­zeitig führt die Länge der unge­schnit­tenen Szene zu einem Unbe­hagen, worin sich eines der vor­herr­schenden Gefühle mani­fes­tiert, das der Film zu erzeugen ver­steht: die Scham ange­sichts des eigenen inter­na­li­sierten Rassismus.

Der Regis­seur und Dreh­buch­autor Ádám Császi ver­han­delt in seinem zweiten Spiel­film die sys­te­ma­ti­sche Dis­kri­mi­nie­rung der Roma, der größten eth­ni­schen Min­der­heit seines Hei­mat­landes Ungarn. Eine beson­dere Bri­sanz erhält der Film zudem dadurch, dass Császi als Oppo­si­tio­neller des Orbán-Regimes ein Leben im Exil führt und sein Werk in Ungarn kaum rezi­piert wird. Der Film basiert auf dem Thea­ter­stück Gipsy Hun­ga­rian von Kristóf Horváth, der zudem im Film die Rolle des Regis­seurs ver­kör­pert. Im Zen­trum der Geschichte steht ein fik­tives unga­ri­sches Roma-Thea­ter­en­semble unter der Lei­tung eines weißen namen­losen Regis­seurs. Das Ensemble erar­beitet ein auto­bio­gra­fi­sches Stück, das die per­sön­li­chen Lebens­ge­schichten der Schauspieler*innen the­ma­ti­siert. Im Vor­der­grund steht dabei die Auf­ar­bei­tung trau­ma­ti­scher ras­sis­ti­scher Dis­kri­mi­nie­rungs­er­fah­rungen. Schließ­lich wird das Ensemble dazu ein­ge­laden, das Stück im Rahmen eines Fes­ti­vals am Deut­schen Theater in Berlin auf­zu­führen. Die Kon­fron­ta­tion mit der Presse und dem Publikum in Deutsch­land führt zu viel­schich­tigen Kon­flikten, auch inner­halb des Ensem­bles. Beson­ders deut­lich wird dies wäh­rend einer Pres­se­kon­fe­renz, bei der das Ensemble mit ras­sis­ti­schen Fragen kon­fron­tiert wird. Die Schauspieler*innen reagieren, indem sie den Journalist*innen durch pro­vo­kante Rück­fragen ihr ras­sis­ti­sches Ver­halten spie­geln. Die Situa­tion eska­liert schließ­lich derart, dass sich para­do­xer­weise alle anwe­senden Medi­en­leute ange­griffen fühlen und den Raum ver­lassen. Die Absur­dität dieser Dynamik, bei der sich die nicht von Dis­kri­mi­nie­rung betrof­fene Partei dis­kre­di­tiert fühlt, spielt eine zen­trale Rolle im gesamten Film. Horváth ist selbst Ange­hö­riger der Roma, ver­kör­pert im Film jedoch den weißen Regis­seur, was bereits inter­es­sante Fragen nach Bevor­mun­dung und Aneig­nung aufwirft.

Die Rolle des Regis­seurs, die Kristóf Horváth sehr über­zeu­gend inter­pre­tiert, ist beson­ders schil­lernd und ambi­va­lent. In dem Glauben, durch das Stück zur Dekon­struk­tion von Ras­sismus bei­zu­tragen, erreicht er letzt­lich genau das Gegen­teil. Als weiße Person in einer über­ge­ord­neten hier­ar­chi­schen Posi­tion pro­fi­tiert er von den Trau­mata der Ensemble-Mit­glieder, indem er sie wie fremd­ar­tige Objekte scho­nungslos aus­stellt. Seine Rolle ver­weist gewis­ser­maßen auf die Posi­tion, in der sich der Film-Regis­seur Ádám Császi selbst befindet, der eben­falls weiß ist und nicht der Min­der­heit der Roma ange­hört. Jedoch arbeitet Császi mit der großen Her­aus­for­de­rung, die in diesem Wider­spruch liegt, und beweist: Auch aus seiner Posi­tion heraus kann die Ras­sis­mus­kritik im Film funk­tio­nieren. Eines seiner wich­tigsten Werk­zeuge ist dabei das Erzeugen von Brü­chen, auf inhalt­li­cher wie visu­eller Ebene. Ständig werden beim Zusehen eigene Vor­ur­teile ent­larvt und Soli­da­ri­täts­be­kun­dungen dekonstruiert.

So zieht etwa das Schicksal eines Ensemble-Mit­glieds das Publikum kurz­zeitig in seinen Bann und wiegt es in Sicher­heit. Kurz darauf wendet sich das Blatt jedoch wieder und stellt soeben auf­ge­kom­mene Gefühle von Mit­leid bloß, macht den dadurch repro­du­zierten Ras­sismus offen­sicht­lich. Es gibt keinen strin­genten Hand­lungs­ver­lauf, statt­dessen diverse Zeit­sprünge und frag­men­ta­ri­sche, lose zusam­men­hän­gende Szenen.

Hinzu kommt die aus­ge­spro­chen dyna­mi­sche Kamera, die mit eta­blierten Seh­ge­wohn­heiten bricht. Durch über­ra­schende Schwenks und Per­spek­tiv­wechsel sowie lange Ein­stel­lungen kann die Insze­niert­heit der Situa­tion selten ver­gessen werden. Das geschärfte Bewusst­sein über die Media­lität des Films ermög­licht die Distan­zie­rung vom Geschehen, die zur Kon­fron­ta­tion der Zuschauer*innen mit sich selbst und der eigenen Posi­tion führt. Die per­ma­nente Adres­sie­rung der Zuschauer*innen wird außerdem durch das häu­fige Durch­bre­chen der soge­nannten „vierten Wand“ erzeugt. Die Schauspieler*innen nehmen unver­mit­telt Blick­kon­takt zur Kamera auf und adres­sieren das Publikum direkt in ihrer Ansprache. „Three Thousand Num­bered Pieces“ erlaubt somit keine pas­sive Rezep­ti­ons­hal­tung, die die Ver­ant­wor­tung an den Film abgibt.

Der Film pro­vo­ziert, über­schreitet Grenzen, klagt an und birgt das Poten­tial zu ver­är­gern, zu ver­un­si­chern und zu empören. Aller­dings liegt genau darin auch dessen großer Unter­hal­tungs­faktor. Der Film ist keine ankla­gende Moral­pre­digt, son­dern viel­mehr eine scharfe Satire. Immer wieder wird eine bewer­tende Hal­tung ein­ge­for­dert und an die Selbst­re­fle­xion der Zuschau­enden appel­liert. Dabei richtet sich der Film vor­rangig an weiße Men­schen und deren Ver­or­tung im Span­nungs­feld zwi­schen Soli­da­ri­sie­rung und White Saviou­rism. Gemeint ist die anma­ßende Bevor­mun­dung nicht-weißer Men­schen in Form eigen­nüt­ziger Hil­fe­leis­tungen. Die Figur des namen­losen Regis­seurs bietet daher Iden­ti­fi­ka­ti­ons­po­ten­tial für das Publikum, das ständig dazu auf­ge­for­dert wird, die eigene Posi­tion zu hinterfragen.

Als der Theater-Regis­seur den Umzug eines kom­pletten Wohn­hauses einer Roma-Familie auf die deut­sche Bühne ver­an­lasst, wird kul­tu­relle Aneig­nung im ganz wört­li­chen Sinne ver­han­delt. Das Wohn­haus wird in einem unga­ri­schen Dorf in drei­tau­send num­me­rierte Bruch­stücke zer­legt, um danach ori­gi­nal­ge­treu in Berlin wieder auf­ge­baut zu werden. Es drängen sich Fragen nach Kon­tex­tua­li­sie­rung und Dis­kurs­ho­heit auf. Wel­chen Wert hat das Haus auf einer deut­schen Bühne, seinem Ori­gi­nal­kon­text ent­rissen? Hei­ligt der Zweck immer die Mittel? Die Bemü­hungen weißer Men­schen, Stig­ma­ti­sie­rung ent­ge­gen­zu­wirken, indem Betrof­fene bevor­mundet werden, werden hier ad absurdum geführt.

„Three Thousand Num­bered Pieces“ – drei­tau­send num­me­rierte Stücke. Dieser Titel kommt dem Ein­druck ziem­lich nah, mit dem der Film die Zuschauer*innen zurück­lässt: Zer­split­tert in unzäh­lige Asso­zia­tionen, Momente der Erkenntnis und der Ver­wir­rung. Gefühle von Schuld, Wut und Unsi­cher­heit. Klein­tei­lige Frag­mente, die sich ergänzen und abstoßen, sich aus­dehnen oder zer­fallen, je länger sie betrachtet werden. Es scheint zunächst um die Rea­li­sie­rung der eigenen Wahr­neh­mungs­muster zu gehen, was in der Folge zum Ver­stehen gesell­schaft­li­cher Ursa­chen führen kann. Die Selbst­re­fle­xion des Publi­kums steht dabei im Wech­sel­spiel mit der Selbst­re­fle­xi­vität des Films, der sich per­ma­nent selbst hinterfragt.

Den­noch: Der Anspruch, durch den Film ein­deu­tige Ant­worten auf all die ent­stan­denen Fragen zu erhalten, ist zum Schei­tern ver­ur­teilt. Aller­dings ist es genau diese Unein­deu­tig­keit, die den Film trägt. Császis mutiges Werk ver­steht es, dem Publikum einen Spiegel vor­zu­halten. Das Spie­gel­bild fällt erschre­ckend aus und ver­deut­licht: Ras­sismus beginnt viel­leicht nicht beim Indi­vi­duum, aber er setzt sich darin fort und muss auch genau von dort aus über­wunden werden.

Császi, Ádám: Three Thousand Num­bered Pieces, Ungarn, 2022, 96 Min.

Bei­trags­bild: Three Thousand Num­bered Pieces, Film­still. Bild­quelle: Tal­linn Black Nights Film Fes­tival (Pime­date Ööde fil­mi­fes­tival, PÖFF), https://poff.ee/en/film/three-thousand-numbered-pieces/.

Bilder im Bei­trag: Three Thousand Num­bered Pieces, Film­stills. Bild­quelle: Tal­linn Black Nights Film Fes­tival (Pime­date Ööde fil­mi­fes­tival, PÖFF), https://poff.ee/en/film/three-thousand-numbered-pieces/ & © Zsofia Sivak, Bild­quelle: https://magyar.film.hu/filmhu/hir/farkas-franciska-szurrealis-szinhazi-turne-forog-csaszi-adam-uj-mozifilmje.html.