„Ich bin Künstlerin, keine Kulturträgerin“ – Interview mit Milena Marković

Milena Marković gilt als eine der wichtigsten zeitgenössischen Dramatikerinnen und Dichterinnen Serbiens. Zuletzt machte sie mit Kindern (2021 erschienen im Verlag „Lom“), einem Roman in Versen auf sich aufmerksam. Das Buch wurde 2021 mit dem landesweit wichtigsten Literaturpreis „NIN“ für das beste Buch des Jahres ausgezeichnet. novinki sprach mit der Autorin in Belgrad.Philine Bickhardt: Sie haben 2021 den NIN-Preis für Literatur erhalten. Davor waren Sie bekannt als Professorin, Autorin von Theaterstücken und als Dichterin. Mit der Verleihung des NIN-Preises für Ihr Buch „Kinder“ (Serb.: „Deca“) haben Sie eine breite Leser_innenschaft hinzugewonnen. Ein Preis ist ein Preis. Was aber hat sich für Sie als Dichterin geändert? Wie hat vielleicht die Popularität und damit auch der Austausch mit Menschen Ihre Aufmerksamkeit auf Dinge gelenkt, die Sie zuvor womöglich nicht bemerkt haben? Welchen Einfluss hat der Preis auf Ihr Schaffen?  

 

Milena Marković: Als ich den letzten Gedichtband Gedichte für die Lebenden und die Toten (Serb.: Pesme za žive i mrtve) schrieb – das war vor sieben, acht Jahren –, wurde mir klar, dass ich in dieser Ausdrucksform die Höchstform erreicht hatte. Ich versuche, eine Innovatorin zu sein, mit der Form zu spielen und mich nicht in meinem eigenen Manierismus zu suhlen. Ich interessiere mich im Moment nicht fürs Drama. Jedes meiner Stücke hatte eine andere poetische Sprache, Metrik, Form. Dann beschloss ich, ein Poem zu schreiben, einen Roman in Versen, weil ich ihn für den Höhepunkt der Sprache, den Höhepunkt des poetischen Ausdrucks halte. Ich verehre Eugen Onegin, Die Göttliche Komödie und Martín Fierro. Ich habe bewusst drei völlig unterschiedliche Strömungen genannt. Das eine ist großartige Literatur der Romantik, das andere ist die größte metaphysische und ethische Studie in Form des geschriebenen menschlichen Wortes überhaupt, das dritte ist eine schelmische, antiheldenhafte Geschichte über einen ausgeschlossenen Gaucho, einen Nachkommen von Eingeborenen. Und sie alle sind Romane in Versen oder Poeme/Gedichte, ich trenne sie nicht. Ich bin keine Theoretikerin. Die Theorie ist die Dienerin der Kunst, nicht umgekehrt. Und es gelang mir, einen Roman in Versen zu schreiben, und ich erhielt eine Auszeichnung. Es beeinflusste mich in dem Sinne, dass ich etwas Neues finden musste, um mich zu beschäftigen und mich darin widerzuspiegeln. Es gibt eine verfluchte und prophetische Linie in dem, was ich tue; das reizt mich. Bestimmte Filme, an denen ich gearbeitet habe, bestimmte Dramen hatten auch diese Elemente, aber sie kamen nicht im richtigen Moment. Etwas kann dem Zeitgeist vorausgehen, dem Zeitgeist hinterherhinken oder im Zeitgeist liegen. Den Zeitgeist zu erraten, das passiert einfach und dann erlebt man den Erfolg. Du sprichst mit einer Stimme, die die Menschen berührt. Ich hatte immer das gleiche Verständnis von der Welt. Jetzt habe ich vielleicht mehr Weisheit und Angst. Das ist sowohl gut als auch schlecht. Ich bin nicht daran interessiert, mich mit dem Publikum auszutauschen. Sie können nehmen, was ich ihnen gebe.

 

P.B.: Durch was unterscheidet sich Ihr Roman, auch wenn in poetischer Form geschrieben, von Ihren früheren Gedichten? Und was passierte, als Sie sich entlang des schmalen Grats  zwischen Poesie und Prosa, wie Sie zum Erhalt des NIN-Preises sagten, bewegten?

 

M.M.: All das ist gleich und doch auch anders. Ich würde mich nicht um den Unterschied zwischen Poesie und Prosa kümmern. Ich nenne Poesie nicht einmal Poesie, ich nenne es Singen. Manchen ist die Fähigkeit zu singen gegeben, manchen nicht, sie können es versuchen. Du singst einfach. Du hast Musik in deinem Ausdruck. Es geht um eine transzendente Sache, unterbewusst und überbewusst, tief, oberflächlich und alles durchdringend. Alle bedeutenden Dichter hatten es, egal ob sie Quartette oder Blankvers (Serb.: „beli stih“) schrieben. Sie wählten ihren eigenen Stil, der einer einzigen Stimme entsprechen musste. So fand auch ich meine Stimme im Stimmenmeer. Deshalb ist alles, was ich tue, gleich. In diesem Roman in Versform ist der Stil den anderen in Form, Größe und Schwung einfach überlegen. Das bin nicht mehr nur ich, das ist eine Zeit, eine Epoche, ein Jahrhundert, das sind in gewisser Weise alle Kinder, nicht nur meine Kinder, meine Zeit, meine Epoche, mein Jahrhundert. Es ist nicht mehr nur mein Körper, es ist der allgemeine Körper. Es gibt Reime, Rhythmen, Bilder, Siegesrufe, Klagen, Schluchzen, Beschwerden, Bekenntnisse, Manifeste, Spott, Klatsch, Bewusstseinsströme.

 

Aufführung der gleichnamigen Oper „Deca“, Nationaltheater Belgrad, 13.12.2022.

P.B.: Für die gleichnamige Oper war deutlich zu bemerken: Während im Zentrum eine weibliche Schauspielerin einen Aspekt der Milena, um die es im Buch geht, vorstellte, hat die Gruppe im Hintergrund eine Formation gebildet: Sie imitierten das Reiten auf Pferden, das Geräusch einer Lokomotive, Bewegungen während des Sex; manchmal bewegten sie sich im gleichen Takt und mit gleicher Fuß- und Beinartikulation durch den Raum, machten symmetrische Hand- und Armbewegungen. Alles folgte einem Rhythmus, wie Ihre Gedichte auch. Der Takt, der Rhythmus des Lebens im Körper ist einer, den Sie in der Sprache suchen? Der in ihrer Poesie als Schluchzen, Weinen und auch Lachen auftritt?

 

M.M.: Was das Schluchzen und Lachen angeht, das sind zwei Dinge, die im Grunde nicht artifiziell hervorgerufen werden können. Sie sind immer das Produkt einer gewissen Spontanität. Mir war es sehr wichtig, in meinen Gedichten, in dem, was ich schreibe, diese traumartigen Eigenschaften zu bewahren, diese Art von Freiheit in der Sprache zu haben, mich auf ein lyrisches Spiel einzulassen, das eine schnelle und plötzliche Wende hervorruft, fast taktil, das heißt aus dem Schluchzen in das Lachen. Es gibt einen Takt, wie Sie sagen, einen Rhythmus, in den Worten selbst, das heißt in den Versen. Und das ist definitiv eine Qualität, die zuerst von der Komponistin Irena Popović und dem Dramatiker Dimitrije Kokanov und dann vom Choreografen Igor Koruga erkannt wurde.

 

Das Stück hat keinen Regisseur. Als mich Irina Popović anrief, eine Komponistin, die ich sehr schätze, sagte ich, dass ich mir wünsche, dass das Stück als Oper gemacht wird. Ich sagte auch, dass ich prinzipiell nicht wollen würde, dass man einen Regisseur involviert, weil ich es nicht für erforderlich halte, dass der Regisseur sein Thema und seine Idee hinzufügt, was für mich problematisch sein kann. Ich habe mehrere Theaterstücke, in denen verschiedene Motive miteinander verflochten sind, die in diesem Roman vorkommen. Jeder Regisseur kann eines dieser Stücke nehmen und damit machen, was immer er will. Aber die Idee der Oper „Kinder“ muss aus dem Roman stammen, da war ich mir mit dem Autorenteam einig. So haben sie etwas hervorgebracht, das auch mich überraschte.

 

Indem sie bestimmte Motive herausgenommen und sie im Singen vorgestellt haben, machten sie diese noch universeller. Sie haben eine Oper geschaffen, in der das Publikum wirklich eine Katharsis in diesem grundlegenden Sinne erlebt. Als ich das Libretto las, die Strophen, die sie ausgewählt und in einer bestimmten dramaturgischen Einheit arrangiert hatten, war mir klar, was sie machen. Sie hatten Schlüsselmomente gefunden, Kindheit, Liebe, Tod, Geburt, Alter. Sie wählten Verse aus, die spezifisch sind und sich auf das lyrische Subjekt beziehen, aber durch das Singen erzeugten sie ein allgemeines menschliches Gefühl und Erkennen. Ihre Frage ist gut, da das Merkmal des Schluchzens und Lachens aufgefallen ist und versucht wurde, einerseits verschiedene Musikgenres zu haben (das ist natürlich eine Frage des Komponisten) und andererseits, dass die Choreographie des Stücks, also Dramaturgie oder sagen wir Regie, den Gesang begleitet, d.h. den Grundton. Als ich zu den Proben kam, freute ich mich sehr, dass nicht alles im gleichen Ton gehalten war, es war nicht herzzerreißend und pathetisch, sondern es hatte auch andere Qualitäten, Ironie, Selbstironie, ein Manifest, eine elementare Rebellion. Durch die Choreographie fügten sie jedem Bild einen Kommentar hinzu, einen Kontrapunkt. Einer sticht hervor, weil er ein Subjekt, ein Solist, ein besonderer Körper ist, die anderen sind dann ein allgemeiner Körper oder eine Erweiterung des Grundbildes. Auch Schauspieler und Schauspielerinnen und Opernsänger und Opernsängerinnen singen. Die Partituren werden an die stimmlichen Fähigkeiten eines jeden angepasst. Es ist ein außergewöhnliches kompositorisches Werk, es gleitet an keiner Stelle in sängerischen Dilettantismus ab, einfach, mit der Mischung von Genres und Techniken werden Erstaunen und Authentizität erreicht, es ist organisch. Mit der Choreografie wurde eine Art von Song-Stil geschaffen, also einerseits „Brechtisch“, und andererseits haben sie sich etwas von der Grundlinie entfernt, das heißt, sie haben die ganze Geschichte objektiviert. So erreichten sie, dass es nicht im selben Ton, dass es nicht flach, langweilig, verschlossen ist. Es ist eine spannende Oper.

 

P.B.: In einem Interview haben Sie gesagt, dass es Ihnen wichtig ist, etwas „Richtiges“ bzw. „Tatsächliches“ für die Leser_innen zu schreiben. Was meinen Sie mit „tatsächlich“, realistisch, real, nützlich für die Menschen? Und wie viel Autobiografie steckt in diesem Buch?

 

M.M.: Ich kann nicht ganz erkennen, in welchem ​​Zusammenhang ich das gesagt habe. Ich versuche immer, etwas Klares, Tatsächliches und Wahres zu schreiben. In dem Sinne, dass es keine Lüge ist. Realität existiert nicht. Es ist alles eine Frage der Wahrnehmung und Perspektive. Jeder hat seine eigene Realität. Realität existiert nicht, jedenfalls nicht in der Kunst. Es gibt Realismus und Naturalismus als eine Art der Herangehensweise. Und das ist nur ein Ansatz in meiner Arbeit, ich verändere ihn, ich greife oft zu schwindelerregenden Stilisierungen, ich spiele. Das Buch ist autobiografisch, aber das ist nicht wichtig. Autobiografien sind eine niedere Art von Literatur, sie werden von einigen Schauspielern und Sängern geschrieben oder von jemandem bezahlt und sie lügen meistens. Es hat keinen künstlerischen Wert. Andererseits: Ein Porträt des Künstlers als junger Mann von Joyce, Die Glasglocke von Plath, Tonio Kröger von Thomas Mann, Der verlorene Sohn von Bukowski, Aufzeichnungen aus einem Totenhaus von Dostojevski sind autobiografische Werke, aber sie sind keine Autobiografien. Dies sind ergreifende Geschichten über die Menschheit. Karl Ove Knausgård hat dann, unter den großen Zeitgenossen, seinen Vor- und Nachnamen in den Roman aufgenommen und ihn erkennbar und zur heutigen Sprache gemacht. Und dann näherte ich mich an und sagte: Aha, Milena werde ich auch namentlich in den Roman aufnehmen. Und alles wird sich um Milena drehen.

 

P.B.: Ist das Waisenkind seit der Veröffentlichung des Romans weitergewachsen? Und weint es immer noch?

 

M.M.: Es wird weinen, solange es lebt, ich hoffe, es wird wachsen.

 

P.B.: Ihr Roman liest sich für mich wie ein Fluss von Gedanken, Ereignissen und Gefühlen, während es auf der sprachlichen Ebene immer wieder Unterbrechungen und Brüche gibt, die die Lesenden manchmal ins Stolpern bringen, die das Lesen verlangsamen und es dann wieder plötzlich beschleunigen (Syntax, fehlende Satzzeichen). Nackte Buchstaben, geschliffene Sätze, intendierte, bewusste Sätze, aber nicht in Prosa gepresst… ist es diese fragile und zugleich selbstbewusste Kindheit, die Sie erzählen wollen?

 

M.M.: Der Roman hat mehrere Ströme. Das eine sind die skurrilen Kindheitsbilder, Fotografien und Darstellungen, in denen sich assoziativ, manchmal geschmacklich und geruchlich, wie beim großen Proust, eine Epoche und Realitätserfahrung auftut, dann kommt ein Schmerz, eine Kluft, eine Umkehrung. Für mich war es aufregend, dass jeder Übergang auch sprachlich begleitet wurde. Dann gibt es ein Eintauchen in die größten Erlebnisse der Jugend, der Mädchenzeit, des Frauseins und der Mutterschaft, auch durch den körperlichen Kosmos. Das menschliche Leben ist zerbrechlich. Sie ist gekennzeichnet durch Sehnsucht und Angst. Überall gibt es unaussprechliche Kräfte. Die Materialisten haben alles nur noch schlimmer und fragiler gemacht. Hier ist Kindheit und der langsame Abstieg ins Alter.

 

P.B.: Welche Verbindung fühlen Sie zur russischen Avantgarde?

 

M.M.: Sehr früh habe ich habe angefangen, Gedichte zu lesen, noch bevor ich sie verstanden habe. Das liegt an dem Wesen des Gesangs und der Musik, die Poesie hat. Wie alle solche Kinder habe ich zuerst die Romantiker und Symbolisten unter die Finger bekommengemacht, darauf folgte dann natürlich der Surrealismus. Also Blake, Byron, Shelley, Keats, Heine, Kleist, Goethe, Rimbaud, Baudelaire, Verlaine, dann Aragon, Apollinaire, Breton und so weiter und so fort. Dann, ab dem 14. Lebensjahr, folgen Ezra Pound, Rilke, Cvetajeva, Eliot. Die große Frage ist, ob ich damals etwas verstanden habe, aber das ist auch egal. Da sind natürlich Whitman, Ginsberg und Bukowski. Ich liebe Lieder und rezitiere sie in diesen frühen Jahren, ich lese auch alte Texte, Epen. Dann zufällig, ich bin schon fünfzehn Jahre alt, stoße ich auf Daniil Harms, auf die Vereinigung „Obėriju“ (dt.: Die Vereinigung realer Kunst, 30er Jahre Sowjetrussland), dann auf Majakovski, dann auf die Entdeckung russischer Garagen-Underground-Poesie, wie Genrich Sapgir und so weiter. Plötzlich schaue ich von der anderen Seite auf die großartige russische Poesie und entdecke Esenin, gegen den ich einen Widerstand hatte, weil meine verstorbene Mutter Russischlehrerin war; ich entdecke seine großartigen Gedichte, nicht die, die wir in der Schule rezitierten, von denen ich jetzt weiß, dass sie genial sind, sondern diese Avantgarde-Gedichte, skurrile, verrückte, wo er den Mond beißt und Jesus Christus in Ekstase ausspuckt. Und dann finde ich meine Sprache und fange an, meine ersten Gedichte zu schreiben. Einige dieser Gedichte kann man sogar in meinen Gedichtsammlungen finden, z.B. in Der Hund, der die Sonne aß und Der schwarze Mensch. Was die Deutschen betrifft, ich habe Gottfried Benn verehrt, aber ich habe ihn erst in meinen Zwanzigern entdeckt. Die Antwort auf Ihre Frage lautet eigentlich: Die russische Avantgarde hat mich geboren. Ich hatte verschiedene Lehrer und Lehrerinnen, aber die russische Avantgarde hat mich geboren.

 

P.B.: Sie haben in der Vergangenheit viele Schriftsteller_innen als Ihre Lehrer_innen genannt, die sehr unterschiedlich sind (russische Avantgarde, Brecht, Büchner, Pedno Calderon, Pierre Corneille und andere)… Spiegelt sich das Ringen um die richtige Form im Aufbrechen der Grenzen der eigenen Familie und Körperlichkeit wieder?

 

M.M.: Ich habe meine Familie nie verlassen, darüber schreibe ich auch. Es gibt keinen Ausweg aus der Körperlichkeit, vielleicht gibt es ihn bei unseren orthodoxen Eremiten und Asketen, ich weiß es nicht, ich habe nicht mit ihnen gesprochen. Der Körper ist etwas, das begrenzt. Ich bin keine Materialistin. Der Körper ist verdammt, der Mensch ist sterblich, Freiheit existiert nicht, dann musst du tief sinken und nach hoch oben schauen, in den Himmel. Literatur kann Leben retten und sie ist etwas Menschenverbindendes, Katharsis, gibt Sinn; Kunst hat einen edlen Zweck, auch wenn sie aufregend ist und unangenehm. Alle erwähnten Schriftsteller waren große Sprachmeister, Büchner und Brecht waren für den dramatischen Ausdruck, den ich fand, von größter Bedeutung.

 

P.B.: Sind Sie streng mit sich selbst?

 

M.M.: Ich bin außerordentlich streng mit mir.

 

P.B.: Sie haben sich mit vielen Helden auseinandergesetzt, die an den Rand gedrängt sind – arm, traumatisiert, von der Gesellschaft ausgeschlossen – und Rebellen sind. Und doch wollen Sie nicht, dass man sie in einer politischen Perspektive versteht bzw. eine politische Botschaft in den Texten aufspürt. Warum?

 

M.M.: Zunächst muss die Frage gestellt werden, was diese politische Perspektive ist. Zum Beispiel haben Sie eine politische Perspektive, ich habe eine andere politische Perspektive, jemand da drüben hat eine dritte politische Perspektive. Dann wollen Sie oder ich oder diese dritte oder fünfte Person allen anderen eine politische Perspektive aufzwingen. Wieso denn? Wegen des Gefühls der Vorherrschaft und der unmittelbaren Überlegenheit? Und was ist, wenn ich nicht so denke? Die Unangepassten sind ein altes Thema. Prometheus war ein Außenseiter. Achill und Jesus auch. Dann befasste sich Faulkner mit Ausgestoßenen, Dostojevski, Flannery O‘Connor, Carson McCullers, Handke, Goethe, Louis-Ferdinand Céline, Hamsun, Michel Houellebecq. Was ist deren politische Perspektive? Was hält Faulkner von den Yankees (Anm. d. Red.: nordamerikanische Siedler_innen)? Was sagt Dostojevski über die Bourgeoisie? Was sagt Houellebecq über die Liberalen? Sollen wir sie verbieten? Weise Menschen schweigen in diesen Zeiten. Sieh Dich um. Ich bin nicht schlau, aber ich versuche, weise zu sein. Wenn ich etwas schreibe, das jemanden rettet, veredelt, tröstet, begeistert und fesselt, der nicht die gleiche Weltanschauung hat wie ich, ist das viel wichtiger als alles andere. Dem diene ich. Das ist meine Berufung. Das ist Kunst. All die anderen sind Diener und nützliche Idioten. Ich engagiere mich nicht in der Politik, weil ich versuche, eine Künstlerin zu sein, keine Kulturträgerin.

 

Das Gespräch wurde am 15.12.2022 in Belgrad geführt.

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