„Die Revolution wird vom Glamour erstickt“

Branko Rosić, Jahrgang 1964, ehemaliger Punker, Rockmusiker und Musikredakteur in jugoslawischen Zeitungen, wurde 2023 für seinen Roman Dolazak matadora (Die Ankunft des Matadors, 2022) der Preis der Tanja-Petrović-Stiftung, 2022 die Britische Ehrenmedaille und die Urkunde des serbischen Verbandes der Jazz-, Pop- und Rockmusiker verliehen. Für zwei seiner Romane sind Verfilmungen geplant. Jelena Gall, Lektorin für BKMS (Bosnisch/Kroatisch/Montenegrinisch/Serbisch) am Slavischen Seminar in Zürich, führte das Interview mit dem Belgrader Schriftsteller Branko Rosić für novinki am 20.12.2023.

 

novinki: Du bist einen für Schriftsteller untypischen Weg durchlaufen: Neben deiner langjährigen Arbeit als Sportredakteur und stellvertretender Chefredakteur der serbischen Wochenzeitung Nedeljnik hast du dich in den letzten Jahren besonders als Romanautor hervorgetan: A tako je dobro počelo (Und so gut fing es an) erschien 2015; Za sutra najavljuju konačno razvedravanje (Am Morgen hellt es endlich auf) 2018 und Dolazak matadora (Die Ankunft des Matadors) dann 2022. Ausgerechnet als Schriftsteller hast du in der serbischen Öffentlichkeit große Bekanntheit erlangt, die du als Musiker oder Journalist in diesem Ausmaß nicht hattest. Wie und wann entstand die Idee bzw. hast du die Entscheidung getroffen, Prosa zu schreiben? Wie hängt all das zusammen? Bevor ich es vergesse, du hast als Beruf Maschineningenieur gelernt!

Branko Rosić: Das stimmt, auch wenn ich nie als Maschineningenieur gearbeitet habe. Meine Biographie ist voller Widersprüche. Ich komme aus der sozialistischen Mittelklasse; aus einer Familie, in der man wusste, dass man vom Schreiben nicht leben kann. Mein „GPS“ für Bildung war mein Vater, der mich immer von den Naturwissenschaften überzeugen wollte, der sagte „Zwei plus zwei ist immer vier“, ob in Reykjavík oder Kuala Lumpur. Das bedeutet, meine Familie hat mich von dem abgebracht, für was ich talentiert war. Dennoch spielte die Musik in allem eine entscheidende Rolle; sie führte mich einerseits zum Journalismus – die meisten Texte und Interviews habe ich als Musikredakteur veröffentlicht. Andererseits führte sie mich zu Filmen und Büchern. Als ich begann, Literatur zu lesen, spürte ich den Wunsch, sie zu schreiben. Das Leben der sozialistischen Mittelklasse erschien mir so furchtbar langweilig, dass ich immer vor ihm fliehen wollte: Ich träumte vom Fahren in der „Steilwand“, vom Reisen in großen Lastwagen, von einem Leben, in dem man nicht von neun bis fünf Uhr arbeiten muss. Manchmal verleihe ich Figuren in meinen Romanen diesen Wunsch. Ich selbst bin zu ängstlich, um mich tatsächlich auf ein solches Abenteuer einzulassen, aber meine Helden sind mutiger, sie machen es einfach.

 

 

Das Buchcover der serbischen Originalausgabe von Branko Rosićs Dolazak matadora (Die Ankunft des Matadors), 2022.

 

Du hast bis jetzt drei Romane geschrieben. Mit dem zweiten Roman Am Morgen hellt es endlich auf (im Folgenden: Aufhellung, Anm. d. Red.) hattest du einen Riesenerfolg; für deinen dritten und meistgelobten Roman hast du Anfang 2023 den Preis der Tanja-Petrović-Stiftung für deinen „Beitrag zur Förderung von Kultur und Kunst in Medien“ bekommen. Das ist ein relativ neuer Preis, nicht wahr?

Es istein sehr junger Preis, aber bereits sehr anerkannt. Natürlich freue ich mich, wenn ich eine Anerkennung erhalte, auch wenn ich nicht auf sie aus bin. Im Journalismus habe ich sie nicht bekommen; einfach deswegen, weil ich kein Journalist war, der große Affären aufdeckt.

Aber du hast viele Interviews mit Menschen aus der Musikwelt geführt, inklusive einiger Weltstars wie etwa Musiker von Pink Floyd. Zudem hast du dich den Themen ohne ideologische Vorurteile angenommen. Beispielsweise hast du Interviews mit Interpreten neukomponierter Volksmusik geführt, etwa mit Miroslav Ilić oder den Brüdern Bajić.

Ja, ich habe mich nicht davor gedrückt! Bei uns gibt es in allem Spaltungen, besonders entlang verschiedener Genres, wobei diese Aufteilungen im Grunde doch snobistisch sind: Entweder schaust du „N1“ (Oppositionsmedium) oder „Pink“ (Regimemedium); du bist Fan vom Fußballverein „Partizan“ oder „Crvena Zvezda“; du hörst entweder Punk, Rock und ähnliches oder neumodische Schlagermusik. Übrigens bin ich stolz auf die Interviews mit den Volksmusik-Stars; das sind interessante Leute, ihre Musik hat in der Gesellschaft eine große Tragweite. Ich mag weder ihre Musik, noch bin ich ideologisch mit ihnen einverstanden, aber als Journalist kann ich nicht so tun, als ob es sie nicht gäbe, als ob sie bedeutungslos wären. Als ich mit meinem ersten Roman begann, fragten mich viele: Warum ein Roman? Warum nicht ein journalistisches Buch? Menschen haben Vorurteile demgegenüber, dass ein Journalist Literatur schreibt – ein Schriftsteller darf ein Klempner oder Autoreifenhersteller sein, aber bloß kein Journalist! Der Journalist ist immer allen suspekt. Einige Bekannte glaubten mir sogar nicht. Ich musste erklären, dass mein Buch kein journalistisches ist, dass es weder eine Kolumnen- noch eine Interviewsammlung enthält.

Jetzt liegen bereits drei Romane von dir vor – und ich würde sagen, dass sie miteinander verbunden sind. Besonders die letzten beiden, sowohl thematisch – worauf wir später noch zu sprechen kommen – als auch formal. Unter formalen Gesichtspunkten finde ich interessant, dass du dich der seit Jahrzehnten dominanten Ich-Perspektive als Erzählinstanz verweigerst. Warum?

Ich experimentierte ein wenig mit der Autofiktion, doch dann verstand ich, dass ich keine „Stimme“ für diese Art von Schreiben habe. Ich wusste, dass in meinen Romanen mehrere Figuren sein sollen; in Matador sind es zwei männliche Hauptfiguren und einige weibliche. Ich will betonen, dass ich besonders für die Konzeption der weiblichen Figuren positive Reaktionen erhalten habe, was mich sehr freut. Ich glaube einfach nicht, dass ich diese Figuren, besonders die weiblichen, authentisch in der ersten Person hätte schreiben können. Ich hatte das Vorhaben – denn Jonathan Franzen hatte mich „vergiftet“ –, eine Familiensaga zu schreiben. Da erschien mir die dritte Person Singular logisch. Und auf diese Art und Weise habe ich die gleiche Distanz zu allen Figuren. Außerdem wollte ich, dass meine Figuren in ihren eigenen spezifischen Sprachen sprechen und dass man sie auch anhand ihres Sprechs erkennt. Max ist nicht Gavran, Lana nicht Višnja und Višnja nicht Camille (Figuren im Roman Matador).

Hat das journalistische Schreiben – die präzise Sprache, die auf kürzestem Wege zur Essenz, zur Information führen möchte –, Einfluss auf die Art des Prosaschreibens? 

Ehrlich gesagt, versuche ich das in der Prosa zu vermeiden. Der Journalismus hat mich sicherlich im Kürzen von Sätzen geschult, aber als ich begann Romane zu schreiben, sagte mir der erste Lektor: „Ich bitte Dich, das ist keine Kolumne!“ Es brauchte Übung, um journalistische und technisch präzise Sätze in literarische Sprache zu verdichten. Andererseits hatte auf meinen Schreibstil der Roman A Clockwork Orange von Anthony Burgess großen Einfluss.

Bezüglich der thematischen Ähnlichkeiten, die ich erwähnte: In den zwei letzten Romanen bilden die Grundlage der Handlung zwei männliche Figuren. In Aufhellung sind das die Brüder „Braunovići“, beide sehr bekannt und erfolgreich zu jugoslawischen Zeiten. Du wirfst sie in einen Generations- und Ideologiekonflikt mit den Kindern, die in der postjugoslawischen Zeit aufgewachsen sind, die sich offen als serbische Nationalisten zeigen und alles „Jugoslawische“ hassen. In Matador hast du auch zwei männliche Hauptfiguren, mit denen du den Fokus genau auf diese postjugoslawische Generation verlagerst. Max ist, wie Kosta in Aufhellung, Sohn eines erfolgreichen und bekannten Jugoslawen, doch er ist kein Nationalist, sondern ein Jugo-Nostalgiker und weit entfernt vom Erfolg seines Vaters. Gleichzeitig bricht die zweite Hauptfigur in Matador, Gavran, aus diesem Muster des Generationskonflikts aus. Er ist ein junger Werbetexter, dem das Geschäftsleben „auf den Sack geht“ und der Serbien verlässt. Was verbindet die beiden, außer der Verschwörung, die sie zusammenführen wird?

Obwohl Gavran erfolgreich ist und Max nicht, wollen beide gleichermaßen aus der „Konfektionsgröße“ ihrer Generation austreten. Ihr Imperativ ist Erfolg. Das ist eine programmierte Generation, für manche eine ungebildete. Okay, vielleicht würden sie in einem Test für Allgemeinwissen durchfallen, aber sie sind sehr fokussiert. Gavran ist ein Paradebeispiel: Er hat alles Erfolg, ein super Unternehmen, ein super Team, eine starke Agentur, ist gut situiert, kann reisen, wo auch immer er hin möchte… Aber die Erotik, dieser Welt zu entfliehen, ging an ihm nicht vorbei. Gavran ging nach Frankreich, um Straßenmusiker zu werden; es überwog der Wunsch nach Individualität. Das verbindet Gavran und Max: der Wunsch, aus dem Korsett auszubrechen, denn die Konfektionsgröße des Lebens passt nicht.

Deine Helden bereisen nicht nur als Touristen den Westen, sondern sie leben auch im Westen, für längere und kürzere Zeiträume, privat und geschäftlich. Aber hier gibt es auch Figuren aus dem Westen, die sich aus unterschiedlichen Geschäftsgründen in Belgrad aufhalten. Serbien ist außerdem nicht so isoliert, wie es in den 1990er Jahren war. Dennoch wird ein gewisses Ungleichgewicht offensichtlich: Deine Belgrader bewegen sich in Richtung Westen als in ein mehr oder weniger bekanntes Terrain, während die Ausländer in Belgrad immer einen Grund finden, sich über etwas zu wundern oder Serbien nicht zu verstehen. Woher kommt das?

Genau, ich wollte dieses Ungleichgewicht zeigen. Selbst wir in Serbien halten es für nötig, Ausländern zu erklären, was Serbien für ein Land ist, denn wir haben Vorbehalte, dass sie wiederum Vorbehalte uns gegenüber haben. Ich habe Freunde aus England, ein verheiratetes Paar, dass sechs Jahre in Serbien lebte. Der Mann hatte dauernd das Gefühl, er müsse den Menschen in England Bilder aus Serbien schicken, zum Beispiel vom Musikfestival Exit (weltberühmtes, jährlich stattfindendes Festival in Novi Sad, Nordserbien – Anm. d. Red.), um ihnen zu zeigen, wie gut in Serbien doch alles funktioniert.

 

 

Branko Rosić, fotografiert von Nebojša Babić.

 

Den Roman hast du zu Covid-Zeiten geschrieben und die Pandemie in ihn integriert. Das ist auch eine Zeit der sozialen Unruhen und großen Proteste. Du hast Gavran, der zur Zeit der „Gelbwesten“ nach Frankreich geht, mit der ungewöhnlichen französischen Bettlerin verbunden, mit der er zuerst in Paris und dann in London erfolgreich eine soziale Revolution organisiert. In den Roman führst du sehr bekannte und wichtige Personen aus der Realität ein: Gavran und Camille kommen bei Macron an, Tony Blair kommentiert, was sie tun… Zu einer Zeit, als es in Belgrad immer und immer wieder zu Protesten gegen den Staatspräsidenten Aleksandar Vučić kommt und in Europa – nach den sozialen, finanziellen sowie Pandemie- und Klimaprotesten – diese propalästinensischen Proteste weiter andauern: Was ist aus all diesen Demonstrationen geworden? Warum scheitern Revolutionen heute? 

Die Revolutionen werden immer vom Glamour erstickt. Wir leben in einer Zeit unglaublicher Bequemlichkeit. Wenn du eine Werbung für einen Flug nach London „schon ab 20 Euro“ siehst, so scheint das sehr umsetzbar. Der Kapitalismus hat uns mit diesem Konsumdenken auf fantastische Art und Weise eingenommen. Politische Korrektheit hat diesem Kapitalismus keinen Schaden zugeführt; und wenn jemand wie Julian Assange das System angreift, so wird er schnell zum Schweigen gebracht. Jede Revolution ist kurz. Während der „Occupy Wall Street“-Proteste war ich für kurze Zeit in New York – und als ich zurückkam, flaute die erste Protestwelle schon ab und es wurde sehr schnell still. Heute erinnern wir uns kaum noch, dass es diese Proteste überhaupt gab. Also, wenn man irgendwie dem System seine Zähne zeigt, dann wird es ganz sicher zurückschlagen; es weiß, wie es dich betäuben und neutralisieren kann. Im Roman wollte ich genau das zeigen: dass Revolutionen von kurzer Dauer sind. Wenn Krankenschwestern rausgehen und sagen, dass sie den Alten nicht mehr die Windeln wechseln werden, fordern sie einen höheren Lohn. Doch es ist sehr schwierig, eine große, systemische Änderung zu erwirken.

In Matador halten sich deine Helden neben Belgrad, Ruan und Paris auch in Düsseldorf, an der kroatischen Küste und – ganz besonders wichtig – in England auf, wo auch die Helden der beiden letzten Romane waren. England ist das Land, das dir die Medaille für deinen außergewöhnlichen Beitrag zur Förderung und Entwicklung der kulturellen Verbindungen zwischen Serbien und Großbritannien verliehen hat. In welcher Hinsicht haben sich die Briten am meisten repräsentiert gesehen in deinem journalistischen oder literarischen Schaffen?

Vieles in meinen Romanen ereignet sich in London, aber wahrscheinlich war das Wichtigste die Tatsache, dass ich einer der ersten war, der im New Musical Express veröffentlichte, wo ich unzählige Interviews mit ihren Musikern machte. Als ich diese Anerkennung in der Botschaft Großbritanniens in Belgrad bekam, sagte der Botschafter, dass ich vor Ort kulturelle Verbindungen geschaffen habe. Auch wenn ich keine Bibliothek mit Shakespeare-Büchern eröffnet habe, hätte ich privat, als Journalist und schlussendlich als Schriftsteller, London und Belgrad verbunden. Und das Leben der „Neuserben“ in London hatte mich schon immer interessiert – ich musste einfach darüber schreiben.

Die zweite Hauptfigur in Matador ist Milan Maksimović Max, ein Jugonostalgiker. Als er die Gelegenheit bekommt, ein Interview im Fernsehen zu geben, verpackt er in der heutigen Kritik an Serbien jugonostalgische Plattitüden, eine anstrengende Lektüre. Ist Jugonostalgie eine völlig überflüssige, ja dumme Sichtweise auf den ehemaligen Staat?

Das ist eine sehr komplexe Frage. Kostas Reaktion in Aufhellung ist eine der typischen Reaktionen auf all die Märchen über Jugoslawien, die er satt hat. Und auf der anderen Seite gibt es eine aufgesetzte Jugonostalgie junger Menschen, die Jugoslawien gar nicht erlebt haben. Was für ein Hipstertum! Jugonostalgie ist mit Menschen wie du und ich verschmolzen. Wir sind in Jugoslawien geboren und wir erinnern uns mit einer gewissen Nostalgie daran. Aber diese Hipster-Jugonostalgie erkennst du an Yugochic-T-Shirts mit der Aufschrift „Lastovo“, oder an Flügen nach trendy Korčula (kroatische Insel, auf der sich jährlich in den 1970er Jahren die sog. „Praxis-Gruppe“ traf, undogmatische jugoslawische Marxist*innen und Vertreter*innen der Frankfurter Schule – Anm. d. Red.),  an der Vergötterung sozialistischer Produkte. Das sind die Kinder der Eltern, die Ende der 1980er Jahre begannen, das „serbische Neujahr“ zu feiern, weil das eben damals das angesagte Hipstertum war. Für die Generation ihrer Kinder hat die Jugonostalgie etwas Elitäres, etwas Modisches. Das ist nicht schlimm, aber eben oberflächlich. Wenn man sich zugleich in praktischer Hinsicht über die Größe des jugoslawischen Marktes, über Auflagen von Büchern, Zeitungen und Schallplatten informiert, muss man kein Nostalgiker sein, um zu verstehen, dass diesbezüglich in diesem großen Land etwas besser funktionierte. Damals war es möglich, dass mir Mick Jagger für eine jugoslawische Zeitung ein Interview gab. Heute wäre es nicht möglich, in der ganzen „Region“ so viele Lesende für ein einziges Interview zu gewinnen. Deswegen denke ich, dass diese praktische Jugonostalgie eine positive Sache ist, denn man denkt dabei – trotz des emotionalen Touchs – an die Offenheit und Verbundenheit des kulturellen Marktes. Und das kann nichts Schlechtes sein.

Die Witwe des „bedeutendsten jugoslawischen Schriftstellers“ erpresst und zwingt Max in Matador eine unvollendete Erzählung ihres verstorbenen Mannes zu vollenden und als seine eigene auszugeben und zu unterzeichnen. Max macht das unter Druck, wodurch die Erzählung zum Plagiat wird. In Jugoslawien hatte man Danilo Kiš vorgeworfen, fremde Texte in Ein Grabmal für Boris Davidovič zu plagiieren. Er antwortete auf die Intrige mit der brillanten Anatomiestunde. Max’ Plagiat stellt jedoch eine fürchterliche Kehrseite der damaligen Literaturaffäre dar: Max ist nicht nur ein Plagiator, sondern „seine“ Erzählung bekommt einen renommierten Preis bei einem europäischen Wettbewerb für Kurzgeschichten.

Ich muss zugeben, dass mich die Leute in Interviews vor allem nach diesem jugoslawischen Schriftsteller im Roman gefragt haben, also welcher große jugoslawische Schriftsteller sich hinter dieser Figur „versteckt“. Natürlich ist das überhaupt nicht wichtig – die literarische Größe eines damaligen, jugoslawischen Schriftstellers, wer auch immer er sei. In Matador hat er nur die Aufgabe, Max’ Handeln zu charakterisieren. Aber ein bisschen werde ich dir verraten: Die Idee mit dem Plagiat eines literarischen Textes ist tatsächlich von der alten Affäre mit Kiš’ Grabmal inspiriert. Ich stand in Kontakt mit Filip David (Filip David ist einer der wichtigsten zeitgenössischen serbischen Schriftsteller jüdischer Herkunft – Anm. d. Red.), Kiš’ Freund, der meine Manuskripte gelesen hat. Dieser Kontakt erinnerte mich auch an ihn. Und ich wollte etwas komplett anderes machen und zeigen, was heute möglich wäre, wenn heute ein gewisser Max ein unvollendetes Manuskript des großen jugoslawischen Schriftstellers in die Hände bekäme.

Während Kiš in den 1970er Jahren für die Wahrheit kämpfte, kommt dein Max in Europa durch wie in Serbien Politiker-Plagiatoren durchkommen – nämlich ohne Folgen. Ihm passiert nichts Schlechtes, ganz im Gegenteil: Je mehr er plagiiert, desto besser geht es ihm im Leben.

Tja, was soll ich dir sagen – ja, so ist es. (lacht)

Außer dieser „großen Geschichte“ über Max’ Plagiat und der über Gavran und Camille, die beide kurz Europa „anzünden“, aber von ihm auch bestraft werden – das allmächtige System erstickt die Revolution und Camille stirbt an Corona –, finden wir in Matador auch eine Reihe an Nebengeschichten, die alle miteinander durch Verstrickungen verbunden sind; die problematisch, teilweise sogar kriminell sind. Warum? Ist es unmöglich in der heutigen Welt glücklich zu sein? Gibt es einfach keine Aussichten auf eine Aufhellung? 

Ein Herausgeber meines Verlegers in Serbien sagte, dass er über den Erfolg meiner Romane erstaunt ist, denn sie seien abseits des Mainstreams. Menschen wollen eigentlich keine unglücklichen Geschichten lesen, aber dennoch lieben sie meine Bücher. Offensichtlich sind meine Bücher kleine Verstecke vor dem alltäglichen Leben, der Arbeit und den Zeitungsnachrichten. In den Büchern suchen die Menschen ein anderes Leben. Ich denke, dass auch deshalb Fantasy so beliebt ist. Vielleicht sollte auch ich die Leser mehr aufheitern!

Ja, aber Fröhlichkeit ist ja nicht entscheidend: Du hast Dynamik, Wendungen und Figuren, die in ständiger Bewegung und Kommunikation sind, man könnte sagen, in einer Überschall-Transition.

Ja, vielleicht wurde ich von diesen Antihelden „infiziert“, aber diese Dynamik ist sicher mein authentischster Ausdruck.

 

 

Das Buchcover der mazedonischen Übersetzung des Romans Dolazak matadora (Die Ankunft des Matadors).

 

Ich würde gerne am Ende noch mit dir über die Figur Gordan Gavranović Gavran sprechen. Warum „Gavran“? Ist heute einfach alles so schwarz oder spricht durch ihn Edgar Allen Poes Rabe (gavran – Serb. für Rabe – Anm. d. Red.), dieser unbarmherzige Allwissende, der immer und immer wieder „nothing more“ und „nevermore“ wiederholt?

Ja, in Aufhellung ist der Nachname Braunović symbolisch, aus dem Englischen „braun“ übernommen. Für Gavranović haben wir den logischen Spitzname Gavran, abgeleitet vom Nachnamen, der zugleich auch eine Referenz zu Edgar Allan Poe ist. Der Rabe als etwas Unheildrohendes, sein ganzes Leben ist auf Eis gelegt. Doch die Figur ist auch intelligent, genau wie ein Rabe. Er lässt das Experiment als Werbetexter hinter sich, geht fort, um in einem fremden Land Straßenmusiker zu werden, aber dort macht er eine Revolution. Er hat ein ungemeines Talent zu programmieren und zeigt sich als „Programmierer der Realität“.

Selbst für Camille, in die er sich doch verliebt hat, kann er sein „Marketing-Gen“ nicht ablegen; ständig diktiert er die Marketingstrategie ihrer gemeinsamen Demonstrationen. Damit laugt er sie als Frau, aber auch ihre Liebe aus, und ist somit indirekt auch für ihr tragisches Ende verantwortlich.

Genau! Er sieht auch sie später als Marketingobjekt, also er betrachtet auch die Liebe aus dieser Perspektive.

Der Titel des Romans Die Ankunft des Matadors verweist direkt auf Gavran. Ist er der Matador?

Als ich ein Kind war, gab es den Stierkampf in Belgrad erstmals zu sehen. Ich wollte, dass mein Vater mich mitnimmt, aber er lehnte ab, wofür ich ihm heute dankbar bin, denn ich weiß, dass ich es nicht ertragen hätte. Aber das, was ich vom Belgrader Stierkampf gehört habe: Die Leute feuerten nicht den Matadoren, sondern den Stier an! Die Menschen in Serbien haben so oft die falschen Seiten gewählt, in politischer Hinsicht. Nur damals haben sie die richtige Seite gewählt. Und mit dieser Erfahrung wollte ich Gavran ausstatten. Aber um etwas klarzustellen, er ist nicht der Matador, sondern der Stier!

Ja, er versteht, dass der Stierkampf alles andere als ein Spiel ist, sondern der Mord an einem Tier. Und in der letzten Szene, in der wir über ihn lesen, finden wir ihn in Spanien wieder, als richtigen Matador, der buchstäblich zulässt, dass ihn der Stier überrennt. Ist das eine ehrliche Abrechnung? Mit der heutigen Welt oder mit sich selbst?

Sowohl das eine als auch das andere. Er dachte, er könne das System außer Kraft setzen und besiegen. Doch dann bleibt er ohne nichts und das ist das logische Ende. Er bleibt zurück ohne Liebe, es gibt keine Umkehr, kein Zurück. So komme ich zu deiner Erwähnung der Transition zurück. Es haben sich die Herrscher geändert, da war einmal Tito, jetzt sind da Finanzmagnaten, doch Gavran ist gegen die Wand gefahren. Er hat alles gesehen, alles probiert, wie Huckleberry Finn, der gegen die Wand fuhr.

Deine Romane werden oft als besonders „filmisch“ wahrgenommen: Viele deiner Leser*innen und Rezensent*innen finden, dass man deine Prosa ideal auf die Leinwand bringen könnte. Nach dem vorherigen Roman wird schon eine Serie gedreht, oder?

Es soll eine Serie gedreht werden. Ich habe die Rechte verkauft. Schauen wir, wie es weiter geht. Und vor ein paar Tagen habe ich ein Angebot bekommen, den Matador zu verfilmen.

Sind deine Romane auch außerhalb Serbiens erschienen? Sind sie schon irgendwo übersetzt?

Matador ist ins Mazedonische übersetzt, bald folgt die Übersetzung ins Bulgarische. Derzeit werden Verhandlungen mit Slowenien und Amerika geführt. Natürlich werde ich mich bemühen, den Roman in England zu veröffentlichen – und ich fände es großartig, wenn er ins Deutsche übersetzt und im deutschsprachigen Raum erscheinen würde.

 

 

Beitragsbild: Branko Rosić, fotografiert von Nebojša Babić.

Das auf Serbisch geführte Interview wurde von Philine Bickhardt ins Deutsche übertragen.

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