Aus dem Traum in die Welt

Neuinszenierung von Janka Kupalas TutejšyjaIm Zuge der Proteste nach den Präsidentschaftswahlen in Belarus kündigte das gesamte Ensemble des Minsker Janka-Kupala-Nationaltheaters. Eine Neuinszenierung von Janka Kupalas Tutejšyja schien verloren. Nun hatte sie doch noch Premiere – auf YouTube.

 

Eine katholische Kirche zur Linken, eine orthodoxe zur Rechten, dazwischen ein dritter, unentschlossener Bau. Zwei schwarze Engel treten hervor und entrollen eine rote Stoffbahn, einen Fluss aus Blut. Sie treten zurück, zwei weiße Engel nehmen ihren Platz ein. Zu beiden Seiten des Blutflusses entfalten sie je eine weitere, weiße Stoffbahn, treten zur Seite, heben die Hände – die drei Bahnen werden mechanisch nach oben gezogen, und aus dem Blutfluss wird die gehisste Flagge des unabhängigen Belarus, der Be-Tsche-Be, weiß-rot-weiß.

 

Mit diesem Bild schloss die Premierenaufführung von Janka Kupalas Tutejšyja am nach dem Autor des Stückes benannten Nationaltheater in Minsk 1990, und mit ihm schließt auch die Neuinszenierung des Stückes durch das ehemalige Ensemble ebendieses Theaters. Die Rückkehr des Stückes nach Minsk 1990, nachdem es fast 65 Jahre von den Hauptstadtbühnen verbannt gewesen war, gilt als ebenso skandalös wie sensationell, proklamierte sie doch noch unter der Sowjetmacht die Idee eines unabhängigen Nationalstaats Belarus. Die Inszenierung lief mit Unterbrechungen bis 2010 auf der Bühne des Kupalaŭski; diesen Herbst, im September 2020, hätte nach 30 Jahren eine vielerwartete Neuinszenierung unter der Regie von Mikalaj Pinigin – der auch 1990 schon Regie geführt hatte – auf die Bühne kommen sollen. Doch dann kam der Sommer der Proteste nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen vom 9. August, die Unterstützung der Proteste durch die Mitglieder des Nationaltheaters, die Entlassung des Intendanten Pavel Latuška und seine erzwungene Flucht ins Ausland und schließlich die Kündigung eines Großteils der Kupalcy aus Solidarität mit ihrem Intendanten. Im hundertsten Jahr seines Bestehens hörte das wichtigste belarussische Theater praktisch auf zu existieren und die Premiere der Neuinszenierung von Tutejšyja erschien zumindest fraglich.

 

Janka Kupalas Tutejšyja – zu Deutsch am ehesten Die Hiesigen – ist in vielerlei Hinsicht ein quintessenzielles Belarus-Drama. In ihm fand die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aktive belarussische Nationalbewegung ihren klarsten künstlerisch-kritischen Ausdruck. Die Spannung zwischen zwei konträren, aber gleichermaßen scheiternden Protagonisten bestimmt die Handlung: Der kleine Beamte Mikita Znosak, der sich in den Bürgerkriegsjahren 1918 bis 1920 jeder neuen Macht, die Minsk einnimmt – den Polen, den Deutschen, den Weißen, den Roten – als deren treuster Untertan andient, steht den romantisch-naiven Überzeugungen des Lehrers Janka Zdol’nik gegenüber, der zwar von seiner belarussischen Identität überzeugt ist, aber bei deren Realisierung immer an den Fremdmächten scheitert. Das 1926 uraufgeführte und wenig später verbotene Stück positioniert Belarus als einen Raum zwischen Mächten im Osten (Russland) und Westen (Polen und Deutschland), an die es zwar nie vollends assimilierbar ist, denen es aber immer unterworfen bleibt. Das Schicksal Janka Kupalas spiegelt das Problem: Nachdem er nur durch einen öffentlichen Selbstmordversuch 1930 der stalinistischen Repressionsmaschine entkommen war, verbrachte er die Zeit bis zu seinem Tode 1942 mit dem Schreiben von Lobpreisungen auf den stalinistischen Sowjetstaat. Der einstmals große Dichter verschwand hinter einer Maske, die der Schriftsteller Alhierd Bacharevič später „Kajan Lupaka“ taufte. Kupala, der Dichter, der nicht (mehr) ist, wurde zum Nationaldichter einer Nation, die es nicht gibt. Und nun schließlich eine Neuinszenierung des Stücks über die Nation, die doch Premiere feiern durfte – an einem Theater, das nicht mehr existiert.

 

Die Kupalaŭcy, das Ensemble des Kupala-Theaters, waren nach ihrer Kündigung nicht untätig geblieben – während sich die Proteste fortsetzten, wurde weiter geprobt, um die Aufführung, die auf Plakatwänden im Zentrum von Minsk noch immer angekündigt wurde, doch noch zu realisieren. Die Premiere sollte am 12. Oktober auf YouTube stattfinden, ein für eine Theateraufführung ungesehener Hype ging ihr voraus. Wie würde das Stück die Vorgänge der letzten Wochen reflektieren?

 

Regisseur Pinigin rollt Kupalas Stoff mithilfe eines zentralen – und sehr zurückhaltenden – inszenatorischen Kniffs neu auf. Auf Basis ebendieses Stoffes wird auf der Bühne ein Film gedreht, immer wieder unterbricht ein „Regisseur“ die Vorgänge. An entscheidenden Stellen wird dadurch Minsk als historischer Raum in das Bühnengeschehen eingeführt – wenn im Stück selbst Straßen und Plätze des Minsk der frühen Zwanziger angesprochen werden, werden Bilder des historischen, im zweiten Weltkrieg zerstörten Minsk eingespielt, dazu spätere Umbenennungen der Orte angeführt. Ein historisches Kontinuum entsteht.

 

Außerhalb der kleinen Unterbrechungen ist der Umgang mit dem zugrunde liegenden Textmaterial sehr respektvoll – „akademisch“ sozusagen, entsprechend dem institutionellen Selbstverständnis des Theaters. Der tragikomische Charakter der Figuren wird betont, jedoch nicht karikaturistisch überzeichnet. Ein komisches Element bilden schon bei Kupala zwei in jedem der vier Akte auftauchende Forscher, ein „westlicher“, polnischsprachiger, und ein „östlicher“, russischsprachiger, die den unapologetischen Belarussen Janka begutachten sollen und dabei in exakt gleichem Wortlaut in den jeweiligen Sprachen zu entgegengesetzten Ergebnissen kommen, mit dem sie ihn der jeweils eigenen Nation einverleiben wollen: der eine erkennt in ihm klar einen Russen, der andere einen Polen. Die Wissenschaft dient dem Imperium, der Beschaute (selbst ein Lehrer, ein Akademiker) hat in ihr keine eigene Sprache.

 

In Pinigins Inszenierung von 1990 wurden die beiden imperialen Wissenschaftler zu Priestern, der eine katholisch, der andere orthodox, womit auf das zwischen den Fremdmächten zerriebene multikonfessionelle Belarus der Vergangenheit angespielt und gleichzeitig die religiöse Trennlinie aufgezeigt wird, die sich quer durch Belarus in den nächsten Jahren unter dem Schutt des Realsozialismus herausschälen sollte. In der Neuinszenierung holt Pinigin nun die mediale Situation während der Proteste auf die Bühne. Die beiden sind vom Ausland dirigierte Korrespondenten. In der Genealogie der Inszenierungen reihen sich hier also neben Wissenschaft und Kirche die Medien als das in der heutigen Situation wirkmächtigste Herrschaftsinstrument ein.

 

Zum Schluss werden, anders als bei Kupala, alle von den Roten erschossen. Um dennoch Kupala das letzte Wort zu geben, darf der Lehrer Janka noch dem Publikum die Zeilen von Kupalas Gedicht „O tak – ja praletar“ von 1924 entgegenschleudern, in denen der Proletarier, der Sklave von gestern, berichtet, wie er sich heute die ganze Welt unterworfen hat, nur eines nicht überwinden kann: seine nächtlichen Träume von Belarus. Dann der Schnitt zur Aufführung von 1990. Und dann, bevor der „Vorhang fällt“, haken sich die Mitglieder des Ensembles unter, es entsteht eine jener Menschenketten, wie man sie aus den ersten Tagen des Protests kennt. Darauf will das Stück hinaus: aus der positiven Negativbestimmung, dem Traum von einst, soll in der Aktion, in der Menschenkette, ein echtes Positives werden. Die Geschichte soll erlöst werden – darauf hofft dieser Theaterabend. Und wohl auch die 100.000 Menschen, die allein innerhalb der ersten 24 Stunden die Aufzeichnung angesehen haben, und die fast 200.000, die inzwischen noch dazugekommen sind.

 

Weiterführende Links

Neuinszenierung Tutejšyja: https://youtu.be/V6WXIOOyEw4

Inszenierung der Tutejšyja von 1990: https://youtu.be/c45LMs-l-m0

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