Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Andrej Gel­asimov – ein „neuer sibi­ri­scher Salinger“

In letzter Zeit hört man hier zu Landen immer wieder Klagen über die schlechte Lage der rus­si­schen Gegen­warts­prosa, oder viel­mehr dar­über, dass weit und breit kein neuer Stern am Himmel der aktu­ellen rus­si­schen Lite­ra­tur­land­schaft zu finden sei, dem man eine – durch den lite­ra­tur­wis­sen­schaft­li­chen Zugriff oder durch Über­set­zungen ins Deut­sche geadelte – lite­ra­ri­sche Qua­lität von Bestand zuspre­chen könnte. Und tat­säch­lich, es ist etwas stiller geworden um die Dis­kus­sion aktu­eller rus­si­scher Lite­ratur in Deutsch­land. Keine neue Ulickaja, kein neuer Akunin, kein neuer Pelevin, ja nicht mal ein neuer Sor­okin weit und breit, geschweige denn ein Autor vom Schlage Andrucho­vičs, der durch sein geo-poe­ti­sches Kon­zept Sla­wisten- und Lek­to­ren­herzen glei­cher­maßen und erstaun­lich lang­an­hal­tend höher schlagen lässt? Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass gerade die Reprä­sen­tanz einer neuen, nennen wir sie „post-post­so­wje­ti­schen“ rus­si­schen Autoren­ge­ne­ra­tion, in deut­schen Über­set­zungen zu wün­schen übrig­lässt. Das mag zum einen daran liegen, dass rus­si­sche Ver­lage eine für unsere Maß­stäbe wenig qua­li­ta­tive Lek­to­rie­rung der Texte durch­gehen lassen und nicht wenige Texte, gerade auch jün­gerer Autor_innen, bis­weilen eine recht frag­wür­dige ideo­lo­gi­sche Aus­rich­tung haben. Das mag zum anderen aber vor allem auch daran liegen, dass viele Texte zu russ­land­spe­zi­fi­schen Themen trans­por­tieren, die die deutsch­spra­chigen Leser_innen schlicht und ergrei­fend nicht groß­artig inter­es­sieren werden.

 

Es ver­wun­dert aller­dings, dass aus­ge­rechnet die Pro­sa­texte von Andrej Gel­asimov, bis auf eine Erzäh­lung, in der von Galina Durst­hoff her­aus­ge­ge­benen Erzähl­samm­lung Russ­land. 21 neue Erzähler (Deut­scher Taschen­buch­verlag, Mün­chen 2003) bisher in alle mög­li­chen Spra­chen, aber noch nicht ins Deut­sche über­setzt wurden und über­haupt der Autor hier bisher kaum wahr­ge­nommen wird. Denn gerade die für Gel­asi­movs Texte typi­sche Mischung von ver­meint­lich anspruchs­loser Unter­hal­tung und gesell­schafts­po­li­tisch kri­ti­scher Sen­si­bi­lität würde hier sicher­lich auf eine grö­ßere Leser_innenschaft und auf Gefallen des Feuil­le­tons stoßen. Seine Pro­sa­texte sind cha­rak­te­ri­siert durch roman­ti­sche aber gänz­lich unpa­the­ti­sche, iro­nisch-fata­lis­ti­sche Geschichten und durch eine beson­dere Vor­liebe für situa­ti­ons­zen­trierte, epi­so­dische, nahezu fil­mi­sche Erzähl­struk­turen mit beson­derer Auf­merk­sam­keit für die zwi­schen­mensch­li­chen Rea­li­täten des All­tags. Gel­asi­movs Helden sind durch­schnitt­liche, meist vom gesell­schaft­li­chen Treiben zurück­ge­zo­gene Men­schen im besten Jugend­alter, deren Geschichten und Cha­rak­tere durch ein­fache Sti­listik, hin­ter­grün­digen Humor und durch kurze, dia­lo­gi­sche Szenen umrissen sind, ohne dass es je in Bana­li­täten abdriften würde. Im Gegen­teil: „Bei Gel­asimov ist der Humor weniger eine zweite Natur als viel­mehr eine Waffe, eine Form des Wider­stands, um über­leben zu können“ beschrieb die Zeit­schrift Le Monde des livres (2005) sehr tref­fend Gel­asi­movs Schreiben.

 

Bei den eher wenigen öffent­li­chen Auf­tritten gibt sich der pro­mo­vierte Anglist und stu­dierte Regis­seur Gel­asimov – soweit ich das auf­grund von you­tube-geschal­teten Inter­view-Mitt­schnitten beur­teilen kann – mür­risch und leicht bla­siert, ganz im Gegen­satz zu einem all­zeit publi­kums­schmei­chelnden, medial über­prä­senten Autor wie Evgenij Griš­kovec. Das macht ihn als Gesprächs­partner viel­leicht nicht gerade zugäng­lich, lenkt aber das Inter­esse mehr auf seine Texte als auf seine Person und das ist dann doch allemal sym­pa­thi­scher: Bereits nach Erscheinen seines dünnen Erzähl­bandes Foks Malder pochož na svin’ju (Fox Mulder sieht aus wie ein Schwein) beju­belte die rus­si­sche Kritik den 1966 in Irkutsk gebo­renen Autor als „neuen sibi­ri­schen Salinger“. Und spä­tes­tens mit seinem 2002 erschie­nenen zweiten Buch Žažda (Durst) über einen jungen Mann, der ent­stellt aus dem Tsche­tsche­ni­en­krieg in den banalen Mos­kauer Alltag zurück­kehrt, galt er als zwar umstrit­tener, aber auf­stei­gender Stern der „jün­geren“ rus­si­schen Lite­ratur. Es folgten dann in kurzen Abständen wei­tere Publi­ka­tionen und mit jedem Buch bewegte er sich zuse­hends von der Kurz­form weg zu immer umfang­rei­cheren Romanen: 2003 erschien der Roman God obmana (Jahr der Lüge) um eine Drei­ecks-Lie­bes­ge­schichte aus der Per­spek­tive eines Ver­tre­ters der neuen urbanen 1990er-Jahre-Mit­tel­schicht, eben­falls 2003 folgte der zwi­schen den 1960er und den 1990er Jahren spie­lende Roman Rachil’ (Rahel) über einen erfolg­losen, halb­jü­di­schen Lite­ra­tur­wis­sen­schaftler und die Erin­ne­rungen an seine drei Ex-Frauen. Einige Jahre später, 2008 erschien der mit dem “Nacional’nyj best­seller” 2009 aus­ge­zeich­nete Roman Step­nyje bogi (Step­pen­götter), in dem es um die in das Jahr 1945 in die rus­sisch-trans­bai­ka­li­sche Steppe ver­la­gerte Freund­schaft zwi­schen einem Teen­ager und einem Häft­ling, einem japa­ni­schen Arzt, kurz vor dem Ein­fall der sowje­ti­schen Truppen in Japan und den Bom­bar­die­rungen Hiro­shimas und Naga­sakis geht. Ende 2009, also fast noch als Neu­erschei­nung zu rechnen, erschien schließ­lich der wieder gegen­warts­zu­ge­wandte Roman Dom na Osernoj (Das Haus an der Osern­a­straße) über eine pro­vin­zi­elle Groß­fa­milie, die sich in ungüns­tige Finanz­ge­schäfte ver­strickt. Unge­si­cherten Quellen zufolge arbeitet Gel­asimov der­zeit bereits an einem wei­teren, im äußersten Norden Russ­lands spie­lenden Roman mit dem tref­fenden Titel Cholod (Kälte).