Der Krieg verändert den Wortschatz, behauptet Serhij Žadan in Kapläne und Atheisten. Er befüllt ihn mit nach Metall schmeckenden und nach Brand riechenden Begriffen, die in unserer Alltagssprache für immer Spuren hinterlassen. Die Sprache des Kriegs verändert auch das Schreiben und ‚infiziert‛ literarische Texte. Das Gedicht Krieg (Vijna) von Vasyl’ Machno (geb. 1964), ukrainischem Dichter, Übersetzer und Publizist, zeigt deutlich, wie die russische Aggression der Ukraine die Sprache der Lyrik ‚ansteckt‛. Der Text wurde am 24. Februar auf die Webseite Čytomo hochgeladen und ist demnach eine unmittelbare (und wütende) Antwort auf die Invasion. In Krieg verflechtet sich eine militärische Begrifflichkeit mit intertextuellen Verweisen auf die russische Literatur (Belyj, Blok und Esenin), auf ein Gedicht des sowjetisch-ukrainischen Dichters Pavlo Tyčyna (1891-1967) und auf das ambivalente mittelalterliche Epos Igorlied. Die Geschichte der Rus’ reaktiviert und reaktualisiert sich in die antikoloniale Hassrede des lyrischen Subjektes gegen das russländische Volk, das in einem suggestiven Bild als eine Horde von Barbaren dargestellt wird, die, barfuß auf einem Wolf reitend, das Herz der Ukraine (Kyiv) angreift und von allen Seiten umzingelt. Die Aggressoren scheinen sogar den Weg der Zivilisation verlassen zu haben. Weil Patriarch Kyrill den Krieg unterstützt, wurden die Ikonen schwarz, sie sind von Hass und Gewalt kontaminiert – so wie der weiße Februarschnee vom gegossenen Blut kontaminiert wird. Aber die Russen sind nicht an allem schuld. Es ist – das ist die Botschaft der letzten Strophe – auch Menschen wie Tyčyna zu verdanken, dass Russland der Ukraine jegliche Souveränität abspricht. In den 1920er Jahren hat Tyčyna die Bolschewiki willkommen geheißen, und in den 1930er Jahren hat er sich an die Dogmen des Sozialistischen Realismus angepasst und politische Karriere in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik gemacht. Warum haben Ukrainerinnen und Ukrainer die Gedichte Tyčynas nicht ernst genommen, in denen der Dichter Russland als seine Heimat betrachtet? Jetzt ist der Feind da, er hat – wie Igors Heer im Igorlied – Flüsse und Grenzen überquert, alea iacta est.
Die deutsche Übersetzung von Vijna wurde im Rahmen des Benefizworkshops „Übersetzungsworkshop: Ukrainische Gedichte über den Krieg“ verfasst, den Manuel Ghilarducci am 24. Juni 2022 an der Universität Potsdam angeboten hatte. Herzlicher Dank gilt den Workshop-Teilnehmenden, die dieses interessante, aber auch sehr komplexe Gedicht einem breiteren Publikum zugänglich gemacht haben.
Війна
Господи, як там в Тичини:
«І Бєлий, і Блок, і Єсєнін»
як вони нас оточили
з усіх чотирьох обсіли
дай же нам сили і міці
тривожну валізку і хліб
брешуть же їхні лисиці
що в нас ні щитів ні століть
кудись же веде нас Ігор
за Дон зі своїм полком
сьогодні з лютневим снігом
і завтра – з черленим щитом
а тьма їхня з Тьмуторокані
а їхні – мокша і чудь
стріляють по нашому стані
по наших позиціях б’ють
то що там у «Слові о полку»?
і що там «шт» та «жд»
ви – скачучи босим вовком
гублячи слину вражди
дійшли до річок та кордонів
до серця мого в кулаці
зчорніли ваші ікони
не відбілите і в молоці
Господи як там в Тичини:
про Київ – Месію – про край
чому ми ці вірші не вчили?
стікай – моє серце – стікай
Krieg
Gott, wie heißt es bei Tyčyna
wie sie uns umringt haben
umzingelt von allen Seiten
so gib uns Kraft und Stärke
Marschgepäck und Brot
lügen doch ihre Füchse
dass wir weder Schilde noch Jahrhunderte haben
wohin führt uns denn Igor
hinter den Don mit seinem Heer
heute mit Februarschnee
und morgen mit blutrotem Schild
und ihre Horden aus T’mutorokan’
schießen auf unsere Posten
schlagen auf unsere Stellungen ein
und was steht da im „Igorlied“?
und was sollen die „št“ und „žd“ da
ihr – reitet barfuß auf einem Wolf
und trieft vor Feindseligkeit
seid vorgedrungen bis zu Flüssen und Grenzen
mein Herz schon in der Faust
es schwärzten sich eure Ikonen
und auch mit Milch bekommt ihr sie nicht mehr weiß
Gott, wie heißt es bei Tyčyna
über Kyiv, den Messias, das Land
Warum haben wir diese Verse nicht wirklich gelernt?
beruhige dich, mein Herz, beruhige dich
Das zitierte Gedicht von Tyčyna stammt aus dem Jahr 1919 und beginnt mit den Versen „Belyj, Blok, Esenin und Kljuev: Russland, Russland, o mein Russland!“ („І Бєлий, і Блок, і Єсєнін, і Клюєв: / Росіє, Росіє, Росіє моя!“).
Hier sind sowohl die Schilder der Rus’ als auch die Schilde im Sinne der Schutzausrüstung gemeint.
Auch: T’mutarakan’. Mittelalterliche Stadt im Halbinsel Taman, die auch im Igorlied vorkommt. Umgangssprachlich bezeichnet das Wort einen einsamen, abgelegenen Ort.
Mokša: Wolgafinnen, die heute in Mordwinien leben. Čud’: altrussische Bezeichnung zunächst für die Esten, dann für alle baltischen Völker. Möglicherweise verwandt mit čuždyj (‚fremd‛). In dieser Strophe verweist der Dichter zum einen auf die Rekrutierung in die russische Armee von jedem, der kampfbereit ist, zum anderen bestreitet er implizit die Zugehörigkeit der Russen zur slawischen Welt und dadurch die Verwandtschaft mit den Ukrainer*innen. Es handelt sich um eine Strategie des othering, die die Andersartigkeit des Anderen (nicht zuletzt rassistisch) hervorhebt.
Möglicherweise ein Verweis auf altrussische Lauten.[
Übersetzung von: Manuel Ghilarducci, Angela Huber, Leander Lukas, Jennifer Oslan, Alexander Wöll