Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
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10099 Berlin

„Ich bin Künst­lerin, keine Kul­tur­trä­gerin“ – Inter­view mit Milena Marković

Milena Mar­ković gilt als eine der wich­tigsten zeit­ge­nös­si­schen Dra­ma­ti­ke­rinnen und Dich­te­rinnen Ser­biens. Zuletzt machte sie mit Kin­dern (2021 erschienen im Verlag „Lom“), einem Roman in Versen auf sich auf­merksam. Das Buch wurde 2021 mit dem lan­des­weit wich­tigsten Lite­ra­tur­preis „NIN“ für das beste Buch des Jahres aus­ge­zeichnet. novinki sprach mit der Autorin in Belgrad.

Phi­line Bick­hardt: Sie haben 2021 den NIN-Preis für Lite­ratur erhalten. Davor waren Sie bekannt als Pro­fes­sorin, Autorin von Thea­ter­stü­cken und als Dich­terin. Mit der Ver­lei­hung des NIN-Preises für Ihr Buch „Kinder“ (Serb.: “Deca”) haben Sie eine breite Leser_innenschaft hin­zu­ge­wonnen. Ein Preis ist ein Preis. Was aber hat sich für Sie als Dich­terin geän­dert? Wie hat viel­leicht die Popu­la­rität und damit auch der Aus­tausch mit Men­schen Ihre Auf­merk­sam­keit auf Dinge gelenkt, die Sie zuvor womög­lich nicht bemerkt haben? Wel­chen Ein­fluss hat der Preis auf Ihr Schaffen?  

 

Milena Mar­ković: Als ich den letzten Gedicht­band Gedichte für die Lebenden und die Toten (Serb.: Pesme za žive i mrtve) schrieb – das war vor sieben, acht Jahren –, wurde mir klar, dass ich in dieser Aus­drucks­form die Höchst­form erreicht hatte. Ich ver­suche, eine Inno­va­torin zu sein, mit der Form zu spielen und mich nicht in meinem eigenen Manie­rismus zu suhlen. Ich inter­es­siere mich im Moment nicht fürs Drama. Jedes meiner Stücke hatte eine andere poe­ti­sche Sprache, Metrik, Form. Dann beschloss ich, ein Poem zu schreiben, einen Roman in Versen, weil ich ihn für den Höhe­punkt der Sprache, den Höhe­punkt des poe­ti­schen Aus­drucks halte. Ich ver­ehre Eugen Onegin, Die Gött­liche Komödie und Martín Fierro. Ich habe bewusst drei völlig unter­schied­liche Strö­mungen genannt. Das eine ist groß­ar­tige Lite­ratur der Romantik, das andere ist die größte meta­phy­si­sche und ethi­sche Studie in Form des geschrie­benen mensch­li­chen Wortes über­haupt, das dritte ist eine schel­mi­sche, anti­hel­den­hafte Geschichte über einen aus­ge­schlos­senen Gaucho, einen Nach­kommen von Ein­ge­bo­renen. Und sie alle sind Romane in Versen oder Poeme/Gedichte, ich trenne sie nicht. Ich bin keine Theo­re­ti­kerin. Die Theorie ist die Die­nerin der Kunst, nicht umge­kehrt. Und es gelang mir, einen Roman in Versen zu schreiben, und ich erhielt eine Aus­zeich­nung. Es beein­flusste mich in dem Sinne, dass ich etwas Neues finden musste, um mich zu beschäf­tigen und mich darin wider­zu­spie­geln. Es gibt eine ver­fluchte und pro­phe­ti­sche Linie in dem, was ich tue; das reizt mich. Bestimmte Filme, an denen ich gear­beitet habe, bestimmte Dramen hatten auch diese Ele­mente, aber sie kamen nicht im rich­tigen Moment. Etwas kann dem Zeit­geist vor­aus­gehen, dem Zeit­geist hin­ter­her­hinken oder im Zeit­geist liegen. Den Zeit­geist zu erraten, das pas­siert ein­fach und dann erlebt man den Erfolg. Du sprichst mit einer Stimme, die die Men­schen berührt. Ich hatte immer das gleiche Ver­ständnis von der Welt. Jetzt habe ich viel­leicht mehr Weis­heit und Angst. Das ist sowohl gut als auch schlecht. Ich bin nicht daran inter­es­siert, mich mit dem Publikum aus­zu­tau­schen. Sie können nehmen, was ich ihnen gebe.

 

P.B.: Durch was unter­scheidet sich Ihr Roman, auch wenn in poe­ti­scher Form geschrieben, von Ihren frü­heren Gedichten? Und was pas­sierte, als Sie sich ent­lang des schmalen Grats  zwi­schen Poesie und Prosa, wie Sie zum Erhalt des NIN-Preises sagten, bewegten?

 

M.M.: All das ist gleich und doch auch anders. Ich würde mich nicht um den Unter­schied zwi­schen Poesie und Prosa küm­mern. Ich nenne Poesie nicht einmal Poesie, ich nenne es Singen. Man­chen ist die Fähig­keit zu singen gegeben, man­chen nicht, sie können es ver­su­chen. Du singst ein­fach. Du hast Musik in deinem Aus­druck. Es geht um eine tran­szen­dente Sache, unter­be­wusst und über­be­wusst, tief, ober­fläch­lich und alles durch­drin­gend. Alle bedeu­tenden Dichter hatten es, egal ob sie Quar­tette oder Blank­vers (Serb.: „beli stih“) schrieben. Sie wählten ihren eigenen Stil, der einer ein­zigen Stimme ent­spre­chen musste. So fand auch ich meine Stimme im Stim­men­meer. Des­halb ist alles, was ich tue, gleich. In diesem Roman in Vers­form ist der Stil den anderen in Form, Größe und Schwung ein­fach über­legen. Das bin nicht mehr nur ich, das ist eine Zeit, eine Epoche, ein Jahr­hun­dert, das sind in gewisser Weise alle Kinder, nicht nur meine Kinder, meine Zeit, meine Epoche, mein Jahr­hun­dert. Es ist nicht mehr nur mein Körper, es ist der all­ge­meine Körper. Es gibt Reime, Rhythmen, Bilder, Sie­ges­rufe, Klagen, Schluchzen, Beschwerden, Bekennt­nisse, Mani­feste, Spott, Klatsch, Bewusstseinsströme.

 

Auf­füh­rung der gleich­na­migen Oper “Deca”, Natio­nal­theater Bel­grad, 13.12.2022.

P.B.: Für die gleich­na­mige Oper war deut­lich zu bemerken: Wäh­rend im Zen­trum eine weib­liche Schau­spie­lerin einen Aspekt der Milena, um die es im Buch geht, vor­stellte, hat die Gruppe im Hin­ter­grund eine For­ma­tion gebildet: Sie imi­tierten das Reiten auf Pferden, das Geräusch einer Loko­mo­tive, Bewe­gungen wäh­rend des Sex; manchmal bewegten sie sich im glei­chen Takt und mit glei­cher Fuß- und Bein­ar­ti­ku­la­tion durch den Raum, machten sym­me­tri­sche Hand- und Arm­be­we­gungen. Alles folgte einem Rhythmus, wie Ihre Gedichte auch. Der Takt, der Rhythmus des Lebens im Körper ist einer, den Sie in der Sprache suchen? Der in ihrer Poesie als Schluchzen, Weinen und auch Lachen auftritt?

 

M.M.: Was das Schluchzen und Lachen angeht, das sind zwei Dinge, die im Grunde nicht arti­fi­ziell her­vor­ge­rufen werden können. Sie sind immer das Pro­dukt einer gewissen Spon­ta­nität. Mir war es sehr wichtig, in meinen Gedichten, in dem, was ich schreibe, diese traum­ar­tigen Eigen­schaften zu bewahren, diese Art von Frei­heit in der Sprache zu haben, mich auf ein lyri­sches Spiel ein­zu­lassen, das eine schnelle und plötz­liche Wende her­vor­ruft, fast taktil, das heißt aus dem Schluchzen in das Lachen. Es gibt einen Takt, wie Sie sagen, einen Rhythmus, in den Worten selbst, das heißt in den Versen. Und das ist defi­nitiv eine Qua­lität, die zuerst von der Kom­po­nistin Irena Popović und dem Dra­ma­tiker Dimit­rije Kokanov und dann vom Cho­reo­grafen Igor Koruga erkannt wurde.

 

Das Stück hat keinen Regis­seur. Als mich Irina Popović anrief, eine Kom­po­nistin, die ich sehr schätze, sagte ich, dass ich mir wün­sche, dass das Stück als Oper gemacht wird. Ich sagte auch, dass ich prin­zi­piell nicht wollen würde, dass man einen Regis­seur invol­viert, weil ich es nicht für erfor­der­lich halte, dass der Regis­seur sein Thema und seine Idee hin­zu­fügt, was für mich pro­ble­ma­tisch sein kann. Ich habe meh­rere Thea­ter­stücke, in denen ver­schie­dene Motive mit­ein­ander ver­flochten sind, die in diesem Roman vor­kommen. Jeder Regis­seur kann eines dieser Stücke nehmen und damit machen, was immer er will. Aber die Idee der Oper „Kinder“ muss aus dem Roman stammen, da war ich mir mit dem Autoren­team einig. So haben sie etwas her­vor­ge­bracht, das auch mich überraschte.

 

Indem sie bestimmte Motive her­aus­ge­nommen und sie im Singen vorgestellt haben, machten sie diese noch uni­ver­seller. Sie haben eine Oper geschaffen, in der das Publikum wirk­lich eine Katharsis in diesem grund­le­genden Sinne erlebt. Als ich das Libretto las, die Stro­phen, die sie aus­ge­wählt und in einer bestimmten dra­ma­tur­gi­schen Ein­heit arran­giert hatten, war mir klar, was sie machen. Sie hatten Schlüs­sel­mo­mente gefunden, Kind­heit, Liebe, Tod, Geburt, Alter. Sie wählten Verse aus, die spe­zi­fisch sind und sich auf das lyri­sche Sub­jekt beziehen, aber durch das Singen erzeugten sie ein all­ge­meines mensch­li­ches Gefühl und Erkennen. Ihre Frage ist gut, da das Merkmal des Schluch­zens und Lachens auf­ge­fallen ist und ver­sucht wurde, einer­seits ver­schie­dene Musik­genres zu haben (das ist natür­lich eine Frage des Kom­po­nisten) und ande­rer­seits, dass die Cho­reo­gra­phie des Stücks, also Dra­ma­turgie oder sagen wir Regie, den Gesang begleitet, d.h. den Grundton. Als ich zu den Proben kam, freute ich mich sehr, dass nicht alles im glei­chen Ton gehalten war, es war nicht herz­zer­rei­ßend und pathe­tisch, son­dern es hatte auch andere Qua­li­täten, Ironie, Selbst­ironie, ein Mani­fest, eine ele­men­tare Rebel­lion. Durch die Cho­reo­gra­phie fügten sie jedem Bild einen Kom­mentar hinzu, einen Kon­tra­punkt. Einer sticht hervor, weil er ein Sub­jekt, ein Solist, ein beson­derer Körper ist, die anderen sind dann ein all­ge­meiner Körper oder eine Erwei­te­rung des Grund­bildes. Auch Schau­spieler und Schau­spie­le­rinnen und Opern­sänger und Opern­sän­ge­rinnen singen. Die Par­ti­turen werden an die stimm­li­chen Fähig­keiten eines jeden ange­passt. Es ist ein außer­ge­wöhn­li­ches kom­po­si­to­ri­sches Werk, es gleitet an keiner Stelle in sän­ge­ri­schen Dilet­tan­tismus ab, ein­fach, mit der Mischung von Genres und Tech­niken werden Erstaunen und Authen­ti­zität erreicht, es ist orga­nisch. Mit der Cho­reo­grafie wurde eine Art von Song-Stil geschaffen, also einer­seits „Brech­tisch“, und ande­rer­seits haben sie sich etwas von der Grund­linie ent­fernt, das heißt, sie haben die ganze Geschichte objek­ti­viert. So erreichten sie, dass es nicht im selben Ton, dass es nicht flach, lang­weilig, ver­schlossen ist. Es ist eine span­nende Oper.

 

P.B.: In einem Inter­view haben Sie gesagt, dass es Ihnen wichtig ist, etwas „Rich­tiges“ bzw. „Tat­säch­li­ches“ für die Leser_innen zu schreiben. Was meinen Sie mit „tat­säch­lich“, rea­lis­tisch, real, nütz­lich für die Men­schen? Und wie viel Auto­bio­grafie steckt in diesem Buch?

 

M.M.: Ich kann nicht ganz erkennen, in wel­chem ​​Zusam­men­hang ich das gesagt habe. Ich ver­suche immer, etwas Klares, Tat­säch­li­ches und Wahres zu schreiben. In dem Sinne, dass es keine Lüge ist. Rea­lität exis­tiert nicht. Es ist alles eine Frage der Wahr­neh­mung und Per­spek­tive. Jeder hat seine eigene Rea­lität. Rea­lität exis­tiert nicht, jeden­falls nicht in der Kunst. Es gibt Rea­lismus und Natu­ra­lismus als eine Art der Her­an­ge­hens­weise. Und das ist nur ein Ansatz in meiner Arbeit, ich ver­än­dere ihn, ich greife oft zu schwin­del­erre­genden Sti­li­sie­rungen, ich spiele. Das Buch ist auto­bio­gra­fisch, aber das ist nicht wichtig. Auto­bio­gra­fien sind eine nie­dere Art von Lite­ratur, sie werden von einigen Schau­spie­lern und Sän­gern geschrieben oder von jemandem bezahlt und sie lügen meis­tens. Es hat keinen künst­le­ri­schen Wert. Ande­rer­seits: Ein Por­trät des Künst­lers als junger Mann von Joyce, Die Glas­glocke von Plath, Tonio Kröger von Thomas Mann, Der ver­lo­rene Sohn von Bukowski, Auf­zeich­nungen aus einem Toten­haus von Dos­to­jevski sind auto­bio­gra­fi­sche Werke, aber sie sind keine Auto­bio­gra­fien. Dies sind ergrei­fende Geschichten über die Mensch­heit. Karl Ove Knaus­gård hat dann, unter den großen Zeit­ge­nossen, seinen Vor- und Nach­namen in den Roman auf­ge­nommen und ihn erkennbar und zur heu­tigen Sprache gemacht. Und dann näherte ich mich an und sagte: Aha, Milena werde ich auch nament­lich in den Roman auf­nehmen. Und alles wird sich um Milena drehen.

 

P.B.: Ist das Wai­sen­kind seit der Ver­öf­fent­li­chung des Romans wei­ter­ge­wachsen? Und weint es immer noch?

 

M.M.: Es wird weinen, solange es lebt, ich hoffe, es wird wachsen.

 

P.B.: Ihr Roman liest sich für mich wie ein Fluss von Gedanken, Ereig­nissen und Gefühlen, wäh­rend es auf der sprach­li­chen Ebene immer wieder Unter­bre­chungen und Brüche gibt, die die Lesenden manchmal ins Stol­pern bringen, die das Lesen ver­lang­samen und es dann wieder plötz­lich beschleu­nigen (Syntax, feh­lende Satz­zei­chen). Nackte Buch­staben, geschlif­fene Sätze, inten­dierte, bewusste Sätze, aber nicht in Prosa gepresst… ist es diese fra­gile und zugleich selbst­be­wusste Kind­heit, die Sie erzählen wollen?

 

M.M.: Der Roman hat meh­rere Ströme. Das eine sind die skur­rilen Kind­heits­bilder, Foto­gra­fien und Dar­stel­lungen, in denen sich asso­ziativ, manchmal geschmack­lich und geruch­lich, wie beim großen Proust, eine Epoche und Rea­li­täts­er­fah­rung auftut, dann kommt ein Schmerz, eine Kluft, eine Umkeh­rung. Für mich war es auf­re­gend, dass jeder Über­gang auch sprach­lich begleitet wurde. Dann gibt es ein Ein­tau­chen in die größten Erleb­nisse der Jugend, der Mäd­chen­zeit, des Frau­seins und der Mut­ter­schaft, auch durch den kör­per­li­chen Kosmos. Das mensch­liche Leben ist zer­brech­lich. Sie ist gekenn­zeichnet durch Sehn­sucht und Angst. Überall gibt es unaus­sprech­liche Kräfte. Die Mate­ria­listen haben alles nur noch schlimmer und fra­giler gemacht. Hier ist Kind­heit und der lang­same Abstieg ins Alter.

 

P.B.: Welche Ver­bin­dung fühlen Sie zur rus­si­schen Avantgarde?

 

M.M.: Sehr früh habe ich habe ange­fangen, Gedichte zu lesen, noch bevor ich sie ver­standen habe. Das liegt an dem Wesen des Gesangs und der Musik, die Poesie hat. Wie alle solche Kinder habe ich zuerst die Roman­tiker und Sym­bo­listen unter die Finger bekom­men­ge­macht, darauf folgte dann natür­lich der Sur­rea­lismus. Also Blake, Byron, Shelley, Keats, Heine, Kleist, Goethe, Rim­baud, Bau­de­laire, Ver­laine, dann Aragon, Apol­lin­aire, Breton und so weiter und so fort. Dann, ab dem 14. Lebens­jahr, folgen Ezra Pound, Rilke, Cve­ta­jeva, Eliot. Die große Frage ist, ob ich damals etwas ver­standen habe, aber das ist auch egal. Da sind natür­lich Whitman, Gins­berg und Bukowski. Ich liebe Lieder und rezi­tiere sie in diesen frühen Jahren, ich lese auch alte Texte, Epen. Dann zufällig, ich bin schon fünf­zehn Jahre alt, stoße ich auf Daniil Harms, auf die Ver­ei­ni­gung „Obėriju“ (dt.: Die Ver­ei­ni­gung realer Kunst, 30er Jahre Sowjet­russ­land), dann auf Maja­kovski, dann auf die Ent­de­ckung rus­si­scher Garagen-Under­ground-Poesie, wie Gen­rich Sapgir und so weiter. Plötz­lich schaue ich von der anderen Seite auf die groß­ar­tige rus­si­sche Poesie und ent­decke Esenin, gegen den ich einen Wider­stand hatte, weil meine ver­stor­bene Mutter Rus­sisch­leh­rerin war; ich ent­decke seine groß­ar­tigen Gedichte, nicht die, die wir in der Schule rezi­tierten, von denen ich jetzt weiß, dass sie genial sind, son­dern diese Avant­garde-Gedichte, skur­rile, ver­rückte, wo er den Mond beißt und Jesus Christus in Ekstase aus­spuckt. Und dann finde ich meine Sprache und fange an, meine ersten Gedichte zu schreiben. Einige dieser Gedichte kann man sogar in meinen Gedicht­samm­lungen finden, z.B. in Der Hund, der die Sonne aß und Der schwarze Mensch. Was die Deut­schen betrifft, ich habe Gott­fried Benn ver­ehrt, aber ich habe ihn erst in meinen Zwan­zi­gern ent­deckt. Die Ant­wort auf Ihre Frage lautet eigent­lich: Die rus­si­sche Avant­garde hat mich geboren. Ich hatte ver­schie­dene Lehrer und Leh­re­rinnen, aber die rus­si­sche Avant­garde hat mich geboren.

 

P.B.: Sie haben in der Ver­gan­gen­heit viele Schriftsteller_innen als Ihre Lehrer_innen genannt, die sehr unter­schied­lich sind (rus­si­sche Avant­garde, Brecht, Büchner, Pedno Cal­deron, Pierre Corn­eille und andere)… Spie­gelt sich das Ringen um die rich­tige Form im Auf­bre­chen der Grenzen der eigenen Familie und Kör­per­lich­keit wieder?

 

M.M.: Ich habe meine Familie nie ver­lassen, dar­über schreibe ich auch. Es gibt keinen Ausweg aus der Kör­per­lich­keit, viel­leicht gibt es ihn bei unseren ortho­doxen Ere­miten und Asketen, ich weiß es nicht, ich habe nicht mit ihnen gespro­chen. Der Körper ist etwas, das begrenzt. Ich bin keine Mate­ria­listin. Der Körper ist ver­dammt, der Mensch ist sterb­lich, Frei­heit exis­tiert nicht, dann musst du tief sinken und nach hoch oben schauen, in den Himmel. Lite­ratur kann Leben retten und sie ist etwas Men­schen­ver­bin­dendes, Katharsis, gibt Sinn; Kunst hat einen edlen Zweck, auch wenn sie auf­re­gend ist und unan­ge­nehm. Alle erwähnten Schrift­steller waren große Sprach­meister, Büchner und Brecht waren für den dra­ma­ti­schen Aus­druck, den ich fand, von größter Bedeutung.

 

P.B.: Sind Sie streng mit sich selbst?

 

M.M.: Ich bin außer­or­dent­lich streng mit mir.

 

P.B.: Sie haben sich mit vielen Helden aus­ein­an­der­ge­setzt, die an den Rand gedrängt sind – arm, trau­ma­ti­siert, von der Gesell­schaft aus­ge­schlossen – und Rebellen sind. Und doch wollen Sie nicht, dass man sie in einer poli­ti­schen Per­spek­tive ver­steht bzw. eine poli­ti­sche Bot­schaft in den Texten auf­spürt. Warum?

 

M.M.: Zunächst muss die Frage gestellt werden, was diese poli­ti­sche Per­spek­tive ist. Zum Bei­spiel haben Sie eine poli­ti­sche Per­spek­tive, ich habe eine andere poli­ti­sche Per­spek­tive, jemand da drüben hat eine dritte poli­ti­sche Per­spek­tive. Dann wollen Sie oder ich oder diese dritte oder fünfte Person allen anderen eine poli­ti­sche Per­spek­tive auf­zwingen. Wieso denn? Wegen des Gefühls der Vor­herr­schaft und der unmit­tel­baren Über­le­gen­heit? Und was ist, wenn ich nicht so denke? Die Unan­ge­passten sind ein altes Thema. Pro­me­theus war ein Außen­seiter. Achill und Jesus auch. Dann befasste sich Faul­kner mit Aus­ge­sto­ßenen, Dos­to­jevski, Flan­nery O‘Connor, Carson McCul­lers, Handke, Goethe, Louis-Fer­di­nand Céline, Hamsun, Michel Hou­el­le­becq. Was ist deren poli­ti­sche Per­spek­tive? Was hält Faul­kner von den Yan­kees (Anm. d. Red.: nord­ame­ri­ka­ni­sche Siedler_innen)? Was sagt Dos­to­jevski über die Bour­geoisie? Was sagt Hou­el­le­becq über die Libe­ralen? Sollen wir sie ver­bieten? Weise Men­schen schweigen in diesen Zeiten. Sieh Dich um. Ich bin nicht schlau, aber ich ver­suche, weise zu sein. Wenn ich etwas schreibe, das jemanden rettet, ver­edelt, tröstet, begeis­tert und fes­selt, der nicht die gleiche Welt­an­schauung hat wie ich, ist das viel wich­tiger als alles andere. Dem diene ich. Das ist meine Beru­fung. Das ist Kunst. All die anderen sind Diener und nütz­liche Idioten. Ich enga­giere mich nicht in der Politik, weil ich ver­suche, eine Künst­lerin zu sein, keine Kulturträgerin.

 

Das Gespräch wurde am 15.12.2022 in Bel­grad geführt.