Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Ukrai­ni­sches Berlin: Die Stadt als gelb-blauer Symbolraum

Mit dem rus­si­schen Groß­an­griff auf die Ukraine ver­wan­delte sich Berlin, wie viele andere Metro­polen Europas, in eine Bühne der Soli­da­rität: Gelb-Blau, die Farben der ukrai­ni­schen Natio­nal­flagge, prägen dem Zei­chen­raum der Stadt ihre sym­bo­li­sche Strahl­kraft auf. Nach über einem Jahr des furcht­baren voll­um­fas­senden Angriffs­kriegs scheinen die Flaggen in ver­schie­denen For­maten, die an Wohn­häu­sern, kul­tu­rellen, admi­nis­tra­tiven und uni­ver­si­tären Gebäuden zu sehen sind, bei­nahe mit der Stadt ver­woben, sogar bereits ein Stück­weit mit ihr geal­tert zu sein. Berlin avan­cierte nicht nur zu einem Aus­tra­gungs­raum für ukrai­ni­sche Pro­test­ver­an­stal­tungen, son­dern wurde leider auch unüber­seh­barer Schau­platz eines ver­schwö­rungs­theo­re­tisch-ange­hauchten Kon­glo­me­rats aus rus­si­schen Kriegstreiber_innen, Pseudo-Pazi­fis­t_innen oder Gegner_innen von Waf­fen­lie­fe­rungen für die exis­ten­zi­elle ukrai­ni­sche Selbstverteidigung.

 

Die Bil­der­serie kon­zen­triert sich auf den unbeug­samen Frei­heits­kampf der Ukrainer_innen gegen den rus­si­schen Aggressor – aus Ber­liner Per­spek­tive. Die Fragen sind berech­tigt: Was können die Natio­nal­farben schon bewirken, außer dass sie Zeugnis ablegen für jene his­to­ri­sche Phase, die mit dem sym­bol­träch­tigen Wort ‘Zei­ten­wende’ über­schrieben worden ist? Was steckt hinter der sym­bo­li­schen Ober­fläche an auf­rich­tigem, ent­schie­denem Enga­ge­ment? Einer­seits wirken die Flaggen im Ber­liner Stadt­raum als mah­nende Erin­ne­rungen an einen gewalt­samen, geno­zi­dalen Krieg in Europa – der erste offene Angriffs­krieg seit fast achtzig Jahren. Ein ver­bre­che­ri­scher Krieg, der sich gegen die Ukraine als Nation, gegen Europa als Idee richtet – und täg­lich wei­tere, tie­fere Wunden in das mate­ri­elle und sym­bo­li­sche, indi­vi­du­elle und kol­lek­tive Bewusst­sein der ukrai­ni­schen Lands­leute reißt. Zum anderen ist das Gelb-Blau von Flaggen, Pla­katen und Graf­fiti für viele mehr als schlichte Natio­nal­sym­bolik: So, wie jene gigan­ti­sche Flagge, die eine Ukrai­nerin auf der Demo vom 24. Februar stolz, aber mit schmerz­er­fülltem Gesicht vor sich her­trug, als könnte sie – zusammen mit dem sei­digen Stoff – die gesamte Ukraine umfassen, sie zusam­men­halten und mit ihr ver­schmelzen, ist das Gelb-Blau nicht nur Meta­pher oder ver­ei­nendes Symbol, son­dern kann – bild­aktiv und met­ony­misch – weit über sich hinaus wirken.

 

“So blitz­artig das punctum auf­tau­chen mag, so ver­fügt es doch, mehr oder weniger vir­tuell, über eine expan­sive Kraft. Diese Kraft ist metonymisch.”

(Roland Bar­thes: Die Helle Kammer, Suhr­kamp, Berlin 2016/1989, S. 55)

Die Foto­gra­phien stammen von Eli­sa­beth Bauer.