Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

24. Februar 2023: Ein­drücke nach einem Jahr Krieg

“Es ist das Gift des Krieges, das die Kampf­zone immer weiter aus­dehnt und die Aner­ken­nung der Ver­bun­den­heit mit dem Gegen­über und damit die Kom­mu­ni­ka­tion zwi­schen Men­schen ver­un­mög­licht.” In Form eines per­sön­li­chen Zeug­nisses reflek­tiert Susanne Frank dar­über, was dieser Jah­restag bedeutet.

Um 4 Uhr früh bin ich auf­ge­wacht, als mir der Gedanke durch den Kopf schoss, dass Jah­res­tage mir noch nie etwas bedeutet haben… Aber jetzt? Auf einmal wird eine Bedeu­tung von „Jah­restag“ offen­sicht­lich, die mir bisher komi­scher­weise nie in den Sinn gekommen ist. Jah­res­tage begeht man, um sich daran zu erin­nern, dass sich an diesen Tagen etwas ereignet hat, was die Welt grund­le­gend ver­än­dert hat: die Geburt eines Men­schen, eine Staats­grün­dung, ein Über­fall, ein Frie­dens­schluss. Natür­lich! Heute ist das nicht nur wichtig, son­dern unum­gäng­lich … Jetzt, am Jah­restag, werden die schon früh auf­grund der Evi­denz des Gesche­hens aus­ge­spro­chenen Worte wie „Zei­ten­wende“ in ihrer ganzen Dimen­sio­na­lität reflektiert.

 

Der 24. Februar 2023 begann am Vor­abend mit der Finis­sage der Foto­ta­ge­buch-Aus­stel­lung von Yev­genia Bel­o­ru­sets „Nebenan / Поруч. Das Kiewer Kriegs­ta­ge­buch, eine Instal­la­tion“ im Bun­destag. Ich erin­nerte mich, dass ich genau vor einem Jahr, am Abend des 22.2.2022 mit Yev­genia, die damals in Kyiv war, zoomte und sie fragte, ob sie die Pro­gnosen der Medien in Deutsch­land bestä­tigen könne, dass ein rus­si­scher Angriff auf die Ukraine unmit­telbar bevor­stünde. Yev­genia war äußerst beun­ru­higt, aber sie meinte, dass die soeben von Putin ver­kün­dete Anne­xion der sog. DNR und die Ein­glie­de­rung der Donezker Oblast‘ in die Rus­si­sche Föde­ra­tion wohl das allei­nige Ziel der mili­tä­ri­schen Umzin­ge­lung der Ukraine sei. Sie hielt einen Angriff auf Kyiv für aus­ge­schlossen. Drei Tage später rollten die rus­si­schen Panzer auf Kyiv zu und Yev­genia begann, ihr „Tage­buch des Krieges“ für den Spiegel und den RBB zu führen… und in Berlin ver­sam­melte sich die größte Demons­tra­tion seit Jahr­zehnten zum Pro­test gegen den rus­si­schen Angriff.

 

Ein Jahr später erzählt Yev­genia im Podi­ums­ge­spräch mit Katja Petrovs­kaja, dessen emo­tio­nale Dichte und Chaotik auch als ein Sym­ptom der anhal­tenden Über­wäl­ti­gung durch den schreck­li­chen Angriffs­krieg erscheinen, u.a. von einer inter­es­santen Beob­ach­tung: Als künst­le­ri­sche Foto­grafin hätte sie eine Dimen­sion der Theorie der Foto­grafie noch nie so kon­kret nach­voll­ziehen können wie im Kon­text des Krieges, den sie in den ersten Monaten in Kiew doku­men­tierte: den an die Spe­zifik des Mediums, das Spuren von Licht und Schatten erzeugt, gebun­denen Wunsch, das Jetzt – das, was jetzt noch da ist, aber morgen viel­leicht schon nicht mehr – zu bewahren und fest­zu­halten… Also gerade nicht die im Anschluss an Roland Bar­thes auch immer wieder dis­ku­tierte Dimen­sion des durch die Foto­grafie reprä­sen­tierten „immer schon gewe­senen“ also ver­gan­genen Augen­blicks, die die Foto­grafie mit dem Tod ver­bindet, son­dern umge­kehrt den Ver­such, mit­hilfe der Foto­grafie das Leben zu bewahren, das im nächsten Moment weg oder in Tod ver­wan­delt sein kann.

 

Nicht nur in Hin­blick auf alt­be­kannte Theo­rien, son­dern in jeder Hin­sicht hat dieser voll­um­fäng­liche Angriff Russ­lands und die damit ver­bun­dene glo­bale Aus­wei­tung (der Bedeu­tung) des Krieges sowohl kolos­sale Ver­un­si­che­rungen bis­he­riger Gewiss­heiten und ein dem­entspre­chendes Ringen um eine adäquate Sprache bewirkt als auch immer wieder den Ein­druck her­vor­ge­rufen, dass nun die bis­lang nicht (voll­ständig) erkannte Wahr­heit zutage träte.

 

Obwohl ich mir ganz sicher bin zu wissen, was „Faschismus“ bedeutet und zahl­reiche Kor­re­spon­denzen erkenne zwi­schen der poli­ti­schen Stra­tegie Hit­lers bzw. des Dritten Rei­ches und der­je­nigen Putins – ras­sis­ti­scher bzw. an Ras­sismus gren­zender Natio­na­lismus, Pro­pa­ganda mit extremer Zuspit­zung des Feind­bilds und Hate­speech, popu­lis­ti­scher Füh­rer­kult, geno­zi­daler Ver­nich­tungs­krieg, national-impe­riale Mytho­poetik –, können wir täg­lich erleben, dass „Faschist“ und „Nazi“ auf beiden Seiten der Kriegs­front glei­cher­maßen als Feind­be­zeich­nung ver­wendet werden. Natür­lich iden­ti­fi­zieren wir den Dis­kurs der einen – rus­si­schen – Seite als Pro­pa­ganda und den anderen als gerecht­fer­tigte Dia­gnose, aber wir erleben, dass gebil­dete Men­schen auf beiden Seiten die Situa­tion spie­gel­bild­lich im selben Voka­bular beschreiben, sich als Opfer und die anderen als Täter wahr­nehmen. Timothy Snyder hat in seinem Essay „We Should Say It. Russia Is Fascist“ von letztem Mai (NYT 19.5.2022) die Praxis, andere als Faschisten zu bezeichnen und dabei selbst wie Faschisten zu han­deln, als “the essen­tial Puti­nist prac­tice” oder “schizofa­s­hism” bezeichnet und auf Stalin zurück­ge­führt, unter dem „Faschist“/“Faschismus“ als Sam­mel­be­zeich­nung für jede Art von Gegner/Widerständigem genutzt wurde, ohne Rück­sicht­nahme auf seine poli­ti­sche Position.

 

Zwei Umstände aber machen das Pro­blem noch viel kom­pli­zierter: Ers­tens, dass anschei­nend viele der puti­nis­ti­schen Pro­pa­ganda auf­sitzen und sie selbst ein­setzen, ein­fach weil sie daran glauben und ihre eigenen Erfah­rungen durch diese Brille inter­pre­tieren, und zwei­tens die Tat­sache, dass ein­fach auf­grund der Situa­tion des Krieges Zuge­hö­rig­keiten und Zuschrei­bungen zu einem der Lager rigoros als unhin­ter­gehbar auf­ge­fasst werden und im Ein­klang damit Urteile gefällt werden, die jede Art von Grenze unüber­schreitbar, jede Art von reflek­tie­render Ver­hand­lung und jeden Ver­such der Ver­stän­di­gung fast unmög­lich machen.

 

Meine Erfah­rung des letzten Jahres hat mir immer wieder gezeigt, dass sich die Grenzen gerade in der nicht unmit­telbar – aber doch mit­telbar sehr stark – in den Krieg ein­be­zo­genen Zone auf erschre­ckende Art und Weise mul­ti­pli­zieren und nicht mehr nur zwi­schen feind­li­chen Kol­lek­tiven, son­dern zwi­schen Ein­zel­in­di­vi­duen ver­laufen und dass jede ein­zelne Grenze anschei­nend unüber­windbar oder sogar zur Front wird. Nichts war so schwierig im letzten Jahr wie die Kom­mu­ni­ka­tion unter Men­schen, die ein­ander ‚im All­ge­meinen‘ wohl­ge­sonnen waren und poli­tisch jeden­falls auf der­selben Seite standen. Gerade da glitt das Gespräch immer wieder unver­se­hens ab in Anschul­di­gung und Ver­ur­tei­lung, dies gesagt oder jenes unter­lassen zu haben… Dabei ver­suchte jede/r ein­zelne ständig auf die ein­zige ihm/ihr mög­liche Weise auf das Grauen zu reagieren und etwas dagegen zu setzen.

 

Ähn­li­ches schreibt Yev­genia Bel­o­ru­sets über die Ent­wick­lungen in der Ukraine.

„In den Netzen der ver­zwei­felten und radi­kalen Beschul­di­gungen […] werden fast nur die gefangen, die bereits eine Schuld emp­finden, die viel­leicht schon lange mit dieser Schuld lebten und selbst ver­geb­lich gegen das gleiche Ver­bre­chen gekämpft haben“, schrieb sie im Herbst in ihrem Vor­trag „Wer darf spre­chen?“, der in höchst sub­tiler Weise die durch den Krieg noch kom­pli­zierter und erbit­terter gewor­dene Aus­ein­an­der­set­zung um die Legi­ti­mität des Rus­si­schen als eine der Spra­chen der Ukraine diskutierte.

 

Yev­genia zeigt darin auf, wie – als Folge und Kom­pen­sa­tion einer an die Grund­festen der kul­tu­rellen Exis­tenz rüh­renden Erschüt­te­rung – mit krampf­hafter und oft gewalt­samer Vehe­menz Anzei­chen aus­findig gemacht werden, die eine ein­deu­tige Zuord­nung und damit Ver­ur­tei­lung der ‚anderen‘ und damit die Ver­ge­wis­se­rung des eigenen Stand­punkts ermög­li­chen: Tatoos oder die Sprache, die Staats­an­ge­hö­rig­keit oder die lite­ra­ri­sche Tra­di­tion dienen der Ver­ur­tei­lung als ein­deu­tige Indi­zien. Nicht nur in der Ukraine selbst, son­dern auch unter den aus Russ­land nach Deutsch­land Gekom­menen ist die Stra­tegie der Ver­ur­tei­lung, die dem Gegen­über jede Chance einer Erwi­de­rung nimmt, beson­ders virulent.

 

Ein Bei­spiel dafür ist die ver­nich­tend-kri­ti­sche Erwi­de­rung des seit Jahr­zehnten in Berlin lebenden und auf Deutsch schrei­benden Schrift­stel­lers Boris Schumatzky auf einen Essay der Dich­terin Maria Ste­pa­nova. Ste­pa­nova lebt der­zeit in Berlin, wo sie im August 2022 ein zuvor lang geplantes, aber auf­grund der aktu­ellen Situa­tion, in der sie – wegen ihrer expli­ziten Posi­tio­nie­rung gegen den Krieg und der ange­ord­neten Schlie­ßung ihres online-Por­tals colta.ru – in Russ­land gefährdet ist, ver­län­gertes Fel­low­ship am Wis­sen­schafts­kolleg Berlin ange­treten hat. In dem zuerst im Sep­tember 2022 auf einem Work­shop in Berlin („Friedhof der Pro­jekte“, orga­ni­siert von Yev­genia Bel­o­ru­sets im Kon­text des Inter­na­tio­nalen Lite­ra­tur­fes­ti­vals) vor­ge­tra­genen und dann am 23. Januar 2023 in der FAZ publi­zierten Essay dis­ku­tiert Maria Ste­pa­nova unter dem bitter iro­ni­schen Titel „Iden­ti­täts­stif­tung durch Kriegs­schuld“ das Phä­nomen eines „neuen Wir“, wel­ches durch Putins Krieg ent­standen ist und von ihr im Bekenntnis einer kol­lek­tiven Schuld als unhin­ter­gehbar akzep­tiert wird. Ste­pa­nova beschreibt eine Erfah­rung des „freien Falls“, des Ver­lusts jeg­li­chen Gewichts der eigenen Stimme, des totalen Sinn­ver­lusts von Leben und Schreiben als Effekte einer bizarren Umkeh­rung der Bedeu­tung des „wir“, auf dem sich zuvor die kol­lek­tive Iden­tität des Rus­sisch­seins begründet hätte. Gemeint ist die zen­trale iden­ti­täts­stif­tende Bedeu­tung, die in der sowje­ti­schen Gedächt­nis­po­litik seit Brezhnev dem Sieg der Sowjets über die deut­sche Wehr­macht zuge­schrieben wurde. Ste­pa­nova bekennt sich zu dieser von der offi­zi­ellen Politik geschmie­deten kol­lek­tiven Iden­tität, zu der das Bewusst­sein eines unter größt­mög­li­chen Opfern erbrachten Sieges sowie die Über­zeu­gung gehörte, nie­mals einen wei­teren Krieg zuzu­lassen. Putins Krieg hat daraus eine Gemein­schaft der Schuld gemacht, der nie­mand ent­kommen kann.

 

Boris Schumatzky nimmt das in seiner in der NZZ (18.2.) publi­zierten Ant­wort zum Anlass, sich von Maria Ste­pa­nova zu distan­zieren, mit der er eine Kind­heit in der späten Sowjet­union und den frühen 1990er Jahren in Russ­land teilt, aber nicht die von Ste­pa­nova pos­tu­lierte Iden­ti­täts­er­fah­rung. Obwohl Ste­pa­nova in Bezug auf die sowje­ti­sche Situa­tion – den Sta­li­nismus – vor dem Zweiten Welt­krieg auch von „Tätern“ spricht, obwohl sie den rus­si­schen Angriffs­krieg als direkte Ver­keh­rung der Rollen von Täter und Opfer und als zutiefst schmerz­li­chen Bruch dar­stellt und den einst­wei­ligen Ver­lust einer adäquaten Beschrei­bungs­sprache beklagt, wirft ihr Schumatzky vor, das sowje­ti­sche „Sie­ges­nar­rativ“ in die Gegen­wart zu ver­län­gern und weder mit der Ver­gan­gen­heit selbst noch mit deren Sprache bre­chen zu können. Offen­sicht­lich wäre für Schumatzky, der Moskau in jungen Jahren ver­lassen hat, die einzig zuläs­sige Reak­tion eine fun­da­men­tale Distan­zie­rung von allem Rus­si­schen. Dass Ste­pa­nova ‚nur‘ vom „Stigma“ einer „schmer­zenden“ „kol­lek­tiven Mit­tä­ter­schaft“ spricht, ist ihm zu wenig, dass sie über­legt, wie Russ­land nach diesem Krieg „wieder bewohnbar“ gemacht werden könnte, findet er unan­ge­messen, dass sie pos­tu­liert, dass eine Lösung „nur von innen“ gefunden werden könnte, deutet er als Iden­ti­fi­ka­tion mit dem „großen rus­si­schen Wir“, das für immer kolo­ni­sa­to­risch und schuld­be­laden bleiben muss.

 

Aber wie fatal ist doch diese Gleich­set­zung der nur ober­fläch­lich ähn­li­chen Zei­chen! Nur wer vom Kon­text und von den so wich­tigen kleinen semio­ti­schen Details abs­tra­hiert, könnte, wie Boris Schumatzky es leider tut, ein Gleich­heits­zei­chen setzen zwi­schen Maria Ste­pa­novas ver­zwei­felt beken­nendem State­ment „Ich bin eine rus­si­sche Schrift­stel­lerin“ und der trotzig-stolzen puti­nis­ti­schen Dekla­ra­tion „Ich schäme mich nicht“ auf dem T‑Shirt der aus dem Donbas vor den ukrai­ni­schen „Nazis“ nach Russ­land geflüch­teten Dich­terin Anna Dol­gareva, auf dem anstelle der ergän­zenden Worte „… Russin zu sein“ viel­sa­gend die rus­si­sche Flagge abge­bildet ist. Warum kann Boris Schumatzky weder die Dis­kre­panz in den Nuancen erkennen noch die Fata­lität des geteilten Schick­sals und Ste­pa­novas Refle­xion dar­über? Wieso kann er nicht aner­kennen, dass Maria Ste­pa­nova sich klar in die Tra­di­tion Natalia Gor­ban­evs­kajas ein­reiht, die geschrieben hat „Ich habe War­schau nicht gerettet und dann auch nicht Prag, das bin ich, das bin ich, und für meine Schuld gibt es keine Sühne […]“ (1973). Es wäre so wichtig zu berück­sich­tigen und anzu­er­kennen, dass Maria Ste­pa­novas Tätig­keit als Redak­teurin der seit einem Jahr ver­bo­tenen Kul­tur­platt­form Colta.ru ein eben­sol­cher Ver­such war, „von innen“ einen Weg vom „blinden Wir“ zu einer Gemein­schaft von „sehenden Ichs“ zu finden. Statt­dessen mani­fes­tiert sich hier genau der von Yev­genia Bel­o­ru­sets auf­ge­zeigte Ver­ur­tei­lungs­zwang, dieses Gift, das die Kampf­zone immer weiter aus­dehnt und die Aner­ken­nung der Ver­bun­den­heit mit dem Gegen­über und damit ein Gespräch unter Men­schen verunmöglicht.

 

Am 24. Februar 2023 nahm ich Mari­anna Kiya­novska aus der dritten Etappe des Iso­la­ti­ons­ge­fäng­nisses, in das ihr Körper sie seit Herbst gezwungen hatte, in der wie­der­ge­won­nenen Frei­heit in Emp­fang. Mari­anna, die als ukrai­ni­sche Dich­terin aus L’viv gerade im letzten Jahr durch die pol­ni­sche, eng­li­sche und rus­si­sche Über­set­zung ihres Gedicht­zy­klus „Babyn Jar. Stimmen“ inter­na­tio­nale Aner­ken­nung gefunden hat, war schon im Sommer durch ihr Bestehen auf der Fort­füh­rung der Über­set­zung rus­sisch­spra­chiger ukrai­ni­scher Lyrik (ins­be­son­dere von Boris Cher­sonskij) unter ihren ukrai­ni­schen Kolleg:innen in die Kritik geraten, die sich ver­stärkte, als sie im Juli im Lite­ra­ri­schen Col­lo­quium Berlin den Band gemeinsam mit ihren Über­set­zern ins Eng­li­sche und Rus­si­sche, Polina Bars­kova und Ostap Kin, vorstellte.

 

Ein Fel­low­ship am Wis­sen­schafts­kolleg Berlin bot ihr die Mög­lich­keit eines vor den Beschüssen L’vivs sicheren Auf­ent­halts­orts, son­dern auch eine gewisse Distanz zum Alltag dieser Anfein­dungen zu gewinnen. Dafür bezahlte sie mit ihrem Körper, der ganz offen­sicht­lich einen nicht gänz­lich ratio­na­li­sier­baren, hoch­emo­tio­nalen inneren Kon­flikt aus­trug, einen hohen Preis. Plötz­lich auf­tre­tende uner­träg­liche Schmerzen und dadurch bedingt größte Ein­schrän­kungen in der Bewe­gung, zwei kom­pli­zierte Ope­ra­tionen an der Wir­bel­säule, Schmerzen ohne Ende, Gefühl­lo­sig­keit in den Beinen, müh­sames wieder Auf­stehen und Schritt für Schritt mit dem Rol­lator wieder das Gehen üben und zuletzt drei Wochen in einer gefäng­nis­artig abge­rie­gelten Reha-Station.

 

Mari­anna inter­pre­tiert dieses Mar­ty­rium sym­bo­lisch dop­pelt: als Auf-sich-Nehmen des Leids der Ukraine und – gerecht­fer­tigt durch ihre Posi­tion als Dich­terin – reprä­sen­ta­tive Teil­habe daran und als Buße für eine Schuld, die sie selbst nicht akzep­tiert, die ihr jedoch von außen auf­ge­drängt wird, Buße für den von ihr bewusst gepflegten Umgang auch mit rus­si­schen Autor:innen ihres Ver­trauens, Kri­ti­ke­rinnen des Putin­re­gimes, die repres­siert wurden/werden und ihr Land ver­lassen haben wie Maria Ste­pa­nova oder Elena Fana­j­lova. Erst­mals seit einem halben Jahr kann Mari­anna nun wieder die Sprache als Medium der Refle­xion und Inter­pre­ta­tion nutzen. Um den Tag ihrer Ent­las­sung herum hat sie wieder zu dichten begonnen, und mit­hilfe einer Rück­kehr zur Mytho­poetik von der Antike bis Taras Ševčenko findet sie Worte und Formen, um sich dem Gesche­henen sinn­stif­tend zu nähern.

Das Bei­trags­bild ist von Eli­sa­beth Bauer und bildet mit den anderen Bei­trägen des Ukraine-Spe­zials eine Ein­heit in Form der Foto­serie “Ukrai­ni­sches Berlin: Die Stadt als gelb-blauer Sym­bol­raum”.