Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Kriegs­ge­denken und Soli­da­rität mit der Ukraine – in der Bran­den­burger Peripherie

Gemein­sames Kriegs­ge­denken und Soli­da­rität mit der Ukraine in der Bran­den­burger Peri­pherie: Die Initia­tive “Schön­hagen hilft” orga­ni­sierte am sog. “Tag der Befreiung vom Faschismus”, dem 9. Mai 2022, einen kul­tu­rellen Begeg­nungs­raum mit Gedichten, Kurz­ge­schichten und Musik – von, für und mit geflüch­teten Ukrainer:innen und Anwohner:innen der Gemeinde Gumtow – und schaffte es, den in diesen Zeiten so wich­tigen kolo­ni­al­ge­schicht­li­chen Bogen zwi­schen Zweitem Welt­krieg und rus­si­schem Ver­nich­tungs­krieg zu spannen. Die fol­gende Repor­tage berichtet – in einer Rück­blende – von Soli­da­rität und stellt wich­tige Fragen der Erinnerung.

Wie an das Ende des Zweiten Welt­kriegs erin­nern, wenn ein Land inmitten Europas von einer neuen his­to­ri­schen Kata­strophe, von über­kommen geglaubter Kriegs­roh­heit und geno­zi­dalen Greu­el­taten über­zogen wird? Wenn der Sie­gestag über den Hit­ler­fa­schismus von der rus­si­schen Seite als Tri­umph des Put­in­fa­schismus zele­briert wird – ohne ihn selbst als sol­chen zu benennen?

Die Initia­tive “Schön­hagen hilft”, die ukrai­ni­schen Geflüch­teten in idyl­lisch-länd­li­cher Dörf­lich­keit Wohn­raum und Ein­bin­dung in einen offenen, lokalen Kon­text ermög­li­chen möchte, hat eine Ver­an­stal­tungs­reihe ins Leben gerufen, die die Ver­bin­dungen zwi­schen der ukrai­ni­schen und deut­schen Kultur zu stärken bestrebt ist – über die Sin­nes­ebenen von Lyrik, Prosa, Kuli­narik und Musik.

Felder vor blauem Himmel und Orts­schild Schön­hagen, © Eli­sa­beth Bauer

Am Sonntag, 8. Mai 2022, fand unter Mit­wir­kung der neuen ukrai­ni­schen Mitbürger:innen sowie Anwohner:innen der Gemeinde Gumtow in der Schön­ha­gener evan­ge­li­schen Kapelle die Auf­takt­ver­an­stal­tung eines kul­tu­rellen Begeg­nungs­raums statt. Auch aus Berlin waren Gäste ange­reist, ins­ge­samt kamen etwa vier Dut­zend Besucher:innen.

Die aus Luhansk stam­mende ukrai­ni­sche Schau­spie­lerin Vale­riia Kuz­menko, in den letzten Jahren am Molodyy Teatr in Kyjiw enga­giert, und die in Karl-Marx-Stadt gebo­rene Schau­spie­lerin Kirsten Block, u.a. durch ihre Auf­tritte im “Tatort” bekannt, trugen Gedichte vor: etwa von der nam­haften ukrai­ni­schen Dich­terin Lina Kos­tenko (*1930) oder den sowje­ti­schen Dis­si­den­ten­kreisen ange­hö­renden Dich­tern Vasyl’ Stus, Ivan Dratsch und Vasyl’ Simo­nenko – für diese Ver­an­stal­tung erst­mals ins Deut­sche übertragen.

Kurz­ge­schichten von Ber­told Brecht, Wolf­gang Bor­chard sowie den zeit­ge­nös­si­schen ukrai­ni­schen Autoren Andrij Bondar und Serhij Zhadan wurden ver­lesen. Zwi­schen­durch ermög­lichten musi­ka­li­sche Ein­lagen des Saxo­pho­nisten Thomas Pertzel und des Schau­spie­lers und Lie­der­ma­chers Stefan Jür­gens für Momente der Andacht und Refle­xion. Ein ukrai­ni­sches Büffet erwar­tete die Gäste auf dem Gemein­de­platz – zwi­schen Wiesen und raps­gelben Feldern.

Ver­an­stal­tungs­plakat, © Eli­sa­beth Bauer

Inka Thunecke und ihren Mitstreiter:innen von der Schön­ha­gener Initia­tive ist es zu ver­danken, dass an diesem his­to­ri­schen Tag ein rundes Pro­gramm mit ukrai­ni­schen und deut­schen Bei­tra­genden zustande gekommen ist – und es dabei auch an einem kon­tex­tua­li­sie­renden his­to­ri­schen Überbau nicht fehlte.

“Wenn wir uns heute fragen, was denn die Ukrainer mit sol­cher Vehe­menz ver­tei­digen, so ist es mit einem Wort gesagt: Die Frei­heit”, sagte die Co-Grün­derin der Phro­nesis Dis­kurs­werk­statt und lang­jäh­rige Geschäfts­füh­rerin der Hein­rich-Böll-Stif­tung Bran­den­burg in ihrer Begrüßungsrede.

So ver­passte es Thunecke auch nicht, die so wich­tige Ver­bin­dung zwi­schen sta­li­nis­ti­schem Holo­domor, sys­te­ma­ti­schen NS-Ver­bre­chen – wie den Mas­sen­morden in der Kyjiwer Schlucht Babyn Jar – und dem aktu­ellen Krieg im Namen eines neuen, russ­län­di­schen Faschismus auf dem Ter­ri­to­rium der heu­tigen Ukraine, deren Unab­hän­gig­keit nicht erst seit diesem Früh­jahr gefährdet ist, her­vor­zu­heben. Ost­eu­ro­pa­his­to­riker Timothy Snyder, der mit seinem Buch “Blood­lands” einen ange­mes­senen Begriff für jene dop­pelte Topo­gra­phie kolo­nialer, ter­ro­ris­ti­scher Ver­bre­chen gefunden hat, betont, dass die Ukraine im Zweiten Welt­krieg so viele zivile Opfer wie kein anderes (post­so­wje­ti­sches) Land zu ver­zeichnen hatte.

Vale­riia Kuz­menko, Kirsten Block, Inka Thunecke (linkes Bild) und Vale­riia Kuz­menko (rechts Bild), © Eli­sa­beth Bauer

An diesem 77. Jah­restag der “Befreiung” Deutsch­lands vom Faschismus, wurde in Schön­hagen ein Zei­chen für den ent­schie­denen Kampf für Frei­heit und Demo­kratie gesetzt. Jedoch machte die Ver­an­stal­tung beson­ders eines deut­lich: dass die ukrai­ni­sche Kultur fata­ler­weise – trotz schick­sals­hafter Ver­stri­ckungen – bis heute ein blinder Fleck auf der deut­schen Bewusst­seins- und Erin­ne­rungs­karte ist, den es weiter aus­zu­leuchten gilt.

“Ita­lien oder Frank­reich ohne Lite­ratur ver­stehen, das geht nicht. Die Ukraine ohne Lite­ratur ver­stehen – das geht genauso wenig”, sagt die Frau, der so viel daran gelegen ist, soziale und poli­ti­sche Themen in die Bran­den­burger Peri­pherie zu bringen – und sich dabei auch für den ukrai­nisch-deut­schen Aus­tausch engagiert.

Die Ukrai­nerin Vale­riia Kuz­menko, Anfang zwanzig, fühlte sich unter­dessen nach der Lesung in der Orts­ka­pelle – ihr erster Auf­tritt seit der Inva­sion vom 24. Februar 2022 – in mehr­fa­cher Hin­sicht schmerz­lich an ihr zeit­weilig ver­lo­renes Hei­mat­land erin­nert: Die Raps­felder und der blaue Himmel, Gelb und Blau, hätten auf dem Weg die ukrai­ni­sche Natio­nal­flagge vor ihren Augen auf­ziehen lassen. Und die alte Kas­ta­ni­en­allee im Dorf Schön­hagen, gerade in üppiger Blüte ste­hend, erin­nere sie an die grünen, von Kas­ta­nien gesäumten Straßen von Kyjiw.

 

Die Initia­tive Schön­hagen hilft! sam­melt fort­lau­fend Spenden, etwa, um den neuen ukrai­ni­schen Mitbürger:innen Sprach­kurse anbieten zu können. Spende sind herz­lich will­kommen und können an fol­gendes Spen­den­konto gerichtet werden: 

Spar­kasse Pri­g­nitz: “Schönhagen hilft” / IBAN: DE07 1605 0101 1010 0176 80.

Mehr Infos: https://www.phronesis-diskurs.de/schoenhagen-hilft

Video-Auf­zeich­nung der Ver­an­stal­tung: https://vimeo.com/778833437?embedded=true&source=video_title&owner=147342138

Kas­ta­ni­en­baum in Schön­hagen, © Eli­sa­beth Bauer

Ivan Drač, Vasyl’ Stus und Vasyl’ Sym­o­nenko in Übersetzung

Іван Драч – Соняшний етюд

 

Де котиться між голубих лугів

Хмарина ніжна з білими плечима,

Я продаю сонця – оранжові, тугі,

З тривожними музичними очима.

Ось сонце віри, чисте і просте,

Ось сонце міри з віжками на храпах,

Ось сонце смутку, звідки проросте

Жорстока мудрість в золотих накрапах.

І переливно блискотять сонця

Протуберанцями сторч головою.

Беріть сонця – кладіть мені серця,

Як мідяки, пожмакані журбою.

Я ваші душі клином обмину,

Я не поставлю їх на п’яні карти,

А що сонця за дорогу ціну,

То сонце завжди серця варте.

 

“Вітчизна”, 10, 1961

Ivan Drač: Son­nenetüde

 

Wo sich zwi­schen blauen Wiesen dreht

Eine sanfte Wolke mit weißen Schultern

Ver­kaufe ich Sonnen — oran­gene, traurige,

Mit ängst­li­chen, musi­ka­li­schen Augen.

Hier die Sonne des Glau­bens, schlicht und einfach.

Hier die Sonne des Maßes, im Zaume gehalten,

Hier die Sonne der Trauer, aus der erwächst

Die grau­same Weis­heit in gol­denen Tröpfchen.

Und grell fun­keln die Sonnen

Mit Pro­tu­ber­anzen auf des Kopfes Höhe.

Nimm die Sonnen — gib mir die Herzen,

Wie Kupfer, von Kummer zermahlen.

Ich werde eure Seelen mit dem Keil verschonen,

Ich setze sie nicht trunken auf’s Spiel,

Und die Sonnen zu hohem Preise,

Die sind immer ein Herz wert.

 

“Vater­land”, 10, 1961

Іван Драч – Нічний етюд

 

Не кров з молоком, а кров із ніччю –

Про тебе задумуватись весняною порою

І сльози збирати по твоєму обличчю

Тугою всезнаючою рукою.

Ти – спеки настій. Ти – пустеля палюча.

В тобі заблукати, а потім не вийти.

Ти – пристрасті дикої горда круча,

З якої кидатись несамовитим.

Руки обплетені, вуста обпалені

Глибинними незагнузданними пожежами,

І зеленокоса ніжність пальми

Тебе не схолодить своїми одежами.

Зорі б тобі підійшли за намисто,

Та од захоплення повмирають…

І як ти землі не підпалиш, вогниста,

 

Мій буйний,

Мій карий,

Мій чорний раю!

Ivan Drač: Nachtetüde

 

Kein Blut mit Milch, son­dern Blut mit Nacht –

An dich in der Früh­lings­zeit zu denken

Und Tränen von deinem Gesicht zu lesen

Mit bestimmter, all­wis­sender Hand.

Du – ein Hit­ze­ex­trakt. Du – eine sen­gende Wüste.

Sich in dir ver­lieren und dann nicht rauskommen.

Du – ein stolzer Hang wilder Leidenschaft,

Von dem es einen unge­stüm hinunterreißt.

Die Hände gebunden, die Lippen verbrannt

Von tiefen, unbän­digen Feuern,

Und die grün-zün­gelnde Sanft­heit der Palme

Kühlt dich mit ihren Klei­dern nicht ab.

Sterne würden dir als Hals­schmuck dienen

Und vor Ver­zü­ckung sterben…

Wenn du die Erde nicht anzün­dest, feurig,

 

Mein wildes,

Mein braunes,

Mein schwarzes Paradies!

Василь Стус: За мною Київ тягнеться у снах

 

За мною Київ тягнеться у снах.

Зелена глиця і темнава червінь

достиглих черешень. Не зрадьте, нерви:

попереду — твій край, твій крах, твій прах.

Прослалася дорога — вся в снігах,

і простори — горбаті і безкраї —

подвигнуть розпач. О коханий краю,

ти наче посаг мій — у головах.

І сива мати височіє в снах.

Рука її, кістлява, наче гілка

у намерзі. Лунає десь гагілка,

і в сонці стежка. Й тупіт у степах.

Vasyl’ Stus: Kyjiw folgt mir in den Träumen

 

Kyjiw folgt mir in den Träumen.

Grüner Glanz und ein dunkler Wurm

in reifen Kir­schen. Ver­ratet es nicht, Nerven:

vor dir – dein Land, dein Ver­derben, dein Staub.

Gepflas­tert war die Straße ganz in Schnee

und die Ebenen – hügelig und grenzenlos –

rufen Ver­zweif­lung hervor. Oh, geliebtes Land,

du bist wie meine Mit­gift – in den Köpfen.

Ergraut, erhebt sich die Mutter in den Träumen.

Ihre Hand, kno­chig, wie ein Ast im Frost.

Irgendwo ertönt ein Gur­geln, im Sonnenstrahl.

Und ein Stampfen in der Steppe.

Василь Симоненко: Ми думаєм про вас…

 

Ми думаєм про вас. В погожі літні ночі,

В морозні ранки, і вечірній час,

І в свята гомінки, і в дні робочі

Ми думаємо, правнуки, про вас.

Ми думаєм про вас – і тому наші руки

Не в’януть біля плуга і станка,

Тому серця у нас не витончена мука,

А радість голосиста і дзвінка.

Ні, то не сум промінить риса кожна,

То творчість б’є з натхненних наших віч,

А творчість завжди мрійна і тривожна,

Немов травнева неспокійна ніч.

Ні, сонний спокій зовсім нам не сниться,

Ні, нас не вабить ніжна тишина –

Прийдешнє осяває наші лиця,

Неспокій творчий з вічністю єдна.

І тому ми спокійно і суворо

Стрічаємо у праці і борні

Наклепи злобні і тупі докори,

Потоки божевільної брехні.

Ми думаєм про вас. В погожі літні ночі,

В морозні ранки і вечірній час,

На свята гомінки і в дні робочі,

Нащадки дорогі, ми захищаєм вас.

 

1.II.1958

Vasyl’ Symo­nenko: Wir denken an euch…

 

Wir denken an euch. In hei­teren Sommernächten,

An fros­tigen Morgen, in der Abendstunde,

Sowohl an Feier- als auch an Werktagen

Wir denken an euch – damit unsere Hände

Neben Pflug und Maschine nicht niedersinken,

Damit unsere Herzen kein feines Mehl sind,

Son­dern die Freude laut und tönend sei.

Nein, nicht Trau­rig­keit durch­zieht jeden Zug,

Krea­ti­vität schlägt aus unseren leuch­tenden Augen,

Krea­ti­vität ist immer träu­me­risch und ängstlich,

Wie eine unru­hige Mainacht.

Nein, wir träumen nicht von schläf­riger Ruhe,

Nein, lassen uns nicht von schmei­chelnder Stille verlocken –

Das Kom­mende erhellt unsere Gesichter,

Schöp­fe­ri­sche Unruhe ist mit der Ewig­keit vereint.

Und darum sind wir ruhig und hart

Begegnen bei der Arbeit und im Kampfe

Bos­haften Ver­leum­dungen und stumpfen Vorwürfen,

Strömen wahn­sin­niger Lügen.

Wir denken an euch. In hei­teren Sommernächten,

An fros­tigen Morgen, in der Abendstunde,

Sowohl an Feier- als auch an Werktagen,

Liebe Nach­kommen, wir beschützen euch.

 

1.II.1958

Über­se­tung: Eli­sa­beth Bauer