Literaturlandschaft Belarus: Eine Begehung

„Die Kenntnis der weißrussischen Literatur außerhalb der Sowjetunion ist gering“, schrieb Ferdinand Neureiter in seiner Weißrussischen Anthologie von 1983. Und wo kennt man diese Literatur heute? In Deutschland stand Vasil‘ Bykaŭ (Wassil Bykau; 1924-2003), meist in Übersetzungen aus dem Russischen, lange Jahre weitgehend allein auf weiter Flur, doch nun beginnt das Bild sich langsam zu differenzieren: „schon sechzehn namen sind gefunden für den schnee / zeit, sechzehn namen zu erfinden für die finsternis.“ (Val’žyna Mort)
Nach Artur Klinaŭ (*1965) im Jahr 2006 und einem Schwerpunkt zu belarussischer Lyrik in die horen (228/2007) fand 2009 Val’žyna Mort (*1981) den Weg ins Deutsche, Al’herd Bacharėvič (*1975) folgt 2010 (die beiden letztgenannten sind auch auf dem Foto zu sehen). Und Zmicer Višnëŭ (*1973) ist ebenfalls auf dem Sprung.
Višnëŭ ist in seiner Heimat nicht nur als Lyriker und Prosaautor bekannt, er spielt auch als Kritiker, Herausgeber und Verleger eine wichtige Rolle für die belarussische Literatur. Stipendien führten ihn unter anderem an das Literarische Colloquium Berlin (2006) und an die Villa Decius in Krakau (2008), außerdem war er 2008 gemeinsam mit seiner Übersetzerin Martina Jakobson mit Lesungen und Podiumsgesprächen in Berlin und Dresden zu Gast. Der vorliegende Text war ursprünglich als Vortrag im Programm des Belaruski Kalegium konzipiert und ist vom Autor für die Publikation in der Zeitschrift Annus Albaruthenicus 2010 überarbeitet und aktualisiert worden. Dort erschien er mit Kommentaren und zahlreichen Links, für novinki wurde er vom Übersetzer leicht gekürzt und um eine Auswahlbibliografie auf Deutsch vorliegender belarussischer Literatur ergänzt.

 

visneu

Gleich zu Beginn möchte ich der geläufigen These widersprechen, die belarussische Literatur befinde sich seit etwa fünfzehn Jahren in einer Krise (und damit in guter Gesellschaft), sie sei bestenfalls zweitklassig und wenig originell. In meinen Augen ist das Gegenteil der Fall. So paradox es klingt, möchte ich doch mit dem anfangen, was es bei uns nicht gibt. In Belarus existiert offensichtlich kein Kunstmarkt, das Fernsehen kennt keine professionellen Literatursendungen, die Regierung stellt praktisch keine Förderung für den Literaturbetrieb bereit (keine Festivals, Seminare, Wettbewerbe, keine Unterstützung für Zeitschriften oder Verlage, so gut wie keine Literaturpreise oder Stipendien), Verleger genießen in Belarus keine Steuererleichterungen. Und doch – angesichts all dieser Schwierigkeiten ist das höchst erstaunlich – hat sich die belarussische Literatur in den vergangenen fünfzehn Jahren stark entwickelt. Sie schneidet im europäischen Vergleich nicht einmal besonders schlecht ab, allerdings ist sie dem breiten Publikum  kaum bekannt. Auch der Einfluss ausgewählter belarussischer Sowjetliteratur, die zweifellos die aktuelle Literatur mitgeprägt hat, ist nicht in Abrede zu stellen. In erster Linie sind hier Werke von Michas‘ Stral’coŭ, Ales‘ Astašonak, Janka Maŭr, Uladzimir Karatkevič, Vasil‘ Bykaŭ, Ales‘ Adamovič und Ales‘ Naŭrocki zu nennen. Zu berücksichtigen ist weiterhin, dass die belarussische Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts praktisch ausradiert worden war. Die damaligen Modernisten und Avantgardisten (Paŭljuk Šukajla, Todar Kljaštorny, Valery Marakoŭ, Uladzimir Chadyka, Michas‘ Čarot, Ales‘ Dudar, Jurka Ljavonny) waren Repressalien ausgesetzt, was die belarussische Literatur  um Jahrzehnte zurückgeworfen hat. So ist es kein Zufall, dass die meisten Schulabgänger belarussische Literatur nur mit Krieg und Kolchose assoziieren. Höchste Zeit, den Lektürekanon für Schüler zu revidieren und Sowjetideologen durch echte Literaten zu ersetzen.

 

Zeitschriften, Zeitungen, Internet
Wenngleich es in Belarus keinen wie auch immer gearteten Markt für Literatur oder Medien gibt, erscheinen doch Literaturzeitschriften und Zeitungen. Dabei verschob sich das Zentrum literarischer Aufmerksamkeit im Laufe der letzten fünfzehn Jahre zusehends von staatlichen hin zu nichtstaatlichen Periodika. Nach wie vor erscheinen die staatlichen belarussischsprachigen Zeitschriften Polymja und Мaladosc‘ und die russischsprachigen Nёmanund Vsemirnaja literatura, außerdem die belarussischsprachige Zeitung Litaratura i mastactva (LiM). Bei den nichtstaatlichen Zeitschriften herrscht eine größere Vielfalt (Dzejasloŭ, ARCHE, Pamiž, pARTisan, Tėksty, Kalos’se, Frahmenty, Pravincyja, Topas, die Zeitungen Naša Niva und Novy Čas), allerdings erscheinen neben den erwähnten Zeitungen regelmäßig nur Dzejasloŭund ARCHE, deren Schwerpunkt nicht auf belletristischen, sondern auf analytischen Texten liegt. Damit ist der Raum für literarische Periodika doch sehr begrenzt. Das Internet entschärft diese Situation etwas, hier sind Literaturseiten mit ihren Foren entstanden, mit Online-Publikationen und Blogs. Unter den Internetangeboten, die das kulturelle Leben in Belarus beleuchten, ist das Literaturportal litara.net hervorzuheben, außerdem die an Jugendliche gerichtete Seite uff-by.org(dort erscheinen z.B. Informationen über Literaturveranstaltungen und Interviews mit Schriftstellern) und das studentische Projekt studfarmat.org. Besondere Beachtung verdienen die elektronischen Bibliotheken knihi.com und kamunikat.org sowie die Online-Buchhandlung knihi.net. In jüngster Zeit sind auch die beiden Kulturportale h-a-z-e.org und goliafy.com sehr aktiv.

Bei den staatlichen Literaturzeitschriften sind Ideologisierungstendenzen in den letzten Jahren nicht mehr zu übersehen. Besonders augenfällig sind die inhaltlichen Veränderungen im Wochenblatt Litaratura i mastactva, das für sich selbst in Anspruch nimmt, die „Zeitung der kreativen Intellektuellen in Belarus“ zu sein. Tatsächlich fungiert es als Sprachrohr der staatlichen Ideologie und ist zum Tummelplatz für so genannte ‚richtige Autoren’ geworden, die hier ihre Texte veröffentlichen. So finden sich dort beispielsweise folgende Gedichtzeilen: „Amerika, fremder Reichtum raubt dir den Schlaf. / Wen stießt du nicht / in den Staub vom Thron, / Doch hielt dich noch immer / In Schach / Die unbesiegbare / Sowjetunion.“; „Und von ferne kamen / Die Dollar-Haie zur ‚Perestroika‘ geschwommen … / Du warst es, Amerika / Das geschickt, wie man neumodischen Plunder kauft, / Uns schlagartig neue ‚Yuppies‘ beschertest“. Das versteht die LiM wohl unter hohem poetischem Stil … In derselben Ausgabe finde ich bei N. Hal’pjarovič den Vergleich einer Frau mit einem Bauchnabel – ist das vielleicht die LiM’sche Postmoderne?

Die nichtstaatliche Zeitung Naša Niva druckt derlei Machwerke nicht, sie berichtet aber bisweilen recht subjektiv über bestimmte Erscheinungen in Kunst und Literatur.  Sie ignoriert auch bestimmte bemerkenswerte Ereignisse und folgt dabei Kriterien, die wohl nur zeitungsintern nachvollziehbar sind. So wollen die NN-Redakteure die im Haus der Schriftsteller in Minsk ausgerichtete Großveranstaltung der literarischen Bewegung Bum-Bam-Lit (anlässlich ihres zehnjährigen Bestehens), an der zahlreiche Besucher wegen Überfüllung des Saales nicht teilnehmen konnten, schlicht ‚nicht mitbekommen’ haben. Gleiches ließe sich über die Präsentation der ersten Ausgabe der Zeitschrift Nihil im Jahr 1999 sagen. Und doch gebührt der Redaktion Anerkennung für ihre Bemühungen um die belarussische Belletristik im Rahmen der Buchreihe Kniharnja Naša Niva.
Von gewisser Bedeutung für das literarische Leben sind auch die staatlichen Zeitungen Kul’tura und Zvjazda. Mitte der 90er Jahre war es  der Kul’tura zu verdanken, dass der Begriff der ‚Postmoderne’ in der belarussische Literatur Fuß fasste. Leider gibt es die literarisch-philosophische Beilage ZNO, die einmal im Monat mit dieser Zeitung erschien, nicht mehr. Heute ignoriert die Zeitung viele nichtstaatliche literarische und künstlerische Ereignisse, sie konzentriert sich hauptsächlich auf offizielle Veranstaltungen. In der Zeitung Zvjazda erscheinen von Zeit zu Zeit literarische Texte. Viktar Žybul‘ ist es zu verdanken, dass in den vergangenen Jahren in der Zeitschrift Rodnae slova fundierte literaturwissenschaftliche Aufsätze erschienen sind. Hin und wieder sind auch in der halblegalen Zeitung Narodnaja Volja literarische Texte zu finden. Und schließlich gab es seit Mitte 2007 in der Zeitung Novy Čas allmonatlich die Beilage Litaraturnaja Belarus‘. Nach dem jüngsten Gerichtsverfahren und den hohen Geldstrafen gegen die Zeitung ist deren Zukunft jedoch ernsthaft bedroht.

Das Internet scheint momentan das einzige nicht kontrollierte Medium für das freie Wort in einem autoritären und diktatorischen Regime zu sein. So ist im belarussischen Web eine Parallelwelt entstanden. Sie schafft ihre eigenen Helden, bringt ganze Kontinente und Planeten hervor. Die Mehrheit der älteren Schriftstellergeneration steht dem Internet kritisch gegenüber und fürchtet, es schade der Verbreitung des Buches. Das Gegenteil ist der Fall. Die neuen Technologien stärken die Rolle des Buches und des literarischen Textes. Im Internet aktiv sind u.a. Adam Globus, Juras‘ Barysevič, Sjarhej Kalenda, Michas‘ Južyk, Al’herd Bacharėvič (Alhierd Bacharevič), Jaŭhen Lёsik, Vika Trėnas, Ales‘ Arkuš, Sjarhej Sys, Ihar Babkoŭ, Hanna Kislicyna, Aksana Bjazlepkina, Sjarhej Balachonaŭ und Sjarhej Dubavec.

 

Verlage und Buchreihen
Obwohl die Zahl literarischer Periodika sehr gering ist, erschien in Belarus in den vergangenen beiden Jahren eine Reihe literarisch hochwertiger Texte. Man könnte von einem spezifisch belarussischen Phänomen und Paradoxon sprechen. Diese Texte erschienen, obwohl in den Staatsverlagen praktisch ein Verbot für alle Texte gilt, die nicht dem Modell des postsowjetischen Realismus entsprechen oder von Autoren aus dem oppositionellen Verband belarussischer Schriftsteller (SBP) stammen.

Und doch erschienen in der Reihe Dėbjut des Staatsverlags Mastackaja litaratura einige Bücher, die beim Lesepublikum auf Interesse stießen: Haloŭnaja pamylka Afanasija (Afanasijs entscheidender Fehler) von Juhasja Kaljada, Vjasna ŭ karotkim palito (Frühling im kurzen Mantel) von Zmicer Arcjuch, Vohnepaklonnik (Feueranbeter) von Janka Lajkoŭ, Daty (Daten) von Usevalad Haračka, Sonca za tėrykonami (Die Sonne hinter den Halden) von Julija Novik u.a.

Die Mehrheit belletristischer Werke auf hohem literarischem Niveau erscheint jedoch in den privaten Verlagen Lohvinaǔ, Belaruski knihazbor, Medysont, Radyёla-pljus, Chodr und Halijafy. Und dabei darf nicht vergessen werden, dass die nichtstaatlichen Verlage, die sich auf belarussischsprachige Literatur spezialisiert haben, mit erschwerten Bedingungen zu kämpfen haben. Zumindest ist es ihnen kaum möglich, Bücher auf eigene Rechnung herauszugeben, freie Mittel sind nie in ausreichendem Maße vorhanden. Und die Verkaufszahlen sind gering, gefragt sind nur Bücher bekannter Autoren. Ein Verlag der etwa das Buch des jungen Autors Zmicer Pljan ins Programm nimmt, geht ein hohes Risiko ein. Nicht für sein Image, versteht sich, sondern für seine Finanzen. Dabei haben es auch die jungen Autoren nicht leicht, sich zu ‚promoten’. In den letzten Jahren hat die Unsitte um sich gegriffen, öffentliche Auftritte zu stören oder zu verhindern. Das Fernsehen lädt nur Mitglieder des ‚richtigen’, offiziellen Verbandes der Schriftsteller von Belarus (SPB) ein. Im staatlichen Rundfunk verhält es sich genauso. Und nicht selten sind die Bücher junger Autoren nicht Ergebnis wirtschaftlichen Handelns, sondern reinen Mäzenatentums. Nicht wenige Schriftsteller veröffentlichen ihre Bücher  auf eigene Kosten. Denn es gibt in Belarus leider zu wenig Stiftungen und Organisationen, die willens und in der Lage wären, belarussische Verlagsprojekte zu unterstützen … Und nicht zuletzt ist ein privater Verleger gezwungen, Manuskripte nicht nur auf ihren künstlerischen Gehalt hin kritisch zu prüfen, sondern auch vom Standpunkt der politischen Sicherheit aus – sonst droht ihm unter Umständen der Lizenzentzug.

Zu den spannendsten und ungewöhnlichsten nichtstaatlichen Buchreihen zählen Druhi front mastactvaŭ (die im Jahr 2000 von Freunden der literarischen Bewegung Bum-Bam-Lit begründet wurde). Beispielhaft seien genannt: Adljustravanni peršatvora (Spiegelungen des Urbildes) von Pjatro Vasjučėnka, Rėkanstrukcyja neba(Rekonstruktion des Himmels) von Vol’ha Hapeeva (Volha Hapiejeva), Praletarskija pesni(Proletarierlieder) von Usevalad Haračka , Mil‚jard udaraŭ (Eine Milliarde Schläge) von Jury Stankevič, Stomleny d“jabal(Der erschöpfte Satan) von Sjarhej Kavalёŭ, Pomnik atručanym ljudzjam(Denkmal der vergifteten Menschen)von Sjarhej Kalenda oder Nul(Null) von Illja Sin. Auch die bekannte Reihe Halerėja B (Kurator Ihar Babkoŭ), die mit verschiedenen Verlagen kooperiert, findet ihre Leser. Hier erschienen Šalёny vertahradar (Der verrückte Gartenhüter) von Michas‘ Bajaryn, Cela i tėkst (Körper und Text) von Juras‘ Barysevič u. a. In der Reihe Kniharnja Naša Nivawurden u. a. Sud na Kaljady (Das Kaljada-Gericht) von Ales‘ Kudrycki, die Anthologie weiblicher Erzählkunst Žančyny vychodzjac‘ z-pad kantrolju (Die Frauen geraten außer Kontrolle) und der Übersetzungsband Babilёnskaja biblijatėka (Biblothek von Babel) veröffentlicht. Im Jahr 2006 wurde die Bibliothek der Zeitschrift Dzejasloŭ ins Leben gerufen, in der u. a. Veršnik (Reiter) von Anatol‘ Ivaščanka und Krušnja (Geröll) von Usevalad Sceburaka erschienen.

 

Gruppierungen und Einzelpersonen
In den 1990er Jahren entstand die literarische Bewegung Bum-Bam-Lit (BBL). Binnen kurzer Zeit wurde der Name zum geflügelten Wort, eine Zeit lang galt alles Unkonventionelle oder Unverständliche als ‚bumbamlit’. Mit den eigentlichen Anhängern dieser Bewegung sprang man erst recht nicht zimperlich um. Serž Minskevič schrieb dazu in einem Beitrag für die Zeitschrift Tėksty: „ im Laufe der zehn Jahre, die diese Bewegung existierte, fanden sich in einigen Artikeln und nichtamtlichen Reden allerlei Epitheta für Bum-Bam-Lit: amorph, prinzipienlos, Akudovičs Jungs, Barysevič und ‚die Seinen’, Bacharėvič und Freunde, Višnëŭ und Co, Minskevič et al., Žybul‘-Sippe …“

Heute kommt allerdings den meisten Anhängern dieser Bewegung eine gewichtige Rolle im literarischen Leben von Belarus zu. Daher scheint die Gegenthese, die die junge Kritikerin Marharyta Aljaškevič in ihrem Beitrag zur deutsch-belarussischen Anthologie Frontlinie 2 zum Schaffen der ehemaligen Bum-Bam-Lit-Vertreter formuliert, nicht unbegründet (von den sieben belarussischen Autoren in dieser Anthologie zählten nur Vera Burlak und Vol’ha Hapeeva nicht zu dieser Bewegung): „Die belarussischen Autoren dieses Bandes haben sich ihren Platz in den 90er Jahren erobert, als sich in der belarussischen Literatur, die bisher vom ‚Kollektivismus’ geprägt war, endgültig der Individualismus etabliert hatte. Den sieben Autoren geht es keineswegs allein um das vordergründige Einschleusen brutaler Themen oder das heftige Verwerfen des bis dahin ‚gängigen’ literarischen Kanons, vielmehr sind sie auf der Suche nach einer individuellen Ausdrucksweise. Jeder stellt seine eigenen neuen Spielregeln auf.“

Bemerkenswert war und ist die Vereinigung Freier Literaten (TVL), die wie BBL in den 1990er Jahren gegründet wurde. Sie gibt die Zeitschrift Kalos’se heraus, die leider nur recht unregelmäßig erscheint. In ihrer besten Zeit veröffentliche die Vereinigung unzählige schmale Bändchen in der Reihe Paėzija novaj heneracyi. Außerdem richtet die TVL von Zeit zu Zeit internationale Seminare aus und verleiht jährlich den Hlinjany Vjales für das beste Buch des Jahres. Auch die literarische Vereinigung Vulej muss erwähnt werden, sie gab eine Zeit lang die Samisdat-Zeitung Soty heraus. Leider hat die Vereinigung sich bald wieder aufgelöst. Eine weitere Gruppe junger Schriftsteller hat sich um Andrėj Chadanovič gebildet. Diese ‚Szene’ nimmt regelmäßig an Wettewerben für Nachwuchsschriftsteller teil, die u. a. von Chadanovič selbst betreut werden. Jedes Jahr ist der Wettbewerb einem anderen Klassiker der schönen Literatur gewidmet: Uladzimir Karatkevič, Natallja Arsenneva, Petrarca.

Im Jahr 2001 machte die Gruppe SCHMERZWERK auf sich aufmerksam, in der sich radikale Künstler und Autoren zusammengetan hatten: Juras‘ Barysevič, Val’žyna Mort, Vol’ha Hapeeva, Al’herd Bachrėvič, Illja Sin, Zmicer Višnëŭ (Zmicier Vishniou). Die Gruppe veröffentlichte ihr Manifest in der Zeitschrift pARTisan und der belarussisch-deutschen Anthologie Frontlinie (2003). Aufgenommen werden konnte man nur bei hundertprozentiger Zustimmung aller Mitglieder, daher blieb die Gruppe im Unterschied zu BBL eher hermetisch. SCHMERZWERK richtet Festivals und Kunstaktionen aus, veröffentlicht Bücher und die Zeitschrift Tėksty. Im neuen Jahrtausend machten die Mitglieder der Literatur- und Performance-Gruppe Jana-try-ёn (Adam Šostak, Juras‘ Lenski, Vol’ha Rahavaja) von sich reden. Sie haben ihr eigenes Manifest und treten bei diversen Aktionen und Festen auf. Insgesamt ist festzustellen, dass sich kreative Kräfte häufig nicht nur um literarische Gruppierungen sammeln, sondern auch um Zeitungen und Zeitschriften. Hier sind besonders Naša Niva und ARCHE zu nennen. Diese verfügen nicht nur über einen festen Stamm von Autoren, sondern versuchen auch, ihr Literaturkonzept zu propagieren.

 

Festivals, Kongresse, Seminare, Wettbewerbe
Zu den arriviertesten Festivals zählt sicher das jährlich stattfindende Ne-farmat, an dem neben Autoren auch Performer, Künstler und Musiker beteiligt sind. Über mehrere Jahre hin fanden in Buchhandlungen einen Monat lang Lesungen unter dem Titel Druhi front mastactvaŭ statt. Unter dem Slogan Try dni treten Künstler auf, außerdem werden literarische Neuerscheinungen vorgestellt. Auch die Wanderfestivals Dzen’ mumifikatara und Adsutnae belaruskae mastactva müssen hier erwähnt werden. Zum wiederholten Mal fand bereits das internationale Literaturfestival Paradak sloŭ statt. Zu beachten ist dabei für alle oben aufgezählten Aktivitäten: Sie gehen auf die Initiativen von Privatleuten zurück, häufig ist das Veranstaltungsbudget verschwindend gering (oder gar nicht vorhanden). Für Prestigeprojekte wie Dažynki und  Slavjanski bazar ist aber immer Geld da. Das Budget für eine dieser staatlichen Feierlichkeiten dürfte für die Ausrichtung von zwanzig (hochwertigen) nichtstaatlichen ausreichen. Vieles, was staatlich finanziert wird, ist leider von vornherein für die Teilnahme ausgewählter ‚richtiger Künstler’ reserviert. Das sei eben Geschmackssache, mag da mancher einwenden. Einverstanden, aber Aufgabe des Staates ist es doch, Kunst für verschiedene Geschmäcker zu fördern. Für die erwähnten Veranstaltungen wird schließlich das Geld aller Steuerzahler eingesetzt.

 

Belarussische Literatur im europäischen Kontext
Das Interesse der Europäer an der belarussischen Gegenwartsliteratur hat in den vergangenen zehn Jahren offensichtlich zugenommen. Zahlreiche Gemeinschaftsproduktionen sind entstanden: die belarussisch-schwedische Anthologie 4 + 4 + 4 (1999), die belarussisch-deutschen Frontlinie (2003) und Frontlinie 2 (2007), die belarussisch-ukrainische Suvjaz’razryŭ (2006). Anthologien belarussischer Lyrik erscheinen in verschiedenen slawischen Sprachen. Belarussische Schriftsteller werden bei internationalen Festivals ausgezeichnet. So errang Val’žyna Mort 2005 beim slowenischen Vilenica International Literary Festival den ersten Platz. Im Jahr 2007 fand im tschechischen Brno ein Monat der belarussischen Literatur statt. Werke von Ales‘ Razanaŭ, Barys Pjatrovič, Al’herd Bacharėvič, Vol’ha Hapeeva, Viktar Žybul‘, Juras‘ Barysevič, Vera Burlak und zahlreichen anderen Autoren liegen in guten Übersetzungen in die unterschiedlichsten Sprachen vor. Zu Sowjetzeiten erfuhr man von Werken belarussischer Schriftsteller nur über die russische Kultur; zunächst wurden die Autoren ins Russische übersetzt, dann konnte auch noch die Übersetzung in andere europäische Sprachen folgen. Mit dem Zerfall der Sowjetunion hat sich die Situation grundlegend gewandelt; Übersetzungen aus dem Belarussischen ins Russische gibt es nicht mehr (zumindest liegen bisher keine vor), damit wurde die Belletristik gewissermaßen konserviert. Doch nun scheinen sich langsam Übersetzerschulen herauszubilden, die aus dem Belarussischen in andere europäische Sprachen übersetzen, vor allem ins Deutsche und Schwedische … Vielleicht wird den bedeutendsten Werken belarussischer Schriftsteller mit der Zeit über diese Sprachen internationale Beachtung zuteil.

 

Übersetzt aus dem Belarussischen und für novinki kontextualisiert von Thomas Weiler.

 

Aljaškevič, Marharyta: Eigene Spielregeln. Aus dem Belarussischen von Martina Mrochen. In: Volha Hapiejeva et al. (Hg.): Frontlinie 2. Deutsch-Belarussische Anthologie. Minsk 2007, 101-121.
Kisjalëŭ, Henadz‘: Ad Čačota da Bahušėviča. Minsk 2003.
Kis’licyna, Hanna: Novaja litaraturnaja situacyja. Zmena kul’turnaj paradygmy. Minsk 2006.
L-kritika. Ežegodnik Akademii russkoj sovremennoj slovesnosti. 2/2001.
Minskevič, Serž: Da pytan’nja farmalëgii Bum-Bam-Lita. In: Tėksty 3/2007, 143-147.
Šaŭljakova, Iryna: Rėstauracyja ščyrasci. Minsk 2005.
Škraba, Iryna: Varyjantnasc‚ u sučasnaj belaruskaj move. Minsk 2004.
Vasjučėnka, Pjatro: Adljustravanni peršatvora. Minsk 2004.
Višnëŭ, Zmicer: Aktuelle literarische Entwicklungstendenzen in Belarus. Aus dem Belarussischen von Thomas Weiler. In: Annus Albaruthenicus 2010. 227-238.
Višnëŭ, Zmicer: Veryfikacyja naradžėnnja. Minsk 2005.

 

Belarussische Literatur auf Deutsch. Auswahlbibliografie
Bacharevič, Alhierd: Die Elster auf dem Galgen. Roman. Aus dem Belarussischen von Thomas Weiler. Leipzig 2010. (im Erscheinen)
Bryl‘, Janka: Vögel und Nester. Roman. Aus dem Belarussischen von Hans-Joachim Grimm. Berlin 1968.
Bykau, Wassil: Ausgewählte Novellen. Aus dem Belarussischen und Russischen von Norbert Randow u.a. Leipzig 1978.
Bykau, Wassil: Die Schlinge. Aus dem Russischen von Thomas Reschke. Berlin 1972.
Hapiejeva, Volha et al. (Hg.): Frontlinie 2. Deutsch-belarussische Anthologie. Minsk 2007.
Harecki, Maxim: Zwei Seelen. Aus dem Belarussischen von Norbert Randow. Unveröffentlichtes Manuskript.
Karatkewitsch, Uladsimir: Land unter weißen Flügeln. Aus dem Belarussischen von Uladsimir Tschapeha. Minsk 1983.
Klinaŭ, Artur: Minsk. Sonnenstadt der Träume. Aus dem Russischen von Volker Weichsel. Frankfurt a. M. 2006.
Kolas, Jakub: Märchen des Lebens. Aus dem Belarussischen von Gundula Tschepego. Berlin 1988.
Kudrawez, Anatol: Totengedenken. Aus dem Belarussischen von Gundula und Wladimir Tschepego und Norbert Randow. Berlin 1983.
Literatur aus Weißrussland. In: Lichtungen 108. 2006, 41-114.
Melesh, Iwan: Menschen im Sumpf. Aus dem Belarussischen von Henryk Bereska, Gundula und Wladimir Tschepego. Berlin 1974.
Mort, Valžyna: Tränenfabrik. Gedichte. Aus dem Belarussischen von Katharina Narbutovič. Frankfurt a. M. 2009.
Narbutovič, Katharina; Mort, Valžyna: „Ich will leben, Leute …“. 12+1 Dichter aus Weißrussland. In: die horen 228, 2007, 5-49.
Neue Texte aus Belarus. In: Ostragehege 46-2. 2007, 12-23.
Neureiter, Ferdinand: Weißrussische Anthologie. Ein Lesebuch zur weißrussischen Literatur. München 1983.
Randow, Norbert (Hg.): Die junge Eiche. Klassische belorussische Erzählungen. Leipzig 1987.
Randow, Norbert (Hg.): Störche über den Sümpfen. Belorussische Erzähler. Berlin 1971.
Rasanaŭ, Ales: Das dritte Auge. Punktierungen. Aus dem Belarussischen von Elke Erb. Basel u.a. 2007.
Rasanaŭ, Ales: Tanz mit den Schlangen. Gedichtauswahl. Aus dem Belarussischen von Elke Erb und Uladsimir Tschapeha. Berlin 2002.
Rasanaŭ, Ales: Zeichen vertikaler Zeit. Poeme, Versetten, Punktierungen, Betrachtungen. Aus dem Belarussischen von Elke Erb. Berlin 1995.
Sakaloŭski, Uladzimir (Hg.): Belarussische Erzählungen. Minsk 2000.
Schamjakin, Iwan: Das Bekenntnis. Roman. Aus dem Belarussischen von Hans-Joachim Grimm. Berlin 1972.
Vishniou, Zmicier: Das Brennnesselhaus. Aus dem Belarussischen von Martina Jakobson. Unveröffentlichtes Manuskript.
Višneŭ, Źmicier (Hg.): Frontlinie. Deutsche und Belarussische Anthologie. Minsk 2003.
Višnioŭ, Zmicier: Ich sitze im Koffer. Aus dem Belarussischen von Elke Erb und André Böhm. Berlin 2006.

 

Weiterführender Link:
http://www.lyrikline.org/index.php?id=59&L=0#be

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