Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Der Krieg am Ende und am Anfang des Lebens. Mari­anna Kiyanovska

Mari­anna Kiya­novska ist eine preis­ge­krönte ukrai­ni­sche Dich­terin aus L’viv, die der­zeit in Berlin lebt. Susanne Frank hat ihren Essay  “Війна в кінці й на початку життя”  ins Deut­sche übertragen.

Bei der Lek­türe von Briefen und Tage­bü­chern pol­ni­scher Kul­tur­schaf­fender aus der Zeit zwi­schen den beiden Welt­kriegen habe ich einmal einen Satz in mein Notiz­buch geschrieben: “Der Krieg findet immer am Ende oder am Anfang des Lebens statt, nach allem, was geschehen ist, und vor allem, was noch geschehen wird.” Das Notiz­buch ist mit “S” unter­zeichnet. Ich habe bereits ver­gessen, wer gemeint ist. Aber die Worte sind geblieben.

 

Jetzt, wie vor fast hun­dert Jahren, ist der Krieg in die Rea­lität ein­ge­bro­chen, hat Men­schen­leben aus­ge­löscht, uns der Hoff­nung und der Mensch­lich­keit beraubt, die ganze Exis­tenz, die wir vorher hatten, zer­stört oder zumin­dest bis ins Mark verändert.

 

In den frühen 2000er Jahren, wäh­rend der scheinbar fried­li­chen Jahr­zehnte meiner Ent­wick­lung als Mensch, war ich noch nicht in der Lage, irgend­etwas zu lesen, das aus dem Inneren des Krieges geschrieben wurde, oder besser gesagt, mir fehlte die See­len­ar­beit, um zu ver­stehen, dass ich die Gedanken und Erfah­rungen von Über­le­benden las. Oder ihrer Nach­kommen. Primo Levi, der wie durch ein Wunder eben­falls über­lebte, stellte scho­nungslos fest, dass wir, von wenigen Aus­nahmen abge­sehen, nur die Geschichten der­je­nigen kennen, die es geschafft haben, im Krieges und durch den Krieg nicht zu sterben. Aber auch die Über­le­benden sind fast immer explizit oder unsichtbar hin­ge­rich­tete, ver­brauchte, äußer­lich oder inner­lich ver­stüm­melte, zer­störte, töd­lich ver­wun­dete Men­schen. Einigen wenigen ist es unter großen Anstren­gungen gelungen, ins Leben zurück­zu­kehren, aber nie­mand ist in das Leben zurück­ge­kehrt, das er vorher hatte. Einige wenige schafften es, so zu tun, als ob sie es getan hätten.

 

So las ich vor etwa zwanzig Jahren zum ersten Mal Buch für Buch in pol­ni­scher Sprache die Schriften von Män­nern und Frauen aus der “ver­lo­renen Gene­ra­tion” mit ihrer direkten, tiefen Erfah­rung des gestoh­lenen, “ver­lo­renen Lebens”. Ver­loren natür­lich nicht im wört­li­chen, son­dern im über­tra­genen Sinne. Denn wer im wahrsten Sinne des Wortes getötet wird, hat keine Zeit zum Nach­denken und Zeugnis ablegen.

 

Etwa fünf Jahre später, im Jahr 2009, sollte ich im ver­schneiten Januar Geor­giens wirk­lich in die schmerz­haften, tief emp­fun­denen Erfah­rungen des Landes mit Krieg und “Frie­dens­er­zwin­gung” eintauchen.

 

Nachdem ich das Sti­pen­dium der Gaude Polonia erhalten hatte, kon­zen­trierte ich mich auf die Zwi­schen­kriegs­zeit des zwan­zigsten Jahr­hun­derts. Jahr­hun­derts. 1922 und auch noch 1932 war die Welt von den Nach­wir­kungen des Ersten Welt­kriegs und viel­leicht sogar von einer ängst­li­chen Vor­ah­nung des nächsten Krieges geprägt. Lange Vor­le­sungen aus und über eine ver­meint­liche Frie­dens­zeit, aber in Wirk­lich­keit aus dem “Auge des Wir­bel­sturms” des Großen Krieges des zwan­zigsten Jahr­hun­derts, erwies sich als absolut ent­schei­dend für mein Bewusstsein.

 

Jetzt weiß ich aus der Per­spek­tive des Januars 2023, dass der Krieg, wenn er einmal in das mensch­liche Leben getreten ist, nie mehr auf­hört, dass er in der Rea­lität und in der Phan­tasie spukt, einem den Schlaf und die Luft raubt und in Par­oxysmen von Krämpfen die Seele bricht und die Kno­chen zer­malmt. Ich weiß, dass der Krieg zu einem unwi­der­ruf­li­chen Anstoß zum Unmög­li­chen wird: zum Hel­dentum, zur Selbst­ver­leug­nung, aber auch zur extremen Ein­sam­keit, wie in einer defekten Baracke, wenn der Druck von innen die Lunge, die Leber und das Gehirn plattdrückt.

 

Manchmal gewöhnt der Krieg einen an ein mecha­ni­sches, geord­netes, gleich­gül­tiges, sorg­loses und ver­wit­tertes Dasein unter Feuer, wenn man immer wieder mor­gens auf­steht, kocht, spa­zieren geht, den Hund oder die Katze strei­chelt, ins Bett geht, und das eine Woche, einen Monat, sechs Monate, Jahre lang… Die langen, end­losen Minuten ver­gehen. Man­chen Men­schen gehen schließ­lich die Nah­rung, das Wasser und später sogar die Luft und das Land aus, aber die Gelas­sen­heit, die Ruhe, die Auf­ge­regt­heit, die Gefühl­lo­sig­keit, die lächelnde Gefühl­lo­sig­keit, die zur Auto­matik geworden sind, ändern sich nicht und ver­schwinden nicht und werden schließ­lich zu einer uner­schöpf­li­chen, grund­le­genden Eigen­schaft von Körper und Bewusst­sein. Und gleich­zeitig gibt es Men­schen, für die sich Sonne, Mond, Herz und Sterne in den ersten Minuten und dann wäh­rend der ganzen Tage und Nächte des Krieges schwarz färben und zu Asche werden.

 

Man kann sich im relativ sicheren Lem­berg, Usch­horod oder Czer­no­witz auf­halten, im ver­meint­lich sicheren Polen, Deutsch­land, den Nie­der­landen oder dem Ver­ei­nigten König­reich, Essen und Wasser gehen viel­leicht nicht aus, man erfährt von Beschuss aus den Nach­richten oder von Freunden, aber egal, wo man ist, der Krieg füllt immer noch den Körper, das Gehirn, ver­giftet, zer­stört und bricht jedes Mal, auf allen Ebenen, die Zeit und das Sein in “vorher” und “nachher”.

 

In den unend­lich dahin­krie­chenden, zäh­flüs­sigen, gna­denlos zer­mür­benden Minuten des Krieges ist jede Sekunde ein wei­terer Atemzug, jeder nächste ein Aus­atmen, und der über­nächste ein Schlag oder ein Stoß, eine Moti­va­tion, einen wei­teren Schritt, einen wei­teren Sprung zu tun. Oder umge­kehrt – ein Grund zu schrumpfen, zu erstarren, zu ver­schwinden. Manchmal ent­puppt sich einer dieser Momente als ein Zei­chen des Endes, des end­gül­tigen Endes, mit dem starken Auf­prall­ge­wicht des letzten Tropfens.

 

Auf die eine oder andere Weise zwingt dich der Krieg, ent­weder weg­zu­laufen oder zu bleiben, und wenn du bleibst, stirbst du ent­weder oder ergibst dich, und dann fängst du an zu kämpfen, zu kämpfen, zu kämpfen, zu kämpfen, und hörst auf den Atem und den Herz­schlag der Men­schen um dich herum.

 

Dieser Krieg, hier und jetzt, im Januar 2023, findet zu einem beson­deren Zeit­punkt in meinem Leben statt: Ich wurde 1973 geboren, vor fünfzig Jahren. Obwohl ich viel­leicht gerade jetzt geboren und gestorben bin, bin ich wie durch ein Wunder dem Tod in diesem Krieg ent­kommen – nicht unter Beschuss, nicht in den Schüt­zen­gräben, son­dern nachdem ich genau einen Monat lang tagein, tagaus im St. Ger­trud-Kran­ken­haus in Berlin ver­bracht habe, nachdem ich zwei auf­ein­an­der­fol­gende, wirk­lich extrem schwie­rige Ope­ra­tionen an der Wir­bel­säule unter fünf- und neun­stün­diger Nar­kose über­standen habe, die ange­sichts der totalen Strom­aus­fälle in der Ukraine wahr­schein­lich nicht durch­ge­führt worden wären. Fast genau in der Mitte des Herbstes befand ich mich wieder an dem Punkt der ulti­ma­tiven Ver­wand­lung von mir und der Welt, der Gesamt­heit meines Den­kens, Spre­chens und Schrei­bens – “nach allem, was geschehen ist, vor allem, was noch geschehen muss”.

 

Auf die eine oder andere Weise zwingt dich der Krieg, ent­weder weg­zu­laufen oder zu bleiben, und wenn du bleibst, stirbst du ent­weder oder ergibst dich, und dann fängst du an zu kämpfen, zu kämpfen, zu kämpfen, zu kämpfen, und hörst auf den Atem und den Herz­schlag der Men­schen um dich herum.

 

Dieser Krieg, hier und jetzt, im Januar 2023, findet zu einem beson­deren Zeit­punkt in meinem Leben statt: Ich wurde 1973 geboren, vor fünfzig Jahren. Obwohl ich viel­leicht gerade jetzt geboren und gestorben bin, bin ich wie durch ein Wunder dem Tod in diesem Krieg ent­kommen – nicht unter Beschuss, nicht in den Schüt­zen­gräben, son­dern nachdem ich genau einen Monat lang tagein, tagaus im St. Ger­trud-Kran­ken­haus in Berlin ver­bracht habe, nachdem ich zwei auf­ein­an­der­fol­gende, wirk­lich extrem schwie­rige Ope­ra­tionen an der Wir­bel­säule unter fünf- und neun­stün­diger Nar­kose über­standen habe, die ange­sichts der totalen Strom­aus­fälle in der Ukraine wahr­schein­lich nicht durch­ge­führt worden wären. Fast genau in der Mitte des Herbstes befand ich mich wieder an dem Punkt der ulti­ma­tiven Ver­wand­lung von mir und der Welt, der Gesamt­heit meines Den­kens, Spre­chens und Schrei­bens – “nach allem, was geschehen ist, vor allem, was noch geschehen muss”.

 

Dieser Krieg – nach der voll­stän­digen Inva­sion im Februar 2022 – ist meine per­sön­liche Last, meine eigene uner­träg­liche Last, die so schreck­lich ist, dass sie mir buch­stäb­lich den Rücken bricht, phy­sisch. Mein Herz und meine Seele wollen nicht die Last der Qualen von Mil­lionen von Men­schen, das Grauen des Todes von Hun­dert­tau­senden tragen. Die “Himm­li­schen Hun­dert”, die Anne­xion der Krim, die Teil­be­set­zung der Regionen Donezk und Luhansk haben auch schreck­lich und uner­träg­lich geschmerzt, aber dieser Schmerz war noch nicht so unendlich.

 

Ich bin nie­mals vor diesem Krieg weg­ge­laufen. Ich bin nicht vor ihm weg­ge­laufen. Jeden Moment seit Dezember 2013 wollte und ver­suchte ich, etwas für den Sieg zu tun, für alle. Aber als die rus­si­schen Luft- und Raum­fahrt­kräfte am Ende einer dummen Febru­ar­nacht im Jahr 2022 Kiew, Charkiw und meine anderen Städte beschossen, als im Mor­gen­grauen des­selben Tages rus­si­sche Raketen in der Region Lem­berg ein­schlugen: in Brody, Nowyi Kalyniw und Kami­anka-Buzka (der kleinen Hei­mat­stadt meines Vaters), da hörte ich auf einer beson­deren Ebene auf zu existieren.

 

Ich “starb” in dieser Nacht und in den fol­genden Tagen und Nächten, als meine – meine! – wehr­lose Zivil­be­völ­ke­rung unter Feuer, unter Kugeln starb, buch­stäb­lich vor den Augen der ganzen Welt. Die ganze Welt ver­folgte den Ein­marsch Russ­lands in die Ukraine online. In glo­baler Echt­zeit erfuhr ich, dass jemand sein Leben durch bru­tale Folter ver­loren hatte, jemand in einem bren­nenden Auto, jemand auf dem Bahn­steig eines Bahn­hofs. Ein Arzt, der ein Baby ent­bindet. Ret­tungs­kräfte, Jour­na­listen – bei wie­der­holtem Beschuss des­selben Ziels. Fast ohne Herz­klopfen erfuhr ich von den ersten Hun­derten von Men­schen, die von den Besat­zern hin­ge­richtet wurden: Zivi­listen, sogar Kinder, wurden mit auf dem Rücken gefes­selten Händen erschossen. Immer wieder “starb” ich, wenn der Tod eines unserer Ver­tei­diger bestä­tigt wurde.

 

Ein anderer Teil von mir “starb” im März 2022, als ich unter den Trüm­mern der zer­störten Hoch­häuser erstickte. In jenen ersten Früh­lings­wo­chen lag ich im Sterben – buch­stäb­lich im Sterben – an einer Lun­gen­ent­zün­dung, an unbe­schreib­li­cher Ver­zweif­lung, die ein Mensch nicht aus­spre­chen oder auch nur denken kann. Meine Lungen nahmen in jenen Tagen buch­stäb­lich keine Luft mehr auf, ver­wei­gerten den Sau­er­stoff und waren durch den Schock der Trauer geplättet. Meh­rere Fami­lien – sehr enge und liebe Freunde von mir – ent­kamen wie durch ein Wunder aus But­scha und Irpin. Wäh­rend sie unter Beschuss und Besat­zung standen, war ich so besorgt um sie, dass meine Augen dunkel wurden.

 

Seit fast einem Jahr, Tag für Tag, kann mein Körper nicht ertragen, was ich fühle und denke. Er kann es nicht ertragen, mitten im Krieg zu leben. Der Körper selbst beraubt sich einer Rea­lität, in der neben den Bomben, die auf Ent­bin­dungs­sta­tionen, Kran­ken­häuser, Kin­der­gärten und Schulen abge­worfen werden, viel­leicht auch Sei­fen­fa­briken in Kel­lern ein­ge­richtet werden, in denen in bester Tra­di­tion des Dritten Rei­ches Men­schen­fett zu Seife ver­ar­beitet wird.

 

Heute ist der 340. Tag des Krieges. In den Monaten, die ich seit Februar 2022 im Bett ver­bracht habe, hätte jemand ein Haus bauen können. Jemand hätte Zeit gehabt, zu pflanzen, zu kul­ti­vieren und zu ernten.

 

Aber das Haus von jemandem wurde nicht gebaut: Der Fami­li­en­vater ist im Krieg. Die Ernte ist nicht ein­ge­bracht worden: Das Feld ist besetzt. Und heute Morgen bin ich weit weg von zu Hause auf­ge­wacht, immer noch “besetzt” von Teil­im­mo­bi­lien und Selbst­quä­lerei. Denn ich habe immer noch nichts Wesent­li­ches für den Sieg getan.

 

Mich zer­reißt die Erkenntnis, dass ich in diesen mehr als acht­tau­send Stunden meinem Land noch nicht annä­hernd etwas geben konnte, und ich weiß nicht, ob ich das noch nach­holen kann. Und ich bin mir bereits bewusst, dass dies für den Rest meines Lebens meine eigene, beson­dere, andere Last sein wird.

 

Viel­leicht ist das ein­zige, woran ich glaube und was ich tun kann, wozu ich fähig bin, solange ich lebe, die Arbeit an der Zukunft. Wenn ich in meinen Tagen des per­sön­li­chen Schmerzes, der Trauer und der Angst dar­über nach­denke, gibt mir das einen Sinn und eine Per­spek­tive für mein Leben. Denn ohne eine große, kon­ti­nu­ier­liche, bewusste Arbeit an der Zukunft ist auch der Sieg sinnlos.

Über­set­zung: Susanne Frank

Das Bei­trags­bild ist von Eli­sa­beth Bauer und bildet mit den anderen Bei­trägen des Ukraine-Spe­zials eine Ein­heit in Form der Foto­serie “Ukrai­ni­sches Berlin: Die Stadt als gelb-blauer Sym­bol­raum”.