Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Ver­such eines Rück­blicks: Aus­bruch eines Großen Krieges in Europa am 24. Februar 2022

Eine Nach­richt aus Geor­gien brachte mir am frühen Morgen des 24. Februars 2022 die Kriegs­bot­schaft. Meine Schwester schrieb aus Tbi­lissi nach Berlin – „Russ­land ist in die  Ukraine ein­mar­schiert“. Etliche Tele­fo­nate mit Familie und Freund_innen folgten. Spontan wurden die ersten chao­ti­schen Flucht­pläne geschmiedet – natür­lich würden wir zunächst nach West­ge­or­gien, nach Gurien fliehen, von wo wir auch her­kommen, so meine Mutter; von Batumi liegt die tür­ki­sche Grenze nicht weit. Der Osten des Landes mit der Haupt­stadt schien uns viel zu gefähr­lich. Die von Russ­land annek­tierten Gebiete in Süd­os­se­tien liegen wenige Kilo­meter ent­fernt von Tbi­lissi. Sie können jeder­zeit mit den Pan­zern ins Lan­des­in­nere hinein.

 

Heute fällt mir auf, dass unsere (ima­gi­nierten) Flucht­pläne in den dreißig Jahren der Geschichte des unab­hän­gigen Geor­giens immer die glei­chen blieben – über Adscha­rien in die (sichere) Türkei. So war­teten wir 2008 wäh­rend des August­krieges in Ozur­geti auf den Kof­fern sit­zend auf den Start­schuss meines Vaters. Die rus­si­schen Bomben fielen wenige Kilo­meter ent­fernt in Poti. Ich spürte die Explo­si­ons­welle auf meiner Haut. Auch wäh­rend des Abcha­si­en­krieges Anfang der 1990er Jahre stand unser per­sön­li­cher Flucht­plan schon fest – Vater an der Front, wir in Adscha­rien und falls nötig, weiter Rich­tung Türkei.

 

Die Tat­sache einer neuen totalen Kriegs­rea­lität in Europa schien im Februar des ver­gan­genen Jahres die Georgier_innen mit mehr Schock, Ver­zweif­lung und Wut erfüllt zu haben, als mein Umfeld in Deutsch­land. Natür­lich war in Geor­gien die  Angst ange­sichts der realen Bedro­hung mit ver­gan­genen Kriegen in Abcha­sien und Süd­os­se­tien viel exis­ten­ti­eller. Nach oder viel­leicht auch zeit­gleich mit der Ukraine wäre Geor­gien das nächste Opfer der impe­ria­lis­ti­schen Visionen Russ­lands mit Putin an der Macht.

 

Am 24. Februar 2022, gegen 11:00 Uhr stand ich auf dem Pariser Platz gegen­über des Bran­den­burger Tors. 11:39 schoß ich dieses Foto mit meinem Handy. Neben der Text­nach­richt meiner Schwester, stellt diese Foto­gra­phie mein per­sön­li­ches Zeugnis des Krieges dar – meine aller­erste foto­gra­phi­sche Doku­men­ta­tion des 24. Februars, die mein Gedächtnis mit einer Zäsur mar­kiert. Ein totaler Bruch mit der Nor­ma­lität, eine unum­kehr­bare Tren­nung zwi­schen dem Davor und Danach. In meinem Foto­ar­chiv mar­kiert dieses Foto den Anfang des bru­talen Krieges in Europa. Ich kann mich immer noch ganz genau daran erin­nern, wie ich zunächst abseits der kleinen Gruppe, die sich dort zur Soli­da­ri­täts­de­mons­tra­tion ver­sam­melt hatte, instinktiv und unbe­wusst nach geor­gi­schen Gesich­tern und Fahnen suchte und sie auch ent­deckte. Später for­mierte sich daraus eine kleine Gruppe geor­gi­scher Migrant_innen.

 

 

Auf diesem Foto ist es bereits 12:07 Uhr. Ich habe mich auf die Bank hin­ge­setzt, um kurz in die aktu­ellen Nach­richten zu schauen. Ich weiß noch ganz genau, wie ich einige Minuten lang dort saß, ver­zwei­felt her­um­schaute und nach ver­trauten Gesich­tern suchte. Am Nach­mittag des 24. Februars wech­selten wir vom Pariser Platz zunächst zum Kanz­leramt, um später wieder vor dem Bran­den­burger Tor mit einer grö­ßeren Gruppe zu demons­trieren. Obwohl der Fei­er­abend schon längst im Gange war, waren wir umgeben über­wie­gend von Ukrainer_innen und Migrant_innen aus den post­so­wje­ti­schen und post­kom­mu­nis­ti­schen Ländern.

 

Immer, wenn ich auf diesen Tag zurück­blicke, über­kommt mich das Gefühl, dass ich damals eine west­eu­ro­päi­sche Distan­ziert­heit, Skepsis oder viel­leicht auch Gleich­gül­tig­keit erlebte, die mich für immer prägen wird. Zwar wurden die nächsten Demons­tra­tionen immer größer, den­noch konnte ich nicht das Gefühl unter­drü­cken, dass die Soli­da­li­sie­rung mit der Ukraine in Deutsch­land nicht ihre volle Kraft ent­fal­tete. Für die über­wie­gende Mehr­heit der deut­schen Gesell­schaft lief das „Busi­ness as usual“ seinen gewohnten Gang. Auch in meinem unmit­tel­baren Umfeld. Wie war es mög­lich, diesen Krieg zunächst so kom­men­tarlos hin­zu­nehmen? Trotz der wach­senden Soli­da­ri­täts­kam­pa­gnen nahm ich diese ent­stan­dene Kluft immer inten­siver wahr.

 

Auch ein Jahr später, wo wir nun vor dem Café Kyiv (einst Café Moskau) stehen und ich die Gesichter wider­er­kenne, die ich am Morgen des 24. Februar 2022 auch schon sah, spüre ich diese Kluft zwi­schen uns und den Mil­lionen von Men­schen hier­zu­lande. Der Große Krieg geht mit seiner zer­stö­re­ri­schen Wucht seit einem Jahr weiter. Mein Hei­mat­land wird von einem pro­rus­si­schen Olig­ar­chen regiert, der heuch­le­risch eine ver­meint­liche Sicher­heits­rhe­torik bemüht. Was mir heute, wie damals, viel Kraft und Zuver­sicht schenkt, sind die Ukrainer_innen, die uner­müd­lich wei­ter­kämpfen. Eine ukrai­ni­sche Spre­cherin sagte am 24. Februar auf der Demo „Unser Frieden muss gewonnen werden“. Die Ukraine wird den Frieden gewinnen.

 

 

Die Autorin Irine Ber­idze ist novinki-Redak­ti­ons­mit­glied und Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­lerin aus Geor­gien, lebt und arbeitet in Berlin.

Das Bei­trags­bild ist von Eli­sa­beth Bauer und bildet mit den anderen Bei­trägen des Ukraine-Spe­zials eine Ein­heit in Form der Foto­serie “Ukrai­ni­sches Berlin: Die Stadt als gelb-blauer Sym­bol­raum”.