Mit Blick auf das beeindruckende übersetzerische Schaffen von Andreas Tretner käme es einem nie in den Sinn, dass er die Sprachen in seinem Studium nicht selbst ausgewählt hat. In den letzten zwei Jahrzehnten hat er viele der wichtigsten literarischen Neuerscheinungen aus dem Russischen, Bulgarischen und Tschechischen ins Deutsche übersetzt, darunter Vladimir Sorokin, Alexander Ilitschewski , Viktor Pelewin , Michail Schischkin sowie Jáchym Topol und Fedia Filkova. Für seine Übersetzungen erhielt er Preise und Auszeichnungen, u. a. 2011 den Internationalen Literaturpreis des Berliner Hauses der Kulturen der Welt für seine Übersetzung „Venushaar“ von Michail Šiškin.
Zuletzt war Andreas Tretner für die Übersetzung des bulgarischen Romans Die Sanftmütigen von Angel Igov für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Damit ist er wieder ein Stück weit dorthin zurückgekehrt, womit sein Werdegang als literarischer Übersetzer begann – zur Literatur aus Bulgarien.
Mit novinki spricht er über das Studieren zu DDR-Zeiten, seine Arbeit beim Reclam-Verlag zum Zeitpunkt der Wende, über die vielen Facetten des literarischen Übersetzens und darüber, warum sich entgegen den oft so zweigeteilten Lebensläufen ehemaliger DDR-Bürger_innen bei ihm geradewegs ein biographisches Kontinuum ergibt.
Mandy Krause: Herr Tretner, sind Sie mit Leib und Seele Literaturübersetzer?
Andreas Tretner: Ja, schon, aber es ist ein ganzes Feld. Und auf einem Feld muss gesät, gejätet, gewässert und geerntet werden. Das bezieht eine Reihe näherer und fernerer, jedoch immer mit dem Übersetzen verbundener Nebentätigkeiten ein. Das Übersetzen zu lehren oder in Werkstattform auszuprobieren, ist die dialogische Variante. Und es entsteht auch der Wunsch zu reflektieren, was wir da eigentlich machen.
M.K.: Aus diesem Wunsch heraus ist, so nehme ich an, auch der Film Spurwechsel – ein Film vom Übersetzen (2003) entstanden?
A.T.: Der Film war ein kollaboratives Projekt und ein Versuch zu zeigen, was alles passieren kann, wenn ein Text die Sprache ändert. Er beinhaltet eine Mischung aus Inszenierung und realem Dialog. Viele Strukturen dieses Films sind auch dem Übersetzen eigen. Eine Übersetzung ist die Inszenierung eines fremden Textes in einer anderen Sprache.
M.K.: Es ist sehr interessant, wie Sie zum literarischen Übersetzen gekommen sind. Sie haben zu DDR-Zeiten an der Universität Leipzig ein Sprachmittler-Studium absolviert. In einem Interview sagten Sie einmal, dass das Studium damals sehr funktional ausgerichtet gewesen und Literaturübersetzen gar nicht behandelt worden sei. Trotzdem sind Sie am Ende Literaturübersetzer geworden. Hat genau das fehlende Element am Ende den Reiz ausgemacht?
A.T.: Sprachen waren zumindest eine Option für mich, als es mit 18 darum ging, sich darüber klar zu werden, was man will. Und das eben in der DDR in den 1970er Jahren. Das „Wann“ und das „Wo“ ist in diesem Fall sehr von Belang. Ich hatte ganz andere Dinge vor, aber die klappten in dem Jahr nicht. Literatur lesen und verstehen war mir ein Bedürfnis und das Übersetzen als Phänomen schillernd genug, dass ich mir auch vorstellen konnte, ein Studium daraus zu machen. Was es allerdings damals hieß, Sprachen zu studieren, davon hatte ich keine Vorstellung.
M.K.: Was bedeutete es, Sprachen in der DDR zu studieren?
A.T.: Es stellte sich heraus, dass dieses sogenannte Sprachmittler-Studium vor kurzem reformiert und zugeschnitten worden war auf ganz bestimmte Zwecke, nämlich, banal gesagt, darauf, dem Staatsapparat zu dienen. 90 Prozent der männlichen Studierenden waren delegiert von der Armee oder vom Ministerium für Staatssicherheit. Auch mit der Wirtschaft gab es konkrete Verbindlichkeiten. Die Pragmatik war vergleichbar stringent, wie wenn man Journalistik oder Außenhandel studierte. Klassische Elemente eines Philologiestudiums waren nur noch in Restbeständen vorhanden.
M.K.: Und Sie sind dann für Russisch und Bulgarisch angenommen worden?
A.T.: Obwohl ich mich für Englisch und Spanisch beworben hatte! Das erfuhr ich allerdings erst in der ersten Studienwoche. Wenn man das heute jemandem erzählt, dann ist das schwer zu glauben. Aber Leute, die man nicht in den Westen schicken konnte oder wollte, die durften natürlich auch kein Englisch studieren. Wozu auch? Diese Logik war nicht meine, und sie war sehr frustrierend.
M.K.: Es ist wirklich schwer vorstellbar, die Studienwahl in fremde Hände legen zu müssen.
A.T.: Und die Entzauberung ging weiter. Das wird jetzt anekdotisch, aber ich erzähle es trotzdem. Für die Einführungsvorlesung fehlte der Schlüssel zum Hörsaal. Sie wurde dann auf dem Hof von einem großen Kohlehaufen herunter gehalten, wir standen um ihn herum. Eine unvergessliche Szene, geradezu kriegskommunistisch anmutend, das hätte genauso auch 1947 gewesen sein können. Und dazu passend predigte der „Direktor Erziehung und Ausbildung“ uns Novizen gleich einmal ein Ethos der Ergebenheit, der Willfährigkeit: Das, was die Partei von ihrer Bevölkerung erwartete, fand zusammen mit den Tugenden eines Dolmetschers, der sowieso „Luft“ zu sein hatte. Das kam mir alles wie ein großer Irrtum vor. Wir haben dort monatelang Parteitagsreden gedolmetscht, das heißt tote Sprache, pures ideologisches Versatzmaterial.
M.K.: Und trotzdem konnten Sie sich am Ende für die Sprachen begeistern, die Ihnen auferlegt wurden?
A.T.: Anfangs war ich tatsächlich schockiert, die Liebe kam sehr viel später. Von Bulgarisch hatte ich keine Vorstellung außer, dass es dem Russischen äußerlich ähnlich schien. Russisch war in der Schule die eine Fremdsprache, die wir wirklich intensiv gelernt, aber wenig gemocht hatten, weil sie mit doktrinären Inhalten verbunden und didaktisch altbacken präsentiert war. Das hat man auch als Kind gemerkt. Ich war als junger Pionier auch schon einmal in der Sowjetunion – erst in Moskau bei irgendwelchen Aufmärschen und dann in einem wunderbaren Ferienlager in der Pskover Provinz, sogar bei Puschkin in Michajlowskoje . Die Eindrücke waren sehr gemischt. Die Neugierde war geweckt, aber Russisch zu studieren, das wäre mir nicht eingefallen.
M.K.: Wie haben Sie das dann durchgehalten?
A.T.: Das frage ich mich heute auch. Wohl als geborener Stoiker und dank gewisser Nischen. Der Nischenbegriff ist ja ein sehr wichtiger für die DDR-Gesellschaft. Sie gab es in Hülle und Fülle. Man musste sie erkennen und konnte sich darin einrichten. Und eine Nische war für uns das Bulgarische. Der Russischunterricht war auch hier verschult und als Drill strukturiert, zum Glück waren einige gute Lehrer und Lehrerinnen dabei. Das Bulgarische war über Gastlektoren organisiert, Konversation im kleinen Kreis, mit viel Empathie. So ging es dann doch.
Geholfen hat mir auch die Aussicht, zwei Auslandssemester in Sofia verbringen zu können. In der letzten Woche vor der Abreise bin ich jedoch relegiert worden, aus disziplinarischen Gründen. Ich weiß bis heute nicht genau, wer oder was dahintersteckte. Das war dann nochmal richtig bitter. Aber das sind biografische Schleifspuren. Es war für mich auch eine Zeit der Rebellion und des permanenten Lavierens an den Grenzen des Möglichen. Andere haben andere Unglücksfälle im Leben.
M.K.: Sie sind in die slawischen Sprachen hineingeworfen worden, haben dann aber noch eine dritte hinzugenommen, nämlich Tschechisch. Wie lässt sich das erklären?
A.T.: Während des Studiums befreundete ich mich mit einem jungen Mann, der Tschechisch studierte und mir diese Literatur und mit ihr die Sprache nahebrachte. Wir lasen die Brünner Dichter aus Host do domu, das hatte den Ruch des Verbotenen und war so berückend klangvoll und poetisch. Immer noch die am schönsten klingende slawische Sprache, wie ich finde.
M.K.: Es ist bemerkenswert, dass Sie heute aus drei slawischen Sprachen übersetzen. Welchen Stellenwert hat das Tschechische für Sie?
A.T.: Für mich ist Tschechisch eine reine Lesesprache geblieben. Genau daraus ziehe ich aber den Reiz, weil die Technik des Übersetzens so anders ist als bei den Sprachen, die ich auch aktiv beherrsche und bei denen das Verstehen kürzere Wege geht. Beim Tschechischen bin ich immer wieder dabei, mir das erst zu erarbeiten, wie eine Fremdsprache. Ein überaus spannender Vorgang: Wenn sich aus der Begegnung mit dem Fremden und aus dem Nichtwissen heraus ein Inhalt erschließt. Das ist in Recherche und Umsetzung ein völlig anderer Weg. Es gibt ja diese Form der Lyrikübertragung, bei der Dichter_innen anhand von Interlinearen übersetzen, das hat vergleichbare Momente.
M.K.: Muss man nicht wenigstens eine Weile in dem Land gelebt haben, dessen Sprache man übersetzt?
A.T.: Das hat ganz stark mit den Textsorten zu tun. Umgangssprache, lebendige Sprache, sozusagen von der Straße, die ihrer ganz eigenen Grammatik und Semiotik folgt, so ein Phänomen wie der russische Mat beispielsweise, so etwas kann man wohl nicht übersetzen, ohne es einigermaßen „von innen her“ zu kennen. Dem geschriebenen, zum Lesen bestimmten Wort kann ich mich anders nähern. Wer sich als Verleger darauf einlassen will, macht mir eine Freude. Ich sehe mich da aber auch gerne als Dilettanten und möchte den „richtigen“ Tschechischübersetzer_innen nicht das Feld streitig machen.
M.K.: Ihre erste literarische Übersetzung war aus dem Bulgarischen, Dem Herrgott vom Wagen gefallen von Jordan Raditschkow . Wieso war es genau ein Werk aus dem Bulgarischen, das den Anfang ihrer Karriere als literarischer Übersetzer vorgezeichnet hat?
A.T.: Vor allem war es der allerschwierigste von allen denkbaren zeitgenössischen Autoren. Das war wie ein Sprung ins kalte Wasser. Aber ich fand diese Stimme absolut faszinierend: Ein Autor, der mit den tradierten, immer noch realexistierenden dörflichen Kommunikations- und Erzählstrukturen arbeitete, diese aber zu etwas ganz Beweglichem überhöhte und transzendierte. Darüber wollte ich meine Diplomarbeit schreiben – aus der ich dann später in meiner Zeit als Industrieübersetzer, um den Kontakt zur Literatur zu halten und mich als Gutachter zu empfehlen, ein Kapitel als Schreibprobe an den Reclam-Verlag in Leipzig schickte. Prompt wollten sie die Übersetzung haben. Das war der Absprung. Als ich den Vertrag mit Reclam hatte, bin ich sofort weg von Carl Zeiss Jena und konnte in aller Ruhe, „freischaffend“, mit dem kleinen Sohn im Haus, dieses Buch machen. Parallele Einübung ins Vater- und ins Übersetzersein, ein glückliches Jahr.
M.K.: Beim Reclam-Verlag waren Sie ja später auch als Lektor tätig. Erst als Lektor, so sagten Sie in einem Interview, haben sie gute von schlechten Übersetzungen zu unterscheiden gelernt. Woran erkennen Sie eine gute Übersetzung?
A.T.: Ohne den Blick ins Original lässt sich eine gute von einer schlechten Übersetzung letztlich nicht unterscheiden. Aber schon auch in sich muss der Text schlüssig sein und Sinn produzieren, so dass man einen Zusammenhang versteht. Das ist in der Belletristik schwieriger zu bemessen, weil es auch Texte gibt, die gar nicht schlüssig sein wollen oder es einfach nicht sind, aber das betrifft dann eher den großen Zusammenhang. Im Mikrobereich der Sprache überzeugt vor allem Kohärenz. Und allerlei ästhetische Dinge gehören noch dazu. Ich habe so manche schlechte und mittelmäßige Übersetzung gesehen in jener Zeit. Und aus Fehlern lernt man, auch aus den Fehlern anderer. Das war auch eine Ernüchterung. Anfangs hatte ich gedacht, wer übersetzt, der kann es, sonst ließe man ihn nicht.
M.K.: Als literarischer Übersetzer wurden Sie vor allem nach der Wende bekannt. Wie haben Sie die Wendezeit in dieser Branche erlebt?
A.T.: Ich habe die Wende unmittelbar im Reclam-Verlag miterlebt. Eine wilde, intensive Zeit, beinahe rauschhaft, bevor die Verhältnisse wieder zu einer Normalität erstarrten, die nur wir nicht kannten. Der Stuttgarter übernahm den Leipziger Reclam-Verlag und war nicht kompatibel mit dem, was wir zu machen uns so vorgestellt hatten. Da viele blühende Träume platzten und auch der Widerstand im eigenen Haus erlahmte, hat es mich dort relativ schnell herauskatapultiert. Die Gelegenheit der Wende empfand ich als Impuls, ins Offene zu gehen. So bin ich freier Übersetzer geworden.
M.K.: Was genau hat Sie in dieses Offene ziehen lassen?
A.T.: Im Rückblick auf meinen Werdegang ergibt sich da ein merkwürdiges Kontinuum. Warum ich gerne Übersetzer geworden wäre, das hatte ursprünglich mit der Autonomie dieses Berufs in der DDR zu tun, die eine große Anziehungskraft auf mich ausübte. Die gab es sonst eigentlich nur noch bei Künstler_innen, die nicht wollten, dass der Staat ihnen reinredet. Und in der Literatur waren das eher die Übersetzer_innen, während Autor_innen, die so arbeiteten, nur schwer zu eigenen Büchern kamen. Das Übersetzen war eine erstaunlich autarke Angelegenheit, die noch dazu, bei den extrem niedrigen Wohnungsmieten, Lebensmittelpreisen usw., ein erträgliches Auskommen bot. Diese Perspektive hatte ich mir bereits zu eigen gemacht. Und nach der Wende, unter ganz anderen politischen Vorzeichen, habe ich diese Autonomie nicht mehr missen wollen, auch im neuen System nicht. Diese Entscheidung war um einiges riskanter, weil es zu einer prekäreren Existenz führte, als sie es in der DDR gewesen wäre. Ob dieses Kontinuum aus Gewohnheit, Temperament oder aus weltanschaulichen Gründen zustande kam, das kann ich gar nicht so genau sagen. Aber ich habe gemerkt, dass ich auch forthin keinen Chef haben wollte. Loyalität aus Erwerbsgründen ist mir zutiefst fremd geblieben. Das ist eine der deutlichsten Kontinuitäten in meinem Leben. Wir aus der DDR sind ja sonst doch mit zweigeteilten Biografien versehen, aber viel hat sich nicht geändert an meinem Arbeitsleben.
M.K.: Sie sprechen bereits an, dass sich Literaturübersetzen heutzutage selten ökonomisch rentiert. Warum übersetzen Menschen trotzdem Literatur? Was liegt für Sie auf der anderen Waagschale?
A.T.: Einen Teil habe ich beschrieben. Dazu kommt der künstlerische Aspekt, der mich reizt. Und da ist dieser Spagat, das Unmögliche zu tun. Wir haben das gängige Bonmot eines Kollegen: Warum man Shakespeare nicht übersetzen kann und es trotzdem immer wieder tut. Frank Günther, der den kompletten Bühnen-Shakespeare übersetzt hatte, hat mal einen Vortragsabend so überschrieben. An sich komplett wahnwitzig, einen Text zu „entleiben“ und als pure Idee zu verpflanzen in ein fremdes Substrat – man tut es und hat für das Ergebnis einzustehen. Das hat so etwas Drahtseilhaftes, als Reiz und auch als Zumutung. Aber eben auch eine Routine: Kunst und Handwerk zusammenzuführen.
M.K.: Sie hatten mal ein Interview gemeinsam mit dem Autor Michail Šiškin gegeben, in dem es heißt, dass es sehr kompliziert war, einen Verlag für die Übersetzung seiner Werke zu finden, weil seine Werke als schwer gelten. Die DVA hat es schlussendlich gewagt. Liegt die Verantwortung beim Übersetzer selbst, Bücher an Verlage zu vermitteln und einem Lesepublikum zu eröffnen?
A.T.: In der Regel stehen dazwischen noch die Literaturagent_innen. Der russische Markt zum Beispiel ist fest in der Hand einiger zumeist westeuropäischer Agenturen, die versuchen, die in Russland mehr oder weniger etablierten Autor_innen in der Welt unterzubringen. Bei Šiškin bissen die deutschsprachigen Verlage jedoch lange nicht an. Vielleicht lag es auch am falschen Buch. Als ich mich beim Agenten erkundigte, warum es nicht klappt, haben wir schnell beschlossen, noch einen Versuch zu wagen. Venushaar war frisch in der Welt, und dieses Werk ist einfach sein Bestes.
M.K.: Den direkten Weg gibt es gar nicht?
A.T.: Diesen direkten Weg, dass eine Übersetzerin sich für einen Autor einsetzt, gibt es auch. Manchmal gelingt es. Für eine kleinere Literatur wie die bulgarische gibt es sowieso keine speziellen Vermittler_innen, einfach mangels Masse. Keiner könnte davon leben. Es gibt nur hin und wieder einen Autor, der es zu einem international operierenden Agenten schafft.
M.K.: Wie wählen Sie Ihre Werke aus?
A.T.: Meistens gar nicht. Ich kriege sie auf den Tisch. Das ist übrigens etwas, was mich nach 30 Jahren im Beruf plötzlich wieder unzufrieden macht. Gerade wenn man auf zeitgenössische Literatur abonniert ist, wie es bei mir lange Zeit der Fall war, führt es manchmal dazu, dass man als Stimme von einem bestimmten Autor gehandelt wird, so hängt man ihm an, das ist schön, aber auch gefährlich. Hat man zwei oder drei, ist das fast so wie im Märchen von Hase und Igel. Der eine hat schon das neue Buch geschrieben, wenn man mit dem Buch des Kollegen eben fertig ist. So lässt sich aus Zeit-, Kraft- und Kapazitätsgründen kaum noch in eigene Entdeckungen investieren.
M.K.: Spielen da nicht auch die Verlage eine entscheidende Rolle?
A.T.: Es gibt Beispiele, auch im Fall russischer Literatur, wo sich Übersetzer_innen mit einem Verlag vermählt haben. Aber die wenigsten sogenannten Publikumsverlage leisten es sich, in einer bestimmten Literatur programmatisch zu denken und zu verlegen. Hier springen bestenfalls Kleinverlage ein, die sich aus patriotischen oder dem Herzen nahe liegenden Gründen spezialisieren und versuchen, so ein Vorhaben ökonomisch zu stemmen. Meistens ist das dann nur ein kürzerer Traum, geht nur eine Weile gut. Im Moment sind es zwei Verlage, die für das Bulgarische noch auf der Piste sind, der eta-Verlag in Berlin und ink press in Zürich. Mit der Berliner Verlegerin ist zum Beispiel die Übersetzung von Angel Igovs Die Sanftmütigen entstanden, und es gibt noch weitere Pläne.
M.K.: Würden Sie sagen, dass „Die Sanftmütigen“ ein Startzeichen für die bulgarische Literatur waren?
A.T.: Das war wahrscheinlich das zwölfte Startzeichen. Man muss immer wieder neu starten, und dann irgendwann erlahmt es wieder, und wieder ist eine Weile lang nichts.
M.K.: Wie kam es zu diesem erneuten Versuch?
A.T.: Es gibt einen sehr guten Autor, Georgi Gospodinov, der die zeitgenössische bulgarische Literatur über Jahre hin sozusagen erschöpfend zu repräsentieren schien. Er wird es mir nicht verübeln, wenn ich das hier so sage, zumal er nichts dafür kann. Gospodinov war so etwas wie der Platzhalter für die bulgarische Literatur. Das ist natürlich fatal, vor allem für die anderen. Was Igov und mich anbelangt, so war es die Chefin des Übersetzerhauses in Sofia, die uns mit der Idee herausforderte, ob nicht Die Sanftmütigen die passende Causa wären, an der sich beweisen ließe, dass in Deutschland noch etwas mit bulgarischer Literatur geht oder etwa nicht? Die Wette galt, so könnte man sagen.
M.K.: „Die Sanftmütigen“ von Angel Igov waren in Bulgarien eine kleine Sensation. Hat das am Ende für den Versuch gesprochen?
A.T.: Die Gründe dafür, anzunehmen, dass Europa sich für das Buch interessieren könnte, lagen in dem Buch selbst. Es besetzt einen weißen Fleck, rührt an einem Tabu im weitesten Sinne. Eine spezielle historische Thematik, die aber an die Situation in Gesamtmitteleuropa andockt – und geschrieben auf eine Art, die affiziert und übernationale Muster bedient. Die Rechnung ist aufgegangen, der Text hat tatsächlich ein gewisses Aufsehen erregt, genau auf die Art, die zu erhoffen, und in dem Maß, das ohne jedes Werbebudget gerade noch vorstellbar gewesen war. Das war eine interessante Erfahrung über das Machbare hinsichtlich so einer „kleinen“ Literatur. Es lässt sich auch nicht beliebig reproduzieren.
M.K.: In einem Interview erwähnten Sie einmal, dass das Bulgarische viel zwischen den Zeilen bietet. Was heißt das für Sie beim Übersetzen?
A.T.: Beim Wechsel zwischen den Sprachen habe ich manchmal das Gefühl, auch die Techniken wechseln zu müssen, wie ein Künstler, der Holzschnitte und Kupferstiche macht. Ich hänge eher dem Axiom an, dass sich in jeder Sprache alles sagen lässt, wenn auch auf verschiedene Weise, in verschiedenen Graden von Schärfe und Unschärfe, aus der Nähe gesehen. Die bulgarische Literatursprache ist im Vergleich zur russischen jünger, der Wortschatz messbar kleiner. Dafür ist der Formenbestand, die Anzahl der Ableitungen von einem Wort, bemerkenswert groß. Die Morphologie der Sprache ist eine andere, die dazu führt, dass geringste Nuancierungen in der Form sehr verschiedene Sachverhalte ausdrücken und der Spielraum der Interpretation größer scheint. Dazu kommen, historisch betrachtet, vielerlei Einflüsse aus Dialekten und benachbarten Sprachen wie dem Türkischen oder Griechischen, mit eigener Aura. Auch von daher ist die Sprache vielschichtiger, der Grad der Fremdheit erscheint höher. Es könnte sein, dass sich mir das in bestimmten Bereichen darstellt als zwischen den Zeilen stehendes Fragezeichen.
M.K.: Wenn Sie einen neuen Übersetzungsauftrag von einem Autor haben, den Sie noch nie übersetzt haben, wie fangen Sie an?
A.T.: Das ist ein Kampf. Wenn man, wie zumeist, mit dem letzten Buch schon etwas über der Zeit ist, dann geht man von einem Buch ziemlich rasch zum anderen über. Man übersetzt die ersten zehn Seiten, und es ist, als hätte man nie zuvor übersetzt, der Text sperrt sich. Und das ist völlig logisch, denn man versucht den Autor B erst einmal wie Autorin A zu übersetzen, mit derselben Stimme, die immerhin ein Viertel Jahr lang die eigene war, mit der man sozusagen sprechen oder schreiben musste, indem man Autorin A übersetzte. Und die kann bei Autor B natürlich nicht funktionieren. Es ist ein Prozess des Loswerdens und des Neufindens. Diese Auseinandersetzung führt tatsächlich zu einer Krise, einer systemischen, gesetzmäßigen Krise, die sinnvoll und unerlässlich ist, weil man sich von Mal zu Mal neu erfinden muss in seiner Sprache.
M.K.: Das heißt, dass es ohne diese Krise gar nicht geht?
A.T.: Wenn diese Krise nicht einträte, wäre das ein ganz schlechtes Signal. Es würde bedeuten, dass man den Autor B in der Sprache der Autorin A übersetzt. Das führt zu nichts Gutem. Daran, dass diese Krisen regelmäßig eintreten, kann man sehen, wie Übersetzen wirklich funktioniert. Man gibt sich für einen anderen aus.
M.K.: Würden Sie sagen, dass ein Text jemals fertig sein kann?
A.T.: Es gibt die Vorstellung der idealen Übersetzung, das Äquivalent, so hieß es damals in der Übersetzungstheorie. Aber das kann es in der Literatur nicht geben, weil Menschen Menschen übersetzen. Es bleibt immer ein Anteil „Verunreinigung“: die Spuren der eigenen Persönlichkeit, des Schreibens, des Denkens und des Geschmacks. Das ist einfach nicht zu tilgen. So ergibt sich ein Hybrid. Und das bedeutet, dass es von jedem Original eine beliebige Anzahl Übersetzungen geben kann und eigentlich müsste.
Je theoretischer man die „ideale Übersetzung“ fasst, desto weniger ist dieses Fertige zu denken, geschweige herzustellen. Praktisch gibt es ein Zu-früh und ein Zu-spät des Aufhörens. Es sind schon viele Bilder verdorben worden, an denen einer zu lange gemalt hat. Das Zu-früh ist besser zu korrigieren als das Zu-spät. Das ist dann aber eine Wahrnehmungssache.
M.K.: Vielen Dank, Herr Tretner, für das Interview!
Das Interview hat Mandy Krause am 22.06.21 via Zoom geführt.
Bildquelle: Andreas Tretner (links) und Vladimir Sorokin (rechts), © Archiv Kiepenheuer & Witsch.