„Wer sind wir und wohin gehören wir?“ Diese Frage stellen sich die Bewohner_innen eines kleinen tschechischen Dorfes im Wandel der Zeit – im Schatten des 2. Weltkriegs und seiner Nachwirkungen. In „Krajina ve Stinu“ (Shadow Country, 2020) werden Grenzen, Hierarchien und Zugehörigkeiten neu verhandelt und treiben die Menschen dazu, extreme Entscheidungen zu treffen.
Krajina ve Stinu ist ein Film des tschechischen Regisseurs Bohdan Sláma aus dem Jahre 2020. Beim 30. FilmFestival Cottbus lief er in der Sektion Close Up WW II und konnte den Dialogpreis des Auswärtigen Amtes für die Verständigung zwischen den Kulturen gewinnen. Schauplatz des Filmes ist die deutsch-tschechische Grenzregion Vitorazko, genauer gesagt, das fiktive Dorf Schwarzbach. Hier werden die dramatischen Konflikte innerhalb einer kulturell diversen Dorfgesellschaft während und nach dem 2.Weltkrieg dargestellt.
Im Fokus der Handlung steht der freiwillige Übertritt einiger südböhmischer Dörfer zum Deutschen Reich bzw. die Übernahme der deutschen Nationalität durch zahlreiche Dorfbewohner_innen. Im Hintergrund der Filmhandlung vollzieht sich die Vertreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei: Nach dem Ende des 2.Weltkriegs erließ der tschechoslowakische Präsident Benês Dekrete, die der deutschen Minderheit die Staatsbürgerschaft entzogen, sie enteigneten und zur Flucht aus der Tschechoslowakei zwangen. Das Massaker an Sudetendeutschen in der Stadt Tušť im Jahre 1945 dient als Vorlage für die Filmhandlung.
Im Mikrokosmos Dorf wird hier ein multiperspektivisches Bild des Umgangs mit den historischen Ereignissen gezeichnet. In der ersten Einstellung werden die Taufe des Sohnes von Karel und Marie und die anschließenden Feierlichkeiten gezeigt. Ein Höhepunkt dieses Tages: Sie bekommen als besonderes Geschenk von ihren Nachbar_innen eine moderne Singer-Nähmaschine überreicht.
Die beiden Eheleute sind die Hauptfiguren des Films und stehen stellvertretend für den Konflikt der Identitäten angesichts der historischen Umbrüche im Kleinen. Karel bekennt sich während der Okkupation der Nazis als Deutscher, in der Hoffnung für sich und das Dorf das Beste herauszuholen und die Kriegszeit gut zu überstehen. Maria hingegen will ihre Herkunft nicht verleugnen und gibt bei einer Befragung an, dass sie Tschechin sei. Während sich Karel aus den Anfeindungen gegen die jüdischen Bewohner_innen der Stadt heraushält, unterstützt Maria ihre Nachbar_innen bei der Beseitigung von antisemitischen Parolen von den Hauswänden und spendet Geld, um Inhaftierte zu befreien. Diese selbstlose Hilfe ist im Film eine Ausnahme, denn Denunziation, Beleidigungen, Bedrohungen durch die Nachbarn werden zum Alltag im Dorf. Den Wunsch nach Gerechtigkeit und nach Schutz der eigenen Familie, von dem viele der Figuren angetrieben sind, ist sehr nachvollziehbar dargestellt, doch im Laufe des Films mit Überlänge (135 Minuten) stellt sich mehr und mehr die Frage: Rechtfertigen die Grausamkeiten der Kriegsjahre jedes Mittel der Rachsucht, die sich nach 1945, als sich die politischen Verhältnisse verändert haben, zum Beispiel gegen die deutschen Dorfbewohner_innen richtet?
Um den aus dem Konzentrationslager heimkehrenden Josef bildet sich ein Dorftribunal, dass in den Wirren der Nachkriegszeit die Mitschuld an den Naziverbrechen in Schwarzbach ahndet. Karel und andere Bewohner_innen, die sich nicht aktiv gegen die Nazis gestellt hatten, werden für die Verhandlung in einen Keller gesperrt, schließlich verurteilt und erschossen.
All das wird von Regisseur Bohdan Sláma in Schwarz-Weiß und mit subtiler musikalischer Untermalung erzählt; in Erinnerung bleibt vor allem die Szene, in der die Dorflehrerin den Kindern deutsche Lieder beibringt. Die fehlenden Farben schaffen eine historisch anmutende Ästhetik und verstärken den Eindruck der Kargheit des Landes. Geradezu sinnbildhaft für die auch von den historischen Ereignissen ausgehungerte Landschaft steht eine erschütternde Szene, in der eine völlig abgemagerte Kuh abtransportiert und vergraben wird. Sláma selbst spricht in einem Interview davon, dass er bewusst in Schwarz-Weiß filmen wollte, um weniger Ablenkung zu erzeugen. Dieser Plan geht auf und lässt die Zuschauer_innen tief in die zwischenmenschlichen Beziehungen des Dorfes eintauchen. Die so entstandene konzentrierte Fokussierung auf die Figuren ermöglicht, jede Nuance des komplexen, angespannten Soziallebens im Dorf kennenzulernen.
Der Titel Krajina ve Stinu (dt. „Land im Schatten“) ist nicht nur aufgrund der Schwarz-Weiß-Aufnahmen, in denen die Schatten sehr präsent sind, sehr passend. Darüber hinaus verweist er darauf, dass uns eine Geschichte erzählt wird, die sonst in den Schatten der Weltgeschichte verborgen bleibt, verdeckt und versteckt hinter den Verbrechen der Nationalsozialisten.
Neben der Thematisierung von Verbrechen und Schuld steht, so der Regisseur selbst, die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Rache im Zentrum des Films: Sie kommt im Film vor allem in Bezug auf die bereits genannte Figur des Josef zum Tragen. Seine Frau und deren Familie sind jüdisch und er selbst versucht, Widerstandsaktionen gegen die Übernahme des Dorfs Schwarzbach durch die Nationalsozialisten zu initiieren. Später wird ihm vorgeworfen, zu unvorsichtig gewesen und dadurch mitschuldig daran geworden zu sein, dass seine Frau und ihre Familie selbst ins KZ kamen. Die Frage der Mitschuld lässt der Film offen. Schuldig ist Josef in jedem Fall an der Ermordung seiner Nachbar_innen nach ihrer Aburteilung durch das Dorftribunal. Gleichzeitig wird seine Motivation zum Teil damit begründet, dass ihn andere Gefangene des KZs darum baten, Rache zu nehmen.
Das wiederum spannt einen Bogen zu einem weiteren wichtigen Aspekt des Films: Zur Frage der Identität bzw. zur Unmöglichkeit eine solche zu formulieren – vor dem Hintergrund der Verschiebungen von Grenzen und nationalen, kulturellen Zugehörigkeiten. Der schnelle Versuch einiger Dorfbewohner_innen, sich dem Deutschen Reich anzuschließen, und die bereitwillige Aufgabe der tschechischen Staatsbürgerschaft unterstreicht das. Josefs Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft durch seine Familie und den Aufenthalt im KZ zwingen ihn dazu, Rache zu üben.
Nun endet der Film nicht an dieser Stelle, sondern zeigt die weitere wechselvolle Nachkriegsgeschichte des Dorfes u.a. am Beispiel der Hinrichtung und Vertreibung der Sudetendeutschen: Die Region und somit Schwarzbach hatte einige Länderwechsel hinter sich. Vom böhmischen Kaiserreich zu Österreich, zur Tschechoslowakei, zum Deutschen Reich und zurück. Der Film zeigt in Abständen die Zeit von 1939 bis 1957. Die jeweiligen politischen Verhältnisse werden mit mächtigen Symbolen wie dem Hakenkreuz oder der sowjetischen Flagge markiert. Jede Fahne wird über die Zeit mit der gleichen Singer-Nähmaschine hergestellt, welche als Symbol für den gleichbleibenden Alltag steht.
Die Geschichte wiederholt sich. Zwar hängen nun andere Fahnen am Rathaus und andere Personen sind an der Macht, jedoch ähneln die Methoden der Aufklärung der Naziverbrechen denen der Nazis selbst. Besonders auffällig wird das, als nach der Befreiung von den deutschen Okkupanten für Deutsche die Pflicht zum Tragen von weißen Bändern an den Ärmeln eingeführt wird. Diese Pflicht wird durch die neue Dorfregierung um Josef erlassen.
Einzig Marie und ihre Kinder wirken am Ende als Hoffnungsträger. Denn während des gesamten Films scheint Marie die einzige Figur zu sein, die stets versucht, moralisch zu handeln. Zum Ende des Filmes verlässt sie mit ihren Kindern das Dorf und scheint die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Die Frage nach Identität ist in Bezug auf Marie nicht an einen Ort, sondern an ihren Charakter gebunden. Sie weiß, wer sie ist und geht am Ende des Filmes auf die Suche nach einer neuen Heimat. Die anderen Dorfbewohner_innen bleiben in Schwarzbach zurück und müssen mit ihrer Schuld leben.
Es ist die Perspektive eines vom Krieg gebeutelten, fast vergessenen Dorfes zwischen den Ländergrenzen, dessen Überleben nahezu nur durch Anpassung funktionierte und menschliches Miteinander den politischen Gegebenheiten untergeordnet wurde. Der Film entlässt die Zuschauer_innen geschockt und gleichzeitig mitfühlend in den Alltag der heutigen Zeit.
Sláma, Bohdan: Krajina ve Stinu (Shadow Country). Tschechien, 2020, 135 Min.
Weiterführende Links:
Interview mit Regisseur Bohdan Sláma: https://eefb.org/country/czech-republic/bohdan-slama-on-shadow-country/