Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Das Leben unter dem Krieg. Iryna Starovojt

Iryna Sta­ro­vojt ist Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­lerin und Pro­fes­sorin in L’viv. Susanne Frank, Pro­fes­sorin für Ost­sla­wi­sche Lite­ra­turen und Kul­turen, hat einen ukrai­ni­schen Essay von Sta­ro­vojt ins Detu­sche über­tragen. Das Ori­ginal ist hier zu finden.

Zuerst zit­tern meine Lippen, mein Rücken wird taub – nicht von kör­per­li­cher Müdig­keit, son­dern von einem schweren, gebro­chenen Herzen. Und eine Art meta­phy­si­sches Loch ent­steht zwi­schen den Schul­ter­blät­tern. Man kann es im Spiegel nicht sehen, aber es ist da.

Es ist extrem schwierig und wichtig, wieder mit dem Träumen anzu­fangen. Und nicht jedem gelingt es. Men­schen, die nur über­leben, sind zer­stört. Du fragst dich: “Was sehe ich vor mir? Du hörst deine innere Stimme:  “Ich sehe Leben oder Tod”. Im Grunde ist das wahr.

Man muss noch leben, um zu sehen, was als nächstes kommt. Dann, nach 10, 100 oder 1000 Stunden, eröffnet der Krieg eine große Frei­heit und Auf­rich­tig­keit. Wir haben unglaub­liche Dinge auf Adre­nalin getan. Denn es hat keinen Sinn, wert­volle Stunden mit Unnö­tigem oder Unwich­tigem zu ver­geuden. Plötz­lich kann man die Tiefe von Worten und Ver­spre­chen genau bestimmen. Plötz­lich wird klar: Wenn nicht jetzt, dann wahr­schein­lich nie. Im Krieg wird alles an der Gefahr des Todes gemessen, und des­halb hören die Dinge und Men­schen auf, größer zu erscheinen, als sie wirk­lich sind.

Dann kris­tal­li­sierte sich meine Wut heraus. Und das meta­phy­si­sche Loch zwi­schen meinen Schul­ter­blät­tern ver­schwand nicht. Und durch dieses Loch begann ich, mich mit den Augen meiner west­li­chen Kol­legen zu betrachten und mich als Meer­jung­frau zu ver­stehen. In meiner Folk­lore-Praxis wurde mir von älteren Huzulen-Frauen erzählt, dass eine Meer­jung­frau, oder wie wir in den Bergen sagen, eine Wald­meer­jung­frau, wie eine attrak­tive nackte Frau mit vollem Gesicht aus­sieht, aber von hinten zieht sie ihr ganzes Inneres mit sich. Ihr Aus­sehen ist fas­zi­nie­rend und beängs­ti­gend. Und es ist besser für sie, wenn sie nicht aus dem Wasser oder dem Wald her­aus­kommt, son­dern immer in ihrem Ele­ment bleibt.

In den ersten Wochen und Monaten des Krieges habe ich mich per Zoom an zahl­rei­chen Sen­dungen betei­ligt. In ver­schie­denen Län­dern, auf inter­na­tio­nalen pro­fes­sio­nellen Platt­formen, wollten die Men­schen uns in einer Sprache hören, die sie ver­standen, um zu ver­stehen, was geschah. Ich habe auf ver­schie­denen Kon­ti­nenten gespro­chen – auf allen, außer in der Ant­arktis. Und ich spürte unbe­wusst, dass die Leute, wenn sie mich ansahen, eine Meer­jung­frau auf der anderen Seite des Bild­schirms sahen, vor allem, wenn sie erwähnten, dass der kon­ven­tio­nelle Krieg in Europa seit 2014 andauert. Sie dachten: Gut, ihr Gesicht sieht auf dem Bild­schirm mensch­lich aus, aber dann hat sie wahr­schein­lich keine Klei­dung an, und ihre Inne­reien ragen wahr­schein­lich hinter ihr hervor. Denn ein totaler Krieg kann nicht um fünf Uhr mor­gens vom Himmel fallen, wenn man in einem zivi­li­sierten Land mit gutem Stra­ßen­kaffee, leckerem Essen und Internet lebt. Ein west­li­cher Kol­lege schlug mir nach meiner Rede ver­ständ­nis­voll vor, mir Blei­stifte und Papier zu schi­cken. Schließ­lich schreiben ukrai­ni­sche Schrift­stel­le­rinnen wahr­schein­lich in ihrem eigenen kyril­li­schen Alphabet und bewegen den Blei­stift über das Papier. Sie hörten mir respekt­voll zu, glaubten mir aber nicht, als ich ihnen sagte, dass wir nor­male Men­schen seien, die in einer sur­realen Anomalie leben und inner­halb weniger Minuten die wich­tigsten und schwie­rigsten Ent­schei­dungen unseres Lebens treffen müssten. Als ich die Gemälde von Magritte, Picasso und Dalí erwähnte und meinen Zuhö­rern vor­schlug, sich vor­zu­stellen, dass sie mor­gens ein­fach in einem dieser Gemälde auf­wa­chen und dann irgendwie dort leben und das Bom­bar­de­ment und den Beschuss über­leben müssen, nein, das war nicht glaub­haft, Punkt. Was in der Ukraine pas­siert ist, muss in der Ukraine bleiben. Es kann nicht ein­fach aus einem offenen Smart­phone in irgend­einer sicheren Ecke der Welt her­aus­spru­deln. Erst viel später wurde klar, dass es sich um einen pla­ne­ta­ri­schen Krieg han­delte und dass jeder, der Zugang zum Netz hatte oder haben konnte, Zeuge und Teil­nehmer (wenn auch nur indi­rekt) sein würde. Dass die Strah­len­dosis dieses Krieges aus der Ferne zwar geringer sein würde, aber den­noch aus­rei­chen würde, um für den Rest des Lebens in der Psyche und im Körper zu bleiben. Und dass alle den­kenden und mit­füh­lenden Men­schen, nicht nur Ukrainer, das Chaos struk­tu­rieren müssen.

Ich sah diese Angst in den Gesich­tern der Ver­ant­wort­li­chen schon von weitem. Ich habe sie ent­schlüs­selt: wenn man schon weiß, dass alles schief gelaufen ist und etwas getan werden muss, aber man weiß nicht, was. Ich sah eine andere Art von Angst in den Gesich­tern der Flücht­linge und der Ver­letzten. Hier gab es eine noch frus­trie­ren­dere Chiffre: wenn man weiß, dass man nur noch wenige Chancen hat, aber die sind alle schlecht.

Es ist ein­fa­cher, mit Men­schen zu ver­kehren, die es leid sind, Angst zu haben, und die ihre Angst bis zum Ende über­wunden haben, die wissen, dass wir jetzt alle Amphi­bien sind und in der großen Tra­gödie des Krieges schwimmen, aber wir atmen noch über dem Krieg, dem Nach­krieg. Die alt­be­setzten und die neu besetzten Gebiete teilen nun ein noch gemein­sa­meres Schicksal. Und sie ver­stehen noch besser, dass der Krieg nicht unser Ele­ment ist, obwohl er jetzt unser Schicksal ist.

Wir stehen auf der Seite der guten und rich­tigen Werte. Die Ukrainer sind nicht länger die Leid­tra­genden der Geschichte. Wir sind Experten darin, Geschichte zu machen, indem wir die zusätz­li­chen Anstren­gungen der ein­fa­chen Men­schen nutzen. Wir haben uns für den Wider­stand und den Sieg ent­schieden. Das Wunder der Kämpfe um Kiew, Charkiw und Cherson wurde nicht nur von Berufs­sol­daten voll­bracht, son­dern auch von Frei­wil­ligen, die bis zum Februar 2022 keine Waffe in der Hand hielten, von Frei­wil­ligen, Eisen­bah­nern und Post­boten, Ärzten und Leh­rern. All jene, die durch­hielten und über­lebten. All jene, die “unserem Volk sagen, dass wir es verarschen”.

Als meine Mutter in der Nacht der Win­ter­zeit­um­stel­lung starb, dachte ich nur daran, dass sie in einem großen Krieg geboren wurde und dazu bestimmt war, in einem anderen zu sterben. Der Kreis schloss sich, und die Erfah­rung des Wei­nens nahm eine neue Wen­dung. Jetzt gibt es keine Gene­ra­tion mehr in der Ukraine, und in den nächsten zwei Jahr­zehnten wird es keine ein­zige Gene­ra­tion geben, die nicht vom Krieg betroffen ist. Keiner, der iro­nisch mit den Schul­tern zuckt, wenn er sich einen fried­li­chen Himmel über seinem Kopf wünscht.

Meine Mutter liebte es, ihre Uhren selbst umzu­stellen, das war ihr kleines magi­sches Ritual zweimal im Jahr. In jedem Zimmer und in der Küche gab es eine Uhr, sie war die Königin der Uhren und Haus­halts­ge­räte. Und als ich nach ihrem Tod hek­tisch die Sachen sor­tierte und eine alte Stein­gut­schüssel aus Kosiv für Teig­ta­schen aufhob, schaute ich mir das Ader­ge­flecht darauf genauer an. Ris­sige Adern. Auf der Innen­seite war die gesamte Ober­fläche mit mikro­sko­pisch kleinen Narben übersät, wie Git­ter­stäbe. Aber außen war die Keramik makellos und fühlte sich glatt an. Unter der trans­pa­renten Ober­fläche war ein Fang­netz, viel­leicht ein Tarn­netz unserer uner­bitt­li­chen Ver­net­zung, ein­ge­froren. Ich weiß, wohin jeder Riss unter der gla­sierten Ober­fläche führt. In deinem Herzen. Und in meinem.

Über­set­zung: Susanne Frank

Das Bei­trags­bild ist von Eli­sa­beth Bauer und bildet mit den anderen Bei­trägen des Ukraine-Spe­zials eine Ein­heit in Form der Foto­serie “Ukrai­ni­sches Berlin: Die Stadt als gelb-blauer Sym­bol­raum”.