Alem Grabovac ist Journalist und freier Autor, der in Berlin lebt. Geboren wurde er als Kind jugoslawischer Gastarbeiter in Würzburg und wuchs in zwei parallelen Welten gleichzeitig auf: bei seiner deutschen Pflegefamilie in der süddeutschen Provinz und mit seiner Mutter im Frankfurter Bahnhofsviertel. 2021 ist Alem Grabovacs erster Roman „Das achte Kind“ beim Carl Hanser Verlag erschienen, in dem Grabovac seine außergewöhnliche Lebensgeschichte autofiktional bearbeitet. Der Roman gewährt tiefen Einblick in das post-nazistische Deutschland der Derrick-Wohnzimmer ebenso wie in das gnadenlos harte Leben einer doppelt verratenen jugoslawischen Gastarbeiterschaft. Diese verlässt Jugoslawien, das sie nicht versorgen konnte und fortan von ihren hart erarbeiteten Überweisungen zehrt, und kommt in Deutschland an, das sich ebenso zwiespältig als Ort der Ermöglichung und Ausbeutung zugleich präsentiert. „Das achte Kind“ denkt das eine nie ohne das andere und erzählt darin die Geschichte der Gastarbeiter_innen auf besondere Weise.
Miranda Jakiša: Im Roman Das achte Kind sind die Geschichte, die Kultur und die Menschen aus der Bonner Republik mit Jugoslawien und das vereinigte Deutschland und die postjugoslawischen Nachfolgestaaten über die Figur des Ich-Erzählers, den du Alem genannt hast, verwoben. Der Roman gibt zugleich Einblick in das Leben der jugoslawischen Gastarbeiter_innen und in deutsche Mittelstandswohnzimmer. Inwiefern gehören für dich beide zusammen oder hast du eine Zeit lang auch überlegt, den Roman anders anzulegen, z.B. mit Fokus auf die Geschichte von Smilja, der Gastarbeiterin aus Jugoslawien?
Alem Grabovac: Das Interessante an meiner Lebensgeschichte ist ja unter anderem, dass ich gleichzeitig bei meiner deutschen Pflegefamilie in der schwäbischen Provinz und bei meiner kroatischen Mutter Smilja und ihrem serbischen Freund Dušan in Frankfurt am Main aufgewachsen bin. Das waren zwei unterschiedliche Lebensentwürfe, die sich normalerweise in der BRD nicht berührt haben. Hier die deutsche Mittelschicht mit einem Motorradjournalisten als Familienoberhaupt und dort die „Jugos“ als Fabrikarbeiterin für den Automobilzulieferer VDO und als Schweißer auf dem Bau. Ich fand diesen Gegensatz, der sich in meiner Biografie gebündelt hat, als Erzählung sehr spannend.
M.J.: Jener Motorradjournalist, dein Ziehvater Robert im Roman, ein alter Nazi und späterer Republikaner, ist der Prototyp des deutschen Mittelstandsfaschos. Offensichtlich ein Vorläufer der heutigen AfD-Anhänger_innen – und einer aus ‚dem alten Westen‘. Wie fügt sich dein Roman über die ‚Ankunft‘ eines Nicht-Deutschen in der deutschen Gesellschaft in die politische Geschichte Deutschlands ein?
A.G.: Mein Roman spielt vorwiegend in den 1980er und 1990er Jahren, als es noch keine doppelte Staatsbürgerschaft gab, niemand mit Migrationshintergrund für die deutsche Fußballnationalmannschaft spielte und man sich nicht sonderlich für uns „Ausländer_innen“ und „Gastarbeiter_innen“ interessierte. Wir waren wie unsichtbar, zählten nicht wirklich dazu. Die Geschichte von uns „Gastarbeiter_innen“, wie wir lebten, dachten, vor was wir Angst hatten oder wovon wir träumten, ist noch lange nicht auserzählt. Inzwischen haben jedoch 25% der Deutschen einen Migrationshintergrund. Das Land hat sich verändert, ist trotz AfD und Fremdenfeindlichkeit, weltoffener und bunter geworden. Die zweite und dritte Generation der Gastarbeiter_innen verschafft sich allmählich Gehör, man interessiert sich mehr und mehr für unsere Geschichten. Aber es ist immer noch so, dass nur 5% aller Journalist_innen, Politiker_innen, Schriftsteller_innen, Wirtschaftsvorstände usw. einen Migrationshintergrund besitzen. Da kann man noch lange nicht von gleichen Lebenschancen sprechen.
M.J.: Absolut! Unter Universitätsprofessor_innen sieht das nicht anders aus… Es war also zentral für dich, eine Geschichte der Gastarbeiter_innenschaft in Deutschland zu erzählen?
A.G.: Ebenso zentral wie das Fortwirken der nationalsozialistischen Ideologie in der BRD, die in vielen Familien unter den Teppich gekehrt wurde. Mein deutscher Vater war zum Beispiel ein Wehrmachtssoldat, der die Juden gehasst hat. Für ihn war, wie für so viele andere Deutsche, der 8. Mai 1945 ganz bestimmt kein Tag der Befreiung.
M.J.: Dann lass uns noch bei Deutschland bleiben. Die Populärkultur der „Bonner Republik“ spielt eine wichtige Rolle für deinen Protagonisten. Welche Bedeutung misst du den Filmen, der Musik und deutschen TV-Kultur der 1980er und 1990er Jahre zu? Für wen haben sie eine Rolle gespielt und welche Rolle ist das?
A.G.: Dallas, Denver-Clan, Magnum, Ghostbusters, Zurück in die Zukunft, Indiana Jones, Prince, Madonna, Nirvana, MTV und der American Way of Life waren kulturelle Sehnsuchtsorte, durch die hindurch man der kleinbürgerlichen Enge der bundesrepublikanischen Alltagsrealität mit Sauerbraten, Derrick, Traumschiff und der ZDF-Hitparade mit Dieter Thomas Heck zu entkommen versuchte.
M.J.: Und der post-genozidalen und post-nazistischen Gesellschaft, der man nicht unbedingt ins Auge sehen wollte?
A.G.: Am wärmenden Fernsehlagerfeuer sollte es keine Störgeräusche aus der Vergangenheit geben. Man badete sich geradezu in Unschuld.
M.J.: Dein Protagonist kennt und bewandert – wie du selbst – beide Welten: Derrick und Partisanenfilm, Sauerbraten und Jugo-Musik. Diese beiden klaffen im Roman ziemlich auseinander und die Liebe zur einen, sowie die Sehnsucht nach den Vorzügen der anderen durchziehen das Leben des Protagonisten. Inwieweit ist die doppelte oder mehrfache Kulturzugehörigkeit für dich ein Zeichen unserer Zeit und damit Literatur?
A.G.: Eine mehrfache Kulturzugehörigkeit kann für Ambivalenzen sensibel machen, muss sie aber nicht. Gute Literatur spielt für mich stets in einem Raum der Widersprüchlichkeit, die man immer und überall im Leben finden kann.
M.J.: Du bist von Beruf professioneller Schreiber, Journalist. Wie schwierig ist dir der Umstieg aufs literarische Schreiben gefallen? Was war deine Triebfeder? Deine Familiengeschichte und die jüngere bundesdeutsche Geschichte zu erzählen, inhaltliche Gesichtspunkte also, oder der Wunsch danach, dich schreibend auch künstlerisch auszudrücken?
A.G.: Ich habe meine ambivalente Lebensgeschichte schon immer als eine Art Schatz verstanden, die ich aufschreiben und mit anderen Menschen teilen wollte. Dafür war jedoch ein zeitlicher Abstand nötig. Sehr lange habe ich nach einer Form und meiner Sprache gesucht. Irgendwann habe ich verstanden, dass ich das alles so schlicht und kristallklar wie nur möglich aufschreiben muss. Die Sprache sollte, ganz ohne poetologische Ornamentik, geräuschlos und zugleich lebendig hinter der Handlung verschwinden. Die Umstellung vom journalistischen zum literarischen Schreiben war enorm. Das sind zwei völlig unterschiedliche Welten, die ganz andere Denkweisen erfordern.
M.J.: In der Literaturwissenschaft sprechen wir von verschiedenen Konzepten des „idealen“ oder „implizierten“ Lesers. Gemeint ist eine vorgestellte Adressat_in, die im Text angelegt ist, die beim Schreiben (ob nun bewusst oder nicht) mit konstruiert wird. Für wen ist dein Roman geschrieben? Hattest du Leser_innen vor Augen?
A.G.: So funktioniert Literatur meiner Meinung nach nicht. Allein die Sprachrhythmen, Protagonist_innen und Geschichten entscheiden darüber, ob ein Roman am Ende die Menschen berührt oder eben auch nicht. Es gibt keine wie auch immer geartete Leser_innenschaft, an die ich mich beim Schreiben gerichtet hätte.
M.J.: Ok. Dann anders gefragt: wolltest du den Gastarbeiter_innen von den Deutschen erzählen oder den Deutschen von uns Gastarbeiter_innen?
A.G.: Im Roman geht es um Bauern, Diebe, Fabrikarbeiterinnen, Tito, Nationalsozialisten, drei Väter, zwei Familien und das ganze schräge Inventar aus dem kurzen 20. Jahrhundert mit all seinen großen und kleinen Erzählungen, die sich schicksalhaft in die Biografien der Protagonist_innen eingeschrieben haben. Ich wiederhole mich: Es gab keine vorgestellte Adressat_in beim Schreiben.
M.J.: Im Roman spricht der Protagonist von warmen Gefühlen, den der wohlvertraute slawische Sprachklang auslöst. Hat in deinen Augen der slawische kulturelle und sprachliche Background auf den Roman eingewirkt?
A.G.: Die südslawische Sprache ist die Grundmelodie meines Lebens. Und das ist verrückt: Denn ich habe diese Sprache nie wirklich gut gesprochen und beherrsche sie auch heute nicht wirklich. Aber wann immer ich sie in einem Gespräch auf der Straße oder insbesondere in Schlagern höre, bin ich zutiefst von ihr berührt. Auch beim Schreiben, insbesondere in den Teilen, die im ehemaligen Jugoslawien spielen, war sie immer da und hat die Sprache rhythmisiert. Und der kulturelle Background? Klar, der ist da. Meine Mutter und meine Großeltern stammen aus einem armen Dorf im kroatischen Hinterland. Die Menschen dort waren herzlicher, verspielter und auch um einiges humorvoller als die Deutschen. Ich hoffe, dass man das meiner Literatur anmerkt.
M.J.: Gibt es Pläne für Übersetzungen deines Romans?
A.G.: Algerien hat ihn bereits eingekauft, ein großer Verlag in Kroatien ist noch am Überlegen, Interesse scheint es aus England, Frankreich und Spanien zu geben. Schauen wir mal und hoffen einfach das Beste.
Das Interview führte Miranda Jakiša.
Bildquelle: Portrait von Alem Grabovac mit freundlicher Genehmigung durch den Verlag hanserblau (© Paula Winkler).