Die Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit kommt in Georgien im Schneckentempo voran. Umso wichtiger ist es, dass die Literatur an jene Vergangenheit erinnert. In seinem preisgekrönten Dokumentarroman „Westflug“ nimmt sich Dato Turaschwili die Geschichte der Tiflisser Flugzeugentführung im November 1983 vor – und rekonstruiert den Fall mit beeindruckender Eindringlichkeit.
Das Phantom der kommunistischen Ordnung ist in Georgien noch immer präsent. Die Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit kommt im Schneckentempo voran. Zwar schaut die gegenwärtige Regierung nach Westen und hofft auf eine baldige EU-Mitgliedschaft, trotzdem gelingt es ihr nicht, sich endgültig von der Vergangenheit zu verabschieden. Umso wichtiger ist es, dass die Literatur an jene Vergangenheit erinnert.
Die Geschichte der Tiflisser Flugzeugentführung aus dem Jahr 1983 gleicht heute fast einem Mythos. Am 18. November 1983 haben sich sieben junge Georgier aus Tbilissi vorgenommen, ein Flugzeug Richtung Türkei, also in die Freiheit, zu entführen. Die Beteiligten stammten aus intellektuellen Kreisen der jungen Generation in Georgien. Sie waren Ärzte, Schauspieler und Künstler, trugen aus dem Ausland eingeschmuggelte Jeans, hörten Voice of America und Pink Floyd, zitierten Kant und fielen durch ihr antisowjetisches Verhalten auf. Heute beschäftigt man sich künstlerisch mit dem Fall, sowohl in Film und Theater als auch in der Literatur. Im Jahre 2003 rekonstruierte der georgische Regisseur und Absolvent der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf, Zaza Rusadze, in seinem Film Banditen die Geschichte der Flugzeugentführung. In Georgien kursieren noch immer allerlei Legenden über diese jungen Leute. Dies hängt auch damit zusammen, dass die Familienangehörigen der Entführer über Jahre hinweg nichts über das Schicksal ihrer Verwandten wussten. Einige vermuteten die jungen „Terroristen“ und „Banditen“, wie sie damals in den Medien bezeichnet wurden, in den sowjetischen Lagern oder gar im Ausland.
In seinem Dokumentarroman Westflug beschäftigt sich der georgische Autor Dato Turaschwili mit der gescheiterten Flugzeugentführung, die für fast alle unmittelbar Beteiligten und einige Flugzeugpassagiere tödlich endete. Der Schriftsteller und an der Universität in Tbilissi tätige Literaturwissenschaftler gehört selbst zu jener Generation, deren Vertreter 1988/89 als Anführer der Studentenproteste in der georgischen Hauptstadt fungierten. Im Rückgriff auf Zeugenaussagen entwirft er in seinem Roman beeindruckende Geschichten, in denen Realität und Fiktion stets ineinanderfließen. Turaschwili rekonstruiert den mysteriösen Fall in einer einfachen Sprache und mit beeindruckender Eindringlichkeit.
Der Erzähler führt alle Hauptprotagonisten nacheinander ein. Die damals 18-jährige Kunststudentin Tina, die einzige weibliche Beteiligte an der Entführung, konnte der Todesstrafe entkommen. Sie verliebte sich in ihren 22-jährigen Verehrer Gega Kobachidse, den schon damals populären Schauspieler. Kurz vor ihrem ersten Treffen wird Gega wegen seiner Wrangler-Weste auf der Straße überfallen und fast tödlich verletzt. Jeans waren damals das höchstbegehrte Kleidungsstück in ganz Georgien und „verführerischer als Evas Apfel“. Amerikanische Jeans sind zugleich eine der wichtigsten ,Figuren‘ des Romans. Der Vater von Soso Zereteli, einem der Flugzeugentführer, ein angesehener sowjetischer Wissenschaftler, schmuggelt sie aus den USA und entkommt nur knapp der Verhaftung. Zu einem Gespräch beim ZK-Sekretär erscheint wiederum der Vater von Kacha und Paata Iverieli aus Protest in einer Jeanshose: „Die Jeans roch immer noch nach seinen Söhnen. Er zog sie an und machte sich auf den Weg zu Schewardnadse.“ Im Original heißt der Roman Jinsebis Taoba (Die Jeansgeneration).
Gega und Tina, „das schönste Paar der Welt“, suchen im Roman nach einer Idylle in ihrer Zweisamkeit. Sie bewundern Sonnenaufgänge in der leeren Stadt, fahren zum Meer an die türkische Grenze, um der Freiheit des Westens ein Stück weit näher zu kommen. Sie stellen sich ihr Leben in einem freien Land vor und spielen verschiedene Fluchtmöglichkeiten durch: „,Ich kann das Meer nicht durchschwimmen.‘ ‚Ich auch nicht.‘ (…) ‚Wie willst du es dann machen?‘ ‚Ich werde fliegen.‘ ‚Fliegen kannst du also besser?‘ (…) ‚Ich werde wirklich fliegen. Aber nur mit dir.‘“ Als ahne Gegas Freund Soso ihr kurzes Glück, sagte er zu dem Paar: „Ihr seid viel zu schön für die Regierung. Passt gut auf euch auf!“
Als angeblicher Anführer der „Bande“ tritt im Roman außerdem der 33-jährige Mönch Temur Chikhladze auf. Die orthodoxe Religion galt in der Sowjetunion als verpönt. Für den Mönch fängt „der Weg zur Freiheit (…) in der Kirche an“. Für seine Freunde allerdings erst außerhalb der sowjetischen Grenze. Als könnte der Mönch der Zeit vorauseilen, stellt er in einer Passage fest: „Die Menschen, die jetzt massenweise bei den Paraden mitlaufen, würden genauso massenhaft in die Kirchen strömen und sich überall bekreuzigen, wo sie Menschensammlungen oder Kirchen erblicken.“ Trotz seiner kritischen Einstellung zum Vorhaben seiner Freunde, steht Pater Theodor später als Hauptangeklagter vor Gericht: „Denn den Mönch im Prozess als den Drahtzieher hinzustellen, sollte der Gesellschaft und vor allem der Jugend veranschaulichen, was aus Menschen wird, die sich mit Religion befassen.“
Die Ermittlungen über die gescheiterte Flugzeugentführung dauern neun Monate. Dank der Bemühungen der Regierung belasten die Zeugenaussagen immer mehr die Entführer. Im Gefängnis tauschen Gega und Tina Geheimbotschaften aus, bis Tina ihr noch ungeborenes Kind verliert. Das Urteil zieht nun eine tödliche Zäsur durch ihr Leben. Für alle männlichen Beteiligten steht die höchste Strafe fest – die Erschießung. Sie sind und bleiben für viele Terroristen, blutrünstige Banditen und Heimatverräter, für andere wiederum junge Menschen, die in ihrer Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung einen existenziellen Fehler begangen haben.
In dem preisgekrönten und meistverkauften Roman der georgischen Gegenwartsliteratur gelingt es Dato Turaschwili, an die über dreißig Jahre zurückliegende Geschichte auf beeindruckende Art und Weise zu erinnern. Der Autor schildert die Geschehnisse aus einer gewissen Distanz, wirkt aber nie gleichgültig seinen Figuren gegenüber. Der Roman führt den Lesern keine Helden im Kampf gegen das sowjetische Regime vor, sondern junge, gebildete, verzweifelte Menschen auf der Suche nach Freiheit. Turaschwilis Roman holt die Vergangenheit zurück, die nur durch das Erinnern an die Opfer des Regimes aufgearbeitet werden kann, also auch an die Opfer der Tiflisser Flugzeugentführung.
Turaschwili, Dato: Westflug. Aus dem Georgischen von Anastasia Kamarauli. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach, 2014.
Informationen zur georgischen Originalausgabe: http://sulakauri.ge/books/single/333/