Ein paar Tage mitten im Krieg. Yevgenia Belorusets

Die Schriftstellerin Yevgenia Belorusets hält seit des flächendeckenden Angriffs Russlands auf die Ukraine am 24.02.2022 ihre Beobachtungen, Gedanken und Fragen in Form von Kriegstagebüchern, u.a. für den Spiegel und den Rbb, fest. Auf novinki berichtet sie über das Frühjahr 2023. In einer englischen Fassung erschien dieser Text erstmals in der Financial Times.


31.1.23

Der Zug, der mich in die Ukraine bringt, ist voll. In meinem Wagen fahren fast nur Frauen. Das Abteil teilt eine Frau mit mir, die schweigsam ist und manchmal glücklich lacht. Sie war eine Woche lang in Polen. Dort besuchte sie ihre Freundin und hatte eine gute Zeit, aber jetzt fährt sie endlich in die Ukraine zurück. Manchmal wird unser Schweigen unterbrochen. In den langen Stunden, wenn der Zug steht, kommen Pass- und Zollkontrollen vorbei. Dann sprechen wir ein paar Sätze miteinander. Sie erinnert sich an die Februartage des vorigen Jahres.

Sie erwartet ein Kind und klingt fast immer fröhlich, auch wenn sie über etwas Schreckliches oder Gewaltsames spricht. Das Erste, was sie erzählt, ist die Beschreibung eines Privathauses, einer Datscha, die im Laufe der letzten Jahre so umgebaut wurde, dass der Krieg einem kaum noch was anhaben kann. Die Elektrizität kommt von einem Generator, das Wasser aus dem privaten Brunnen, die Heizung ist auch autonom. Wenn sie ihr Haus beschreibt, wird klar, es liegt außerhalb Kiews, in einem Dorf in der Richtung von Obuhiv, in Ortschaften, die nie von der russischen Armee besetzt waren.

Viele Kiewer besitzen eine Datscha und die, die zufällig in dieser Region ein Ferienhaus haben, können sich glücklich schätzen.

In den ersten Tagen des Krieges flohen viele meiner Bekannten in ihre Privathäuser in der Kiewer Oblast. Meistens waren es Ferienhäuser, in denen die Familien normalerweise im Frühling und Sommer leben. Nun war es unklar, was passieren würde. Noch in den ersten Kriegstagen war eine große Invasion im Stil des zweiten Weltkrieges, mit ruinierten Straßen, zerstörter Infrastruktur, mit Millionen von Flüchtlingen, Tausenden Verletzten und Toten kaum vorstellbar. Auch meine eigene Phantasie reichte vor einem Jahr für so eine Vorstellung der Realität nicht aus. Viele Kiewer dachten, es wäre leichter eine kurzfristige Unruhe auf der Datscha in so einer unscheinbaren Ortschaft abzuwarten. Und sie packten in Eile ihre Koffer und fuhren unter anderem in Richtung Butscha, Irpin, Moschun, Gorynka, d.h. genau in jene Ortschaften, wo sie – wie wir heute wissen – im Fall ihres Überlebens verurteilt sein würden, Zeugen der schrecklichsten Verbrechen dieses Krieges zu werden.

Wenn meine Abteilnachbarin über den Krieg sprach, wollte sie wieder und wieder nur über ein Bild reden: sie erinnerte sich an einen russischen Panzer, der am 25. Februar 2022 neben ihrem Hochhaus im Bezirk Obolon herumfuhr. Der Panzer zerstörte den Kinderspielplatz in ihrem Hof. Die schockierten Nachbarn filmten das Fahrzeug aus den Fenstern des Hauses. Nach elf Monaten Krieg ist der Kinderspielplatz nur notdürftig renoviert. Wenn sie nach Hause kommt, um einige Tage in Kiew zu verbringen, würde sie wieder die Spuren des Panzers und den zerstörten Hof ihres Hauses sehen.

Praktisch ohne weiteren Kommentar zeigte meine Nachbarin mir ein Video, in dem ein Schützenpanzer zu sehen ist, der wie betrunken durch die Straßen fährt, auf den Bürgersteig klettert, in einen kleinen Kinderspielplatz neben Mehrfamilienhäusern hineinfährt. Es ist ein Fragment einer Nachrichtensendung. Der ukrainische Moderator kommentiert diesen Unfall mit besorgter Stimme. Er erklärt: eine der russischen Diversions- und Aufklärungseinheiten hat es geschafft, ukrainische Kriegsfahrzeuge zu stehlen und bedroht damit viel mehr die Bewohner von Kiew als die ukrainische Armee oder Regierung. Überrascht fragt er: „Verstehen sie (die diesen Panzer gestohlen haben) denn nicht, dass damit nicht die von der russischen Regierung erklärten Kriegsziele getroffen werden, sondern die friedlichen Menschen, die Bewohner von Kiew in die Gefahr gebracht werden?“

Ich denke, diese wahrhaftige, aufrichtige Erschütterung des ukrainischen Nachrichtenmoderators sollte ins Museum der Gefühle dieses Krieges kommen.

 

3.2. bis 9.2.23

Vor ein paar Wochen, nach dem Raketenangriff am 31. Dezember 2022, war die Zentralheizung in meinem Haus zwei Wochen lang abgeschaltet.

Damals riefen mich meine Nachbarn von dort in Berlin an und erzählten mir, dass es ihnen hervorragend gehe, dass ihnen warm sei und dass sie gelernt hätten, ihre Wohnungen ohne Zentralheizung zu durchzuwärmen. Es sei ihnen egal, ob sie angeschaltet wird oder nicht.

Aber hier in Kiew höre ich Beschwerden über die Kälte. Eine Bekannte besucht mich. Nach Kriegsbeginn zogen sie und ihr Mann in das Haus ihrer wohlhabenden Verwandten ein, eines älteren Ehepaars, das die Ukraine verlassen hatte. Das Ehepaar hatte zwei Katzen und zwei Hunde, die im Haus aufgewachsen sind.

„Dieses Haus ist ungewohnt luxuriös“, sagt sie zu mir, „aber mein Mann und ich finden es schwierig, darin zu leben. Hier ist überall Marmor. Und wenn der Strom ausfällt, gibt es auch keine Heizung. Das Haus wird nicht richtig warm, es ist immer kalt. Es gibt einen Generator, aber der verbraucht zu viel Benzin, wir benutzen ihn nicht“, fügt sie mit müder Stimme hinzu, als ob sie für mich alle Besonderheiten des Lebens in Kiew unter Beschuss protokollierte.

Dieses luxuriöse Haus befindet sich nicht weit von einem der Kiewer Kraftwerke entfernt. Jeder Raketenangriff bringt es in Gefahr. Aber sie können die Tiere nicht in ihre kleine Ein-Zimmer-Wohnung mitnehmen und bleiben wegen ihnen im Haus.

Bei einem Stromausfall fangen die Katzen an, jämmerlich zu miauen; den Beschuss ertragen sie jedoch gelassen. Hingegen kommen die Hunde auch neben den Menschen nicht zur Ruhe.

Bei einem der letzten Bombardements saßen sie mit den Tieren zusammen in einem der am meisten geschützten kleinen Räume des Hauses, wo sie sich immer wieder in solchen Momenten der Gefahr versteckten, und da bemerkte meine Freundin, dass die Tiere auf die Wand starrten. Das Haus erbebte. Sie sah, wie sich ein Riss langsam an der Hauswand entlangschlich. Man konnte nirgendwo hingehen, draußen war es viel gefährlicher. Zusammengekauert sahen Menschen und Tiere zu, wie der Riss ein neues Muster an der Wand schuf und seine verzweigten Äste nach oben trieb, und schwiegen. Was sollte man auch sagen.

Jeden Tag werden in der Ukraine Wohnhäuser beschossen. In Kälte und Dunkelheit werden Rettungsarbeiten unter Beschuss durchgeführt.

Eine Freiwillige, die in Bachmut arbeitete, berichtete in einem der Telegramkanäle, dass die Rettungskräfte aufgrund des Beschusses nicht in der Lage waren, sich einem zerstörten Haus zu nähern, obwohl aus den Trümmern Stöhnen zu hören war.

Sie schrieb auch, dass es in Bachmut unmöglich geworden ist, zwischen Leben und Tod zu unterscheiden, alles ist durcheinander geraten und Gefühle hören auf, mit den bekannten Schmerzreaktionen auf Zerstörung und Tod zu reagieren.

Währenddessen höre ich in Kiew nach dem Erdbeben in der Türkei an jeder Stelle Worte des Мitleids.

 

10.2.23

Kiew unter Beschuss. Mehrmals Luftangriffsalarm. Ein Anruf der Bekannten, über die ich schrieb. Sie mache sich Sorgen um mich, weil ihr Mann und ihre Tiere bei ihr waren, aber ich war allein in der Wohnung. Sie versucht eindringlich, mich zu beruhigen: „Weißt du, was ich immer zu meiner besten Freundin sage, die aus irgendeinem Grund bei jedem Luftangriff eine Panikattacke bekommt? Ich sage ihr: ‚Schätzchen, denk doch mal nach, wird jemand eine Rakete auf dich abfeuern? Eine Rakete ist eine sehr teure Sache, wertvoll! Mit einer Rakete kann man ein Privathaus im Zentrum von Kiew bauen! Mit einer Rakete kann man ein ganzes Dorf ein Jahr lang versorgen. Du bist also sicher. Niemand wird eine ganze Rakete für Leute wie uns ausgeben.“

Sie lachte. Ich nahm an, dass sie heute keine Nachrichten gelesen hatte und beschloss, sie nicht zu beunruhigen. Heute Morgen wurden über Kiew 10 Raketen abgeschossen, von denen ein Trümmerstück ein Privathaus am Rande der Stadt beschädigt hat. In den letzten 24 Stunden hat Russland 100 Raketen in Richtung Ukraine abgefeuert, einige davon waren auf die zivile Infrastruktur gerichtet.

 

11.2.23

Ich besuchte meine Tante, die Kiew seit Beginn des Krieges für keinen einzigen Tag verlassen hat. Sie lebt in einem Privathaus mit Haustieren und engen Verwandten, für die sie verantwortlich ist. Als sie mich begrüßte und ich ihr ins Gesicht sah, wurde mir bewusst, wie erschöpft sie war von den letzten Monaten.

Sie ist im Verlagwesen tätig. Vor einem Jahr, einen Tag vor der großen russischen Invasion, bekam sie einen Anruf und wurde zur Mitarbeit in einem neu gegründeten jungen Verlag eingeladen. Der Krieg kam, die Verlangsgründung wurde abgebrochen und bis jetzt nicht wieder aufgenommen.

Zu dieser Zeit bereitete sie das Buch eines Kiewers für die Publikation vor, der vor fast hundert Jahren geboren wurde. Dieser Mann hat die deutschen und sowjetischen Konzentrationslager überlebt, wurde repressiert, hat sich mit Archäologie beschäftigt und beschlossen, in den letzten Jahren seines Lebens eine Autobiographie zu schreiben. Meine Tante half ihm dabei. Nach Monaten der Arbeit wurde das Buch schließlich einige Tage vor dem 24. Februar in die Druckerei gegeben.

Am 25. Februar 2022, am zweiten Tag des Krieges, rief dieser Mann meine Tante an, um über das Schicksal seines Buches zu fragen. Sie musste ihm sagen, dass die Druckerei, in der das Buch gedruckt werden sollte, unter Beschuss geraten war und abgebrannt war. Der Leiter der Druckerei hatte beschlossen, als Freiwilliger der ukrainischen Armee beizutreten.

Wie auch viele andere, wurde dieses Buch nie gedruckt.

Heute Abend gab es Raketenangriffe auf Charkiw. Über die Anzahl der Opfer ist derzeit nichts bekannt.

 

12.2.23

Ein Sonntag in Kiew nach einer Woche, in der die Ukraine unentwegt beschossen wurde. Ein Tag, an dem scheinbar nichts passiert. Man geht durch die Stadt und möchte eigentlich gar keine neuen Nachrichten hören.

In der Nacht hörte ich entfernte Explosionen und immer wieder ein neues unbekanntes Geräusch in der Luft. Als ich las, dass es ukrainische Flugzeuge oder Drohnen sein sollen, beruhigte ich mich.

Dann sah ich auf einem der Telegramkanäle ein Video mit dem Gründer und Leiter von Wagner, Yevgeny Prigozhin, der Tausende russischen Häftlinge für den Krieg gegen die Ukraine rekrutierte. Dabei versprach er den Gefangenen Freilassung und die Möglichkeit, ein neues Leben zu beginnen. In einem dunklen Raum, irgendwo in Russland saß er auf einer Bank und kommentierte in die Kamera: „Der Krieg,“ – sagte er, – „ist nur eine Arbeit, eine Frontarbeit. Wenn den Häftlingen im Kampf ein Arm oder ein Bein abgerissen wird, sind sie immer noch glücklich und lachen ganz fröhlich. Vielleicht entdecken sie etwas an dieser Härte“.

Gerade jetzt, wo Kiew an diesem Wochenende fast feierlich aussieht, findet im Osten des Landes eine russische Offensive statt. Der Krieg migriert ständig von einer Stadt in die nächste. Und wenn es ihn heute hier nicht gibt, entsteht sehr schnell eine Illusion der Sicherheit und friedlichen Ruhe. Straßenmusik, laute Stimmen, Eltern mit kleinen Kindern laufen mit verträumten Gesichtern durch das Stadtzentrum.

Später am Abend besuche ich meine Freundin, eine Filmkritikerin und Wissenschaftlerin, die Geburtstag feierte. Auf der kleinen Versammlung in ihrer Wohnung begrüßen mich meine alten Bekannten. In ihren festen Umarmungen spüre ich eine erstaunte Wärme. Diese Menschen wundern sich, dass sie ihre Freunde wiedersehen dürfen, dass so ein Sonntag gekommen ist, wo man sich in einer Gesellschaft versammelt, um zu feiern. Nein, es ist nicht nur das. Wir haben uns seit Anfang des Krieges nicht gesehen. Wir schauen uns gegenseitig an, als ob wir uns wieder neu kennenlernten. Der Krieg wurde zu einer Spur, die man schweigend vom Gesicht abliest. Alle Stimmen klingen etwas leiser als früher.

 

14.2.2022

Als das Dröhnen des Fliegeralarms das erste Mal seit meiner Ankunft ertönte, empfand ich immer noch Angst, aber auch eine Art absurd sentimentale Freude, die Freude, etwas Vertrautes, Bekanntes und Verlorenes zu sehen. Der Luftalarm war eingebettet in die Geräuschkulisse der Stadt. Seine Klänge erinnerten mich daran, wie ich in den ersten Kriegsmonaten Kiew nicht verlassen wollte.

Auch der heutige Tag begann mit einer Sirene. Ich lauschte den Geräuschen und dachte darüber nach, wie wenig sie für mich jetzt bedeuteten. Wie für viele Menschen in meiner Umgebung ist der Luftschutzalarm zu einem lästigen Ärgernis geworden, das man einfach beiseite schiebt, ohne darüber nachzudenken.

In einem kleinen Geschäft in der Nähe meines Hauses, das ich besonders häufig aufsuche, fragte mich vor ein paar Tagen eine Verkäuferin mit brennenden Augen zu den durchdringenden Sirenen: „Sagen Sie mal, bereiten Sie sich auf den 14. Februar vor! Das ist doch der Tag aller Verliebten! Wir denken alle an ihn. Ich überlege, welches Geschenk ich besorgen soll!“

Ich sagte ihr, dass ich den 14. Februar vergessen hätte. Sie sah so enttäuscht aus, dass ich zu den Regalen mit den Souvenirs hinüberging und sie mir ansah, als würde ich sorgfältig abwägen, was ich für diesen Anlass gebrauchen könnte.

Zehn Tage vor dem großen Einmarsch, am 14. Februar 2022, war ich in Kiew. Der Abend dieses Tages brachte eine Fülle von Nachrichten. Ich schaue mir die Schlagzeilen an:

„Verteidigungsminister Oleksiy Reznikov sagte: ‚Meine Einschätzung der Lage ist definitiv nicht alarmierend. Es gibt keinen Grund für die Verhängung des Kriegsrechts“.  Neben diesen optimistischen Worten standen zwei Erklärungen des US-Außenministeriums. In der einen hieß es, dass die US-Botschaft nach Lemberg verlegt worden sei, in der anderen, dass „Putin noch keine formelle Entscheidung für eine Invasion getroffen hat.“

In diesem höchst unscheinbaren Wort „noch“ steckte eine Botschaft über die Zukunft, die uns erwartete und über die man zu diesem Zeitpunkt nur spekulieren konnte.

Dieses „noch “ enthielt die Niederlage des Völkerrechts, der Diplomatie, ein Manifest der Schwäche und der Bereitschaft, sich dem Schicksal gerade dann zu ergeben, wenn dringende und wirksame Maßnahmen erforderlich waren, um einen Krieg zu verhindern.

Vielleicht lauert die Zukunft auch jetzt irgendwo zwischen den Schlagzeilen, in kleinen, unscheinbaren Worten, die wie zufällig ausgesprochen werden.

Warum eine Offensive für viele Menschen undenkbar schien, hatte eine Vielzahl von Gründen, von denen jeder einzelne logisch gültig und unwiderlegbar schien. Man konnte sie durchgehen, sie schienen unverrückbare Bastionen des gesunden Menschenverstands in dem chaotischen Durcheinander von Signalen zu sein, die bestätigten, dass ein Krieg doch möglich war.

Es schien, als könne man den Krieg abwenden, indem man sich seine Folgen vorstellte: Millionen von Flüchtlingen, Zehntausende von Toten, zerstörtes Leben, besetzte Städte, Menschen, die die Besatzungsmacht hassen.

Ich erinnere mich an viele Spekulationen von Experten vor dem Krieg, dass Russland theoretisch ukrainische Städte besetzen könnte, aber wie sollte es sie halten, wenn die Bevölkerung nicht loyal war? Daraus wurde gefolgert, dass eine Stadt mit einer illoyalen Bevölkerung eine Belastung für das erobernde Land darstellen würde. Eine Problemstadt, eine Stadt, in der es ständig Proteste und Revolutionen gibt, die man besser in Ruhe lässt, als sie mit Gewalt zu erobern.

Wie auch immer diese Annahmen lauten mögen, keiner von ihnen ist in seinen Zukunftsvisionen so weit gekommen, dass Russland einen Krieg mit einer Taktik des „Feuerwalls“ führen wird. Die Bevölkerung der ukrainischen Städte würde zusammen mit Straßen, Parks, Museen, Häusern und der Infrastruktur zerstört werden. Die Stadt, die für die Besetzung ausgewählt wird, ist vielleicht keine Stadt mehr, sondern eine Ruine, in der sich die letzten paar hundert Einwohner unter den Trümmern verstecken.

Offensichtlich ist die Besetzung ukrainischer Städte ein Vorwand, damit russische korrupte Beamte über eine gut erledigte Arbeit berichten können. Eine Formalität, die kein Leben voraussetzt, egal in welcher Form.

Es sieht so aus, als ob die ukrainische Stadt in den Augen Russlands nie existiert hat; es geht um eine Formalität, die nur darin besteht, dem Vorgesetzten zu berichten, dass der Befehl ausgeführt wurde und „die Stadt erobert“ wurde.

Jede unserer Städte, die von der russischen Offensive erreicht wird, kann zu so einer Formalität werden, die keinerlei Leben in irgendeiner Form in Betracht zieht.

Ukrainische Soldaten, vor dem Krieg Künstler, Ingenieure, Programmierer, Ärzte – Erschöpfte, mit kaum verheilten Wunden, die kaum Zeit für die Erholung hatten, sind gezwungen, immer wieder an die Front zurückzukehren. Ich traf heute einen solchen Mann. Er verbrachte nur wenige Tage in Kiew und muss wieder an die Frontlinie, die in ihrer Länge mit den Landesgrenzen Deutschlands vergleichbar ist.

In den Ländern, die an Ramstein-Treffen zur Ukraine teilnehmen, werden weiterhin Diskussionen geführt, ob und wie schnell der Ukraine alle zur Selbstverteidigung erforderlichen Waffen zur Verfügung gestellt werden sollten.

 

15.2.2023

Für viele meiner begabten Bekannten, die in Kiew im Rhythmus der Strom-, Wärme- und Wasserausfälle leben, ist es fast unmöglich geworden, über den Krieg nachzudenken. Sie haben den Krieg auf den Zeitpunkt verschoben, wo sie selbst gezwungen sein werden, sich ihm direkt zu stellen: an die Front zu gehen, sich für Hilfsmaßnahmen zu engagieren, Geld zu sammeln. Ansonsten sind sie in ihren Alltag vertieft, und es ist möglich, mit ihnen über alles andere als den Krieg zu sprechen.

Heute ist ein sonniger, ruhiger Tag, der bisher von keiner Störung aus der Luft unterbrochen wurde. In Bachmut und entlang der gesamten Frontlinie wird weiter gekämpft.

In Pokrowsk, wo ich früher gearbeitet habe, wurde ein mehrstöckiges Gebäude beschossen. Es ist teilweise eingestürzt, Menschen liegen unter den Trümmern.

Wo ich auch hinschaue, sehe ich den Krieg gestern und morgen. Es ist unmöglich, vom Standpunkt des Krieges aus zu sprechen, jede Rede verliert ihren Sinn vor dem Hintergrund der anhaltenden Zerstörung, der Auslöschung von Städten, Straßen, menschlichen Welten.

Ein Jahr des Krieges ist vergangen, jede Sekunde davon steht unter der Beobachtung der Medien. Die Leichen der Toten, das Stöhnen der Verwundeten, die Trümmer eines verschwindend friedlichen Lebens, das Medienrauschen breitet sich über gigantische Entfernungen aus.

Als ich mit meinem Tagebuch begann, schien es mir, dass jede derartige Nachricht ein Grund für sofortiges Handeln sein sollte. Die Ukraine muss genügend Luftabwehrsysteme und Waffen bekommen, damit die Menschen nicht mehr sterben, damit nicht immer mehr Städte zu einer Leere, einem Schlachtfeld werden.

Ich sehe jetzt, dass Internationale Experten den Zeitrahmen des Krieges verschieben und berichten, dass er wahrscheinlich noch ein, zwei, drei oder fünf Jahre dauern wird. Solange Russland über genügend „Ressourcen“ verfügt, um weiterzumachen.

Irgendwie befinde ich mich nicht nur in einem Krieg, sondern auch in einer Welt, in der Gewalt und Verbrechen so lange andauern können, wie der Täter die Energie, den Willen und die Kraft hat, sie auszuführen.

Die Angst vor dem Aggressor zerstört nicht nur die Idee der gemeinsamen Sicherheit, sie zerstört das politische Feld und die Werte, für die der europäische Kontinent im letzten Jahrhundert gekämpft hat.

 

15.2., 15 Uhr: Während ich diese Zeilen gerade fertigschreibe, ertönt Luftalarm.


Das Beitragsbild ist von Elisabeth Bauer und bildet mit den anderen Beiträgen des Ukraine-Spezials eine Einheit in Form der Fotoserie “Ukrainisches Berlin: Die Stadt als gelb-blauer Symbolraum”.

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