Briefe aus der Ukraine: Hört die Stimmen der Frauen 

„Das gute Leben ist dort, wo wir gerade sind,“ schreibt Kristina Parioti. Ihr Brief ist einer von knapp vierzig, die ukrainische Frauen an ein westliches Publikum richten. Die Anthologie „Wie ein Lichtstrahl in der Finsternis“ – Briefe von Frauen aus der Ukraine an die freie Welt bündelt diese Stimmen, die sehr nah und persönlich vom Krieg erzählen – und überraschend unerschütterlich sind.

 

„In der Neujahrsnacht 2022 , dachten Sie, man könne das Glück löffeln – so voll, so gesättigt war die Luft in der Wohnung davon.“ Mit diesen wohlig-warmen Worten beschreibt die ukrainische Parlamentsabgeordnete Ol’ha Stefanišyna (Olha Stefanischyna) ihre Erinnerung an die letzten Wochen vor Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Gesamtukraine am 24. Februar 2022. Ihr Brief an die Leser*innen ist einer von vierzig in der Anthologie Wie ein Lichtstrahl in der Finsternis“. Es sind, wie es im Untertitel heißt, Briefe von Frauen aus der Ukraine an die freie Welt, Briefe, geschrieben inmitten des russischen Angriffskrieges gegen ihr Heimatland.

Herausgegeben wurden sie von der in Deutschland lebenden Französin Aurélie Bros. Als Leiterin eines Programms zur Unterstützung ukrainischer Journalistinnen und Journalisten lernte Bros viele Ukrainerinnen und Ukrainer kennen: „Die Geschichten, die ich hörte, waren nicht nur herzzerreißend, sondern auch kraftvoll, überraschend und inspirierend,“ schreibt Bros. So entschloss sie sich, die Geschichten für eine westliche Öffentlichkeit, für die der Krieg weit weg zu sein scheint, zugänglich zu machen. Bros lässt in der Anthologie ausschließlich Autorinnen sprechen, um auch die unsichtbaren, nicht-militärischen Kämpfe des Krieges sichtbar zu machen: „Es waren die Frauen, die mich am meisten faszinierten, denn sie waren bereit, sich mit ganzem Herzen an den Anstrengungen zur Verteidigung des Landes zu beteiligen.“

Sie bat die Autorinnen um Beiträge in Briefform, um die Intimität, den Schmerz und die Herzlichkeit ihrer Gedanken wiederzugeben: „Ein leeres Blatt vor sich zu haben ist ein bisschen wie ein Gespräch von Herz zu Herz mit sich selbst führen. (…) Es ist in gewisser Weise eine Läuterung, die geistige Erneuerung, Befreiung vom Schmerz und Hilfe beim Blick in die Zukunft gewährt.“ Die Briefform gibt den Emotionen, die der Band in den Vordergrund stellt, Raum.

 

 

Achtunddreißig einzigartiger Briefe versammelt die Anthologie, verfasst von ukrainischen Frauen, die vor Beginn des Krieges nichts miteinander gemein hatten. Lehrerinnen, Künstlerinnen, Geschäftsfrauen, Politikerinnen und sogar Soldatinnen teilen ihre Briefe mit der Leserschaft. Manche, wie die 33-jährige Journalistin und Forscherin Marjana Motrunyč (Marjana Motrunytsch), hielten sich am 24. Februar 2022, dem Tag, an dem der Großangriff Russlands auf die Ukraine begann, in Kyjiw auf. Andere hingegen befanden sich im Ausland, wie die 32-jährige Gründerin eines Online-Modeladens Hanna Kimlač (Hannah Kimlatsch), die in Shanghai lebt. Eine Autorin aus den USA wollte anonym bleiben: „Ich bin mir nicht sicher, ob meine Geschichte Aufmerksamkeit verdient. Ich war nicht dabei, als um fünf Uhr morgens die Bomben explodierten.“ Auch im Alter unterscheiden sich die Ukrainerinnen. Die jüngsten Autorinnen sind 2012 geboren, die älteste Autorin im Jahr 1950. Laut Bros weigerten sich Frauen über 80, ihre Gedanken in diesem Projekt zu veröffentlichen. Die Herausgeberin führt dies auf politische Traumata aus der Sowjetunion zurück.

Die Briefe sind sehr persönlich gehalten, die Autorinnen stehen im Dialog mit sich selbst und teilen dabei ihre Geschichte mit der Leserschaft. Die Frauen beschreiben ihre Erlebnisse vom Beginn des Krieges bis heute, ihre Wünsche, Hoffnung und ihre Verzweiflung. Dabei erfährt man auch Alltägliches: den Musikgeschmack, die Einrichtung der Wohnung oder den Namen des Haustieres. Der Detailreichtum lässt Identifikation zu, es fördert die Solidarität und das Mitgefühl der Leserschaft, auf deren ‚mental maps‘ der Krieg kaum existiert.

Unterschiedliche Aspekte des Krieges strukturieren das Buch – genauso wie den Alltag der Frauen. Einige Motive finden sich jedoch beinahe in jedem Beitrag wieder. Die Beiträge verdeutlichen, was es heißt, plötzlich im Krieg zu leben. Oft zeugen sie von tiefer Unsicherheit, insbesondere gegenüber der Zukunft.

Ein zentrales Thema der Briefe ist die Gewalt des Krieges. Die siebzehnjährige Schülerin Stefanija Starovojtova (Stefanija Starowojtowa) schreibt: „Es gab vier sehr laute und starke Explosionen. Ich saß im Flur der Wohnung meiner Großeltern. Ich dachte, ich muss sterben.“ Nach ihrer Flucht im Juni 2022 ist sie mittlerweile in die Ukraine zurückgekehrt. Auch die politischen Dimensionen der Gewalt werden in vielen Briefen reflektiert: „Im Krieg haben alle ihr wahres Wesen offenbart. (…) Ich wollte raus aus dieser Hölle, diesem Chaos, diesem Ort, wo auf der Straße Leichen lagen, zwischen ausgebrannten Häusern, bei verlassenen Menschen,“ schreibt die 22-jährige Philologin Kristina Pariotri. Sie floh noch im April 2022 nach Ingolstadt in Deutschland.

 

 

Opfer und Schäden des Krieges sind ein mit dieser Gewalt verbundenes Motiv der Beiträge. Die Frauen berichten von verlorenen oder verstorbenen Angehörigen, vor allem Männern, die in die ukrainische Armee eingezogen wurden. So schildert die Parlamentsabgeordnete Ol’ha Stefanišyna, 41 Jahre alt: „Mein Leben war am 24. Februar zu Ende. Seit dem Tag habe ich nie wieder in meinem Bett geschlafen ‒ dem Bett, das mein Mann Bohdan und ich für unser gemeinsames glückliches Leben ausgesucht hatten. (…) Bohdan starb im Bruchteil einer Sekunde: Die verdammte Granate traf ihn direkt.“ Zuletzt sah die Autorin ihn am 24. März 2022, er war auf dem Weg zu einer Rettungsaktion in der Nähe von Černihiv (Tschernihiw).

Auch die Zerstörung ihrer Heimat und ihres Alltags wird von den Frauen thematisiert. Die 74-jährige Journalistin und Dozentin Iryna Černyčenko (Iryna Tschernytschenko) beschreibt nicht nur die physische Zerstörung, sondern auch die Vernichtung der Erinnerungen: „Durch das schöne Kyijw, eine der schönsten Städte überhaupt, schallt seit sechs Monaten furchtbares Sirenengeheul ‒ es ist Krieg … Aber so schön die Hauptstadt auch sein mag, am liebsten würde ich nach Donezk zurückkehren, in das friedliche, ukrainische Donezk. (…) Wenn all das Schreckliche vorbei sein wird, wenn der Sieg kommt, und er wird auf jeden Fall kommen, denke ich, dass das Schrecklichste in der Erinnerung vieler Menschen das Heulen der Sirenen bleiben wird, bei dem man von der Angst um seine Lieben überwältigt wird.“

Und dennoch sprechen hier keine Opfer: Trotz der extremen Umstände, in denen die Frauen leben, ist vor allem der widerständige Geist und die immer wiederkehrende Positivität ein starkes Motiv der Briefe. Iryna Černyčenko etwa beschreibt ihren Garten als Ort der Unerschütterlichkeit: „Hunderte von Geschossen sind dort schon eingeschlagen, und jemand wollte mir einreden, dass es auf unseren Grundstücken kein Leben mehr geben kann. Aber ich glaube an die fantastische Widerstandskraft der lebenden Pflanzen – sie können nicht verschwinden.“

Dabei zeigen sich auch Patriotismus und Solidarität als fruchtbare Quellen der Stärke: „Die ersten, die mich im Frühling begrüßten, waren die großen blauen Blüten des Immergrüns und daneben, an der Kornelkirsche, eine große Kugel gelber Blüten ‒ wie eine Erinnerung an die Nationalflagge.“ In der Natur spiegelt sich, der Autorin zufolge, die Essenz des Ukrainischen wider. Indem sie die Robustheit der Pflanzen, die selbst im Krieg blühen, benennt, betont sie die Widerstandsfähigkeit der ukrainischen Bevölkerung. Auch die 12-jährige Schülerin Anastasija Selivanova (Anastasija Seliwanowa) verbindet Identität mit einem Element der Natur: „Jetzt ist alles gut. Wir sind in Sicherheit. Hier gibt es ein Meer, aber ich möchte sehr gern mein Mariupoler Meer sehen.“ Solidarität und Verbundenheit findet nicht nur zwischen den Ukrainerinnen und Ukrainern statt, sondern auch gegenüber ihrer Umwelt, ihrem Meer, ihrem Boden – ihrer Heimat.  

 

 

Umso schöner sind all jene Briefe, die mit einem hoffnungsvollen Blick in die Zukunft enden. Die 28-jährige Musikerin Adelina Mokljak, die mittlerweile in Berlin lebt, schreibt: „Ich bin überzeugt, dass wir eines Tages siegen werden (…) Wir – Ukrainer, Juden, alle Völker und Nationen –, eine Koalition der Sieger kann das ein für alle Mal beenden.“ 

Durch das Vorwort der Herausgeberin werden die Motive der Briefe eingerahmt. Bros entdeckt einen roten Faden in der Anthologie – nämlich die Frauensolidarität. Trotz des Anspruches, die Autorinnenschaft möglichst divers zu halten, räumt die Herausgeberin Schwierigkeiten ein: „Ein Blick (…) zeigt, dass die meisten von ihnen jung, weiß und gebildet sind und häufig aus privilegierten Verhältnissen stammen. Ein Anthropologe oder Soziologe würde zu Recht darauf hinweisen, dass meine Auswahl der Protagonistinnen nicht die Vielfalt der Ethnien, Religionen, Kulturen und soziologischen Hintergründe der Ukraine repräsentiert.“ Mit ihrer Transparenz zeigt Bros ein modernes und weltoffenes Verständnis von intersektional unterschiedlichen Lebensrealitäten. Das heißt unter anderem, für Männer bedeutet der Krieg eine andere Realität als für Frauen. Die Autorinnen der Briefe kehrten im Krieg – gezwungenermaßen oder freiwillig – vermehrt in die häusliche Sphäre zurück und übernahmen die Aufgaben der Versorgerinnen, auch als Vertriebene. Wichtigen Entscheidungen, etwa um wen sich die Frauen zuerst kümmern und wen sie zurücklassen können, mussten getroffen werden. Dies ist die ‚versteckte‘ Seite der Kriege. Aurélie Bros Ausführungen werden begleitet durch die Nachworte von Emily Channell-Justice und Oleksandra Matvijčuk (Oleksandra Matwijtschuk). Diese geben einen fundierten Einblick in das Frauenbild und die feministische Bewegung der Ukraine und bieten für interessierte Leser*innen viele Zusatzinformationen über die besondere Rolle der ukrainischen Frauen im Krieg.

Letztendlich zeichnet sich das Buch jedoch weder durch einen post-feministischen Ansatz noch durch die Auswahl außergewöhnlicher Charaktere, sondern vor allem durch Authentizität aus. Die ungeschönten und gefühlsbetonten Briefe erzählen eindrucksvoll die Geschichten der Frauen, wobei die persönlichen Erlebnisse und kleinen Details zum Greifen nah erscheinen. Dies ermöglicht der Leserschaft, Empathie und das Gefühl der Verbundenheit und Solidarität mit den ukrainischen Frauen zu teilen. Das Buch, das sich explizit an ein internationales Publikum richtet, fordert die internationale Gemeinschaft auf, nicht wegzuschauen. Durch die intimen Einblicke, die durch die Briefform zur Geltung kommen, wird die Menschlichkeit, die der militärischen Mechanik des Krieges gegenübersteht, in den Vordergrund gestellt.
Die Art und Weise, mit der die schreibenden Frauen mit den Herausforderungen des Krieges umgehen, verdeutlicht ihre Vulnerabilität, große innere Stärke und Heimatverbundenheit. Sie stehen bildhaft für die Bevölkerung der gesamten Ukraine.

 

Literatur:

Bros, Aurélie: „Wie ein Lichtstrahl in der Finsternis“  Briefe von Frauen aus der Ukraine an die freie Welt. Aus dem Ukrainischen von Lydia Nagel. München: Elisabeth Sandman Verlag, 2023.

 

 

Beitragsbild: Seite aus der Anthologie, Elisabeth Sandmann Verlag. Bildquelle: Suhrkamp.

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