Ein Interview mit Ihar Skrypka
Ihar Skrypka ist Dramaturg und leitet die Literaturabteilung eines staatlichen belarussischen Theaters in Minsk. Seit der Perestrojka hat er das Belarussische für sich entdeckt und übersetzt zahlreiche Theaterstücke in diese Sprache, die – obwohl zweite offizielle Landessprache – im Alltag in Minsk kaum gesprochen wird. novinki hat mit Skrypka über das Übersetzen, über zeitgenössisches Theater in Belarus, seine Arbeit im staatlichen Theaterbetrieb und über Möglichkeiten, Zwänge und Freiräume für belarussische Kulturschaffende gesprochen.
novinki: Ihar, spürt Ihr bei euch im Theater die schwere Wirtschaftskrise in Belarus?
Ihar Skrypka: Ich habe nie gespürt, dass es keine Krise gab. Im Theater ist immer Wirtschaftskrise (lacht). Ob mit oder ohne Krise – das Geld reicht nie aus.
n.: Wie überlebt Ihr mit dem Theaterlohn in Belarus?
I.S.: Für die belarussischen Theaterschauspieler ist das einfach. Sie machen in russischen Filmen mit, denn viele Produktionsfirmen aus Russland drehen hier. Ich als Dramaturg habe es schwerer. Ich muss den Appetit einschränken…
n.: Worin konkret besteht deine Arbeit als Dramaturg und Leiter der Literaturabteilung im Minsker Janka Kupala Theater?
I.S.: Wenn nötig übersetze ich Stücke ins Belarussische und arbeite dann mit dem Text: Ich redigiere und kürze ihn. Danach beginnen die Proben, bei denen ich anwesend bin, falls Fragen zum Text aufkommen. In jedem Stück musst du den Text an den Schauspieler anpassen. Du änderst ihn, fügst etwas hinzu oder kürzt. Aber unsere Arbeit mit den Texten ist klassisch. In Polen beispielsweise, in der Krakauer Theaterakademie, werden die Dramaturgen nach dem Prinzip von Tairov so ausgebildet, dass sie während den Proben eng mit dem Regisseur zusammenarbeiten. So findet das Schreiben des Textes gleichzeitig mit dem Inszenieren statt. Diese Arbeitsweise gefällt mir. Du arbeitest mit den lebendigen Schauspielern, mit dem Regisseur…
n.: Mit der lebendigen Sprache…
I.S.: Ja. Wenn du so vorgehst, dann schneidest du den Text wie ein Kostüm auf den Schauspieler zu. Ich hatte nur ein paar Momente, in denen ich so arbeiten konnte, aber ich finde das wirklich spannend.
n.: Schreibst du selber Stücke?
I.S.: Ja, ich schreibe auch, aber zum grossen Teil übersetze ich. N u r Schreiben wollte ich nicht. Die Dekodierung, die Übertragung eines Sinns in eine andere Sprache, das fasziniert mich unheimlich! Wenn dafür irgendjemand irgendetwas bezahlen würde, dann wäre das wunderbar. Viele Übersetzungen mache ich einfach so, für mich. Es ist das Übersetzen, das ich für mich gefunden habe. Wenn ich zurück in die 90er Jahre gehen und entscheiden könnte, würde ich Sprachen studieren und als literarischer Übersetzer arbeiten.
n.: Welche Sprachen übersetzt du?
I.S.: Ich habe in meinem Gepäck drei Sprachen, aus denen ich ins Belarussische übersetze: Russisch, Polnisch und Serbisch. Auch aus dem Ukrainischen kann ich übersetzen.
n.: Wie gehst du vor, wenn du übersetzt?
I.S.: Zuerst setze ich mich an den Text, übersetze faktisch Zeile für Zeile. Es ergibt sich eine fast wörtliche Übersetzung. Nach einer gewissen Zeit kehre ich zu meiner Übersetzung zurück, schaue sie an und verstehe, dass das alles Blödsinn ist. Ich beginne, sie umzuschreiben. Der Text muss auf Belarussisch klingen. Wenn ich meine Übersetzung mit dem Originaltext vergleiche, verstehe ich, dass sie ein eigener Text geworden ist, obwohl da genau alles ist, was im Original steht. Wenn ich versuchen würde, den Text zurück in die Ursprungssprache zu übersetzen, dann würde etwas ganz Anderes entstehen.
n.: Hast du beim Übersetzen einen Lieblingsautor?
I.S.: Das ist schwer zu sagen. Normalerweise ist mein Lieblingsautor derjenige, den ich gerade übersetze. Momentan sitze ich gerade an der Übersetzung eines Stücks des polnischen Dramaturgen Krasiński – ein einnehmendes Stück. Davor habe ich Gogol übersetzt, das war auch äusserst spannend. Du fängst an zu übersetzen und sofort tauchst du ein in dieses Meer, du schwimmst, schwimmst, schwimmst, und dann kommst du zu einem Ufer. Dann tauchst du wieder ein und schwimmst in eine andere Richtung.
n.: Kannst du mitentscheiden, welche Stücke übersetzt und inszeniert werden und was erlaubt ist und was nicht?
I.S.: Nein, das kann ich nicht. Der leitende künstlerische Direktor entscheidet das. Aber das sind keine direkten politischen Entscheidungen, es hat mit der Tradition des Theaterhauses zu tun. Alle wissen, wie sie an diesem Prozess beteiligt sind und wie viele Stücke wir pro Jahr etwa herausbringen sollen. Wir sind ein akademisches Theater. Unsere Hauptaufgabe ist es, das Publikum nicht zu enttäuschen, das mit gewissen Erwartungen ins Theater kommt.
n.: Kam es schon vor, dass ein Stück aus politischen Motiven nach der Premiere abgesetzt wurde?
I.S.: Meinst du in der sowjetischen oder postsowjetischen Zeit? Von der Sowjetzeit weiss ich von einem Stück, das ganz sicher abgesetzt wurde. Seit ich im Theater arbeite, wurde aber nie ein Stück abgesetzt. Es kommt vor, dass jemand nach der Premiere sagt: „Das darf man nicht, das soll man nicht“ oder „Leute, das muss man ändern, rausnehmen, in Ordnung bringen.“ Das machen wir dann.
n.: Unterscheidet sich das zeitgenössische belarussische Theater stark von den Theaterformen in der Sowjetunion?
I.S.: Das ist eine Frage für eine ganze Dissertation. Eine schwierige Frage. Eigentlich unterscheidet es sich nicht so sehr, wie es scheinen mag. Es gab keinen starken Bruch mit der Sowjetzeit: Es sind dieselben Regisseure und dieselben Schauspieler in den Theatern geblieben und damit auch dieselbe Tradition. Die Visitenkarte unseres Theaters ist ein Stück von Janka Kupala, das seit 1943 aufgeführt wird. Eines der populärsten Stücke unseres Repertoires wurde 1989 noch zur Sowjetzeit uraufgeführt. Es gab jedoch eine Zeit, gleich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, in der Stücke aufgeführt wurden, die vorher nicht möglich gewesen waren: Knigin, Tudešich, Dunin-Marcinkevič oder der Knjaz’ Vitovt von Raevskij. Das Theater fing an, sich stärker für historische Themen zu interessieren, gleichzeitig wurden die zeitgenössischen Themen freier, da es die sowjetische Zensur nicht mehr gab…
n.: Wie hat sich diese neue Freiheit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion angefühlt?
I.S.: Oh, da war ein sehr starkes Gefühl der Euphorie! Sehr stark! Ein Stück Euphorie jener Zeit trage ich bis jetzt in meiner Seele. Ich habe es in mir bewahrt. Meine Generation wuchs mit diesem Gefühl der Euphorie auf. Wir lasen die neuen Zeitungen, wir erfuhren all das Neue! 1991 war gerade meine Schulzeit zu Ende, zeitgleich mit der Sowjetunion. Stell dir vor, du beendest die sowjetische Schule, in der du gelernt hast, wie alles ist und auf einmal erfährst du: Alles ist ganz anders, als es dir beigebracht wurde! Ich kann mich erinnern, wie das für meine Eltern war: Die Möglichkeit zu lesen, Dinge zu erfahren, einfach zu sagen, was du möchtest und keine Angst zu haben, dass du denunziert wirst. Das war eine unglaubliche Sache!
n.: Was ist für dich das prägendste Ereignis, das du mit der Perestrojka verbindest?
I.S.: Die belarussische Sprache, die plötzlich überall ertönte. Das war der Moment, als auch ich anfing, nur noch Belarussisch zu sprechen. Während der Sowjetunion war Belarussisch so gut wie ausgelöscht, alle sprachen nur Russisch.
n.: Ausser der Wiederentdeckung der belarussischen Sprache, denkst du, dass ihr in Belarus die Perestrojka anders erlebt habt als im Rest der Sowjetunion?
I.S.: Natürlich gab es einige Eigenheiten, aber unsere Situation war vergleichbar mit der von den baltischen Ländern oder der Ukraine. Ganz im Gegenteil zu Russland. Während die Belarussen, die Litauer, die Georgier oder die Moldawier durch die Perestrojka und den Zusammenbruch der Sowjetunion die Unabhängigkeit erhielten, bedeutete es für die Russen die Zerstörung eines grossen Landes und Territoriums.
n.: Aber kam das Gefühl der Unabhängigkeit bei den Belarussen sofort auf?
I.S.: Nein, nicht sofort. Anfang 1991 fand ein Referendum darüber statt, ob die Belarussen aus der Sowjetunion austreten wollten oder nicht. Und der grösste Teil der Belarussen sagte: Nein, das wollen wir nicht! Danach brach die Sowjetunion trotzdem zusammen. Die Unabhängigkeit steht heute für die meisten Belarussen ausser Diskussion, aber zu Beginn der 90er Jahre war das nicht so…
n.: Die Leute hatten Angst…
I.S.: Ja, natürlich. Sie hatten grosse Angst vor dem, was kommt. Stell dir vor, du wachst morgen auf und plötzlich lebst du in einem völlig anderen Land und alles ändert sich, die Politik, der Präsident. Das ist vielleicht gar nicht schlecht, aber das Leben wird auf einen Schlag ganz anders. Man muss auch sehen, dass die Menschen 70 Jahre sowjetische Propaganda hinter sich hatten und etwa 150 Jahre Propaganda durch Russland und das Russische Reich. Da hiess es immer, der Belarusse sei der kleine Bruder des Russen. Ich kann mich gut erinnern, was für eine Propaganda herrschte. Uns Schülern wurde immer gesagt, dass wir im grössten, stärksten und besten Land der Welt leben. Noch in der Perestrojka wurde in der Schule dieses Bild aufrechterhalten, während die Eltern zu Hause schon anders anfingen, über die Dinge zu sprechen. Und auf einmal zeigt sich, dass wir nicht im stärksten und besten Land leben.
n.: Hat diese Zeit des Umbruchs deine Entscheidung beeinflusst, ins Theater zu gehen?
I.S.: Ich glaube nicht. Den Wunsch, ins Theater zu gehen, hatte ich seit meiner Kindheit. Meine Mutter spielte im Amateurtheater in der Provinzstadt Slutsk, wo ich aufwuchs. So war ich oft im Theater. Nach der Musikhochschule – ich studierte Flöte – versuchte ich die Aufnahmeprüfung an die Theaterakademie: Ich wollte Schauspieler werden. Sie nahmen mich nicht auf, was wahrscheinlich gut so war. Ich entschied mich, ans Institut Kultury zu gehen und mich auf die literarische Arbeit, auf die Dramaturgie zu konzentrieren. Wenn sie mich da auch nicht genommen hätten, dann wäre ich in die Armee gegangen, wäre Flötist im Militärorchester geworden und dort wohl bis an mein Lebensende geblieben. Ich studierte mit einigen Unterbrüchen, fing ein Doktorat an, das ich aber nicht abschloss. Und schon während des Studiums arbeitete ich nebenbei als Redaktor in der Literaturabteilung des Theaters der belarussischen Dramaturgie.
n.: Dann hast du das Stipendium nach Polen bekommen?
I.S.: Ja, das war eine tolle Zeit. Es war wie eine Rückkehr in die Jugend. In Belarus hatte ich gearbeitet, und plötzlich wohne ich wieder im Studentenheim.
n.: Wie hast du das Theater in Polen erlebt?
I.S.: Das polnische Theater unterscheidet sich stark vom belarussischen. In Polen gibt es heute eine Tendenz zur Formalisierung, die viel stärker als in Belarus, Russland oder der Ukraine ist. Mehr Aufmerksamkeit kommt also der Form zuteil. Aber wichtiger sind die Themen, die sich im Theater aufdrängen. Bei uns in Belarus stellen die Freiheit und das Nationalbewusstsein zwingende Lebensfragen dar. Wenn ich polnische Theaterstücke schaute, wusste ich immer schon vor Beginn der Vorstellung, worum es gehen wird. Dort sprachen sie immer darüber, dass alle unzufrieden und übersättigt sind, dass die heutige Jugend nur das Internet kennt, dass alle nur shoppen gehen. Dabei muss immer unbedingt jemand schreien, jemand zieht sich aus und es gibt eine Videoprojektion. All das wird qualitativ extrem gut gemacht, aber mir wird langweilig dabei. Es berührt mich nicht. Vielleicht ist das für die Polen anders, weil dort genau über die Situation diskutiert wird, in der sie leben. Das ist aber nicht meine Situation. Mich zieht es eher zum klassischen Theater hin, zur klassischen Tragödie, zur klassischen Komödie. Irgendwie kommt man da nicht drum herum.
n.: Ist das Theater in Belarus also klassischer?
I.S.: Ja, das belarussische Theater ist klassischer, traditioneller. Wahrscheinlich hat das viel mit dem Publikum zu tun. Es ist an eine Art Theater gewohnt. Es hat eine genaue Vorstellung davon, wie Theater sein soll. Nach einer guten Tragödie möchten die Zuschauer hinausgehen und weinen. Alle experimentellen Stücke sollen bitte zu den Festivals nach Frankreich fahren.
n.: Aber fehlt dir nicht manchmal das Experimentelle, das Neue im belarussischen Theater?
I.S.: Nun, es gibt experimentelle Theaterprojekte auf kleinen Bühnen, aber zu wenig. Fast alle Theater in Minsk sind staatliche Repertoiretheater. Es gibt sehr selten unabhängige Theaterprojekte. Das ist in Polen oder allgemein in der EU gut: Wenn man als Künstler ein Theater- oder Musikprojekt realisieren möchte, kann man zum Kulturministerium gehen und eine Finanzierung beantragen. Bei uns gibt es kein solches System. Wir haben nur staatliche Theater, auf die der Staat gewisse Gelder aufteilt und das ist alles. Das Experimentieren gehört nicht zum Aufgabenbereich der Staatlichen Theater, sie haben eine andere Aufgabe. Für Experimente bräuchte es ein anderes System, das diese unterstützt.
n.: Gibt es keine andere Möglichkeit, an Geld für Projekte zu kommen?
I.S.: Du kannst deinen Onkel nach Geld fragen, zu deiner Mutter oder deinem Vater gehen. Oder auf die Baustelle arbeiten gehen. Mach, was du willst, aber ein System zur finanziellen Unterstützung von Kunst und Kultur gibt es nicht, leider. Aus diesem Grund können viele interessante Initiativen nicht weitermachen.
n.: Und was für unabhängige Theaterprojekte kommen dennoch zustande?
I.S.: Man kann die unabhängigen nicht-staatlichen Theaterprojekte in drei Gruppen einteilen. Erstens gibt es konkret auf das Wirtschaftliche ausgelegte Projekte, bei denen es nur darum geht, Geld zu verdienen: Man sucht beliebte Theaterstücke aus, arbeitet mit bekannten Schauspielern zusammen. Zweitens ist das experimentelle Tanztheater populär, hier gibt es die Performancegruppe Inžest oder das Theater zeitgenössischer Choreographie D.О.Z.SK.I. Das Tanztheater ist aber nicht meine Sache, weil ich den Text brauche, ich bin ja Dramaturg. Erst wenn ein Wort erklingt, ist das für mich Theater. Drittens gibt es dann politische Projekte, wie das Belarus Free Theater.
n.: Findet ein Austausch zwischen den Theaterschaffenden der staatlichen Theaterhäuser und unabhängigen Gruppen wie beispielsweise dem Belarus Free Theater statt?
I.S.: Das Belarus Free Theater bildet eine Ausnahme, weil es sich öfter im Ausland befindet als in Belarus. Da gibt es keine Möglichkeit, deren Stücke anzuschauen. Sonst sind das keine abgeschlossenen Bereiche. Schauspieler der staatlichen Theaterhäuser haben zum Teil nebenbei ihre eigenen Projekte. Ausserdem studierten alle irgendwann zusammen und kennen sich gegenseitig.
n.: Welche Inszenierung, die du in letzter Zeit gesehen hast, hat dir besonders gefallen?
I.S.: Schwer zu sagen. Wenn du im Theater arbeitest, schaust du meistens nur die eigenen Stücke. Die werden zu deinem Kind, weil du ständig an ihnen arbeitest. Du kannst sie nicht mehr unbefangen anschauen, dir fehlt die Distanz. Ich möchte aber gerne nach Grodno fahren, da zeigen sie die „Pikovaja dama“ von Puškin. Es soll ein sehr gutes Stück sein und hat den Preis für das beste belarussische Bühnenwerk bekommen.
n.: Und was für Stücke hast du in letzter Zeit im Janka Kupala Theater mitinszeniert?
I.S.: Die vorletzte Premiere war ein musikalisches Stück, für das ich zusammen mit dem künstlerischen Leiter das Libretto schrieb. Davor inszenierten wir ein Stück der belarussischen Autorin Elena Popova. Als nächstes planen wir den „Pan Tadeusz“ von Mickiewicz. Auch „Die Möwe“ von Čechov soll bald aufgeführt werden. Und auf der kleinen Bühne soll das Stück „Arabische Nacht“ des deutschen Dramaturgen Roland Schimmelpfennig aufgeführt werden.
n.: Aber habt ihr als belarussisches Theater, in dem alle Stücke auf Belarussisch aufgeführt werden, nicht den Auftrag, besonders belarussische Autoren zu berücksichtigen?
I.S.: Nein, einen solchen Auftrag haben wir nicht, die meisten Stücke werden ins Belarussische übersetzt.
n.: Wie ist es denn im Theater, wird das Belarussische auch ausserhalb der Bühne gesprochen?
I.S.: Nein, es ist die Bühnensprache. Das ist ähnlich wie im jüdischen Theater in Warschau. Die Schauspieler sprechen untereinander Polnisch und auf der Bühne jiddisch. Bei uns im Theater spricht man vor allem Russisch.
n.: Wenn das Belarussische eine reine Bühnensprache ist, kann Euer Theater helfen, die belarussische Sprache stärker im Alltag zu verankern?
I.S.: Ich habe eine ganz einfache Logik, was diese Frage betrifft: Besser die belarussische Sprache ertönt wenigstens auf der Bühne, als dass sie überhaupt nicht ertönt. Es ist eines der Mittel, um unsere Sprache und Kultur zu erhalten.
n.: Ist die Gründung und der Unterhalt eines solchen Theaters sprachpolitisch motiviert?
I.S.: Ja, das geht in die Sowjetzeit zurück und war Teil der sowjetischen Politik. Einerseits wurde die nationale Kultur unterstützt, andererseits das Russische aufgedrängt. Unser Theater wurde bereits in den 20er Jahren gegründet. Damals entstanden in jeder Republik, in jeder autonomen Region der Sowjetunion jeweils zwei Theaterhäuser: Ein akademisches Theater in der Nationalsprache, das sich nationalen Themen widmete und ein russischsprachiges Theater, in dem russische klassische Stücke gespielt wurden. Bis heute ist das so geblieben: In Vilnius, in Tallinn und Minsk gibt es ausser dem Nationaltheater auch ein russisches Theater.
n.: Die Russifizierung begann aber schon unter zaristischer Herrschaft…
I.S.: Ja, die Politik der Russifizierung, die sich bis 1991 durchzog, begann schon mit dem Ausspruch des Gouverneurs Murav’ev, einer wichtigen Person bei der Expansion des Russischen Reichs von 1861: „Was das russische Bajonett nicht ausrichtet, das macht die russische Schule.“ Alle offiziellen Bereiche, die Kindergärten, Schulen und Universitäten sollten russisch sein.
n.: Du sprichst konsequent nur Belarussisch, auch wenn dir die meisten Gesprächspartner auf Russisch antworten. Das braucht einen starken Willen und ist eher selten in Belarus. Wie könnte man das Belarussische stärken?
I.S.: Sobald unsere Obrigkeit anfangen würde, Belarussisch zu sprechen, würden die anderen auch damit beginnen. Das wäre einfach. Unsere Obrigkeit ist leider etwas ungebildet. Kennst du die Legende davon, wie Gott das Land verteilte?
n.: Nein.
I.S.: Also, hör zu. Gott verteilte eines Tages unter den Menschen die Erde. Er sagte: Kommt alle her. Und alle kamen her. Den Engländern gab Gott eine Insel, den Schweizern die Berge, alle bekamen ihren Anteil Land. Da kamen die Belarussen und Gott schaute sie an und sagte: „Ihr gefallt mir, ihr seid gute Menschen. Ich gebe euch das allerbeste Land. Es liegt im Zentrum eines grossen Kontinents und es gibt dort alles, was ihr braucht: Das Land wird gross sein, damit ihr nicht vergesst zu arbeiten, es wird schöne Flüsschen haben, Seen, Hügel, keine Bergen, damit ihr nicht klettern müsst, schöne Wälder. In der Miniatur ist das eine ganze Welt, in der immer alles da sein wird, was ihr braucht.“ Da sagte irgendein Heiliger: „Gott, warum machst du das? Du gibst ihnen ja das Paradies. Dabei hast du doch gesagt, dass der Mensch nach dem Sündenfall aus dem Paradies vertrieben ist.“ Gott überlegte und sagte: „Du hast Recht, das kann ich nicht machen, aber ich habe ihnen das Land ja bereits versprochen.“ Da sagte Gott zu den wartenden Belarussen: „Nun gut, ich habe es euch versprochen, nehmt das Land. Aber zum Ausgleich gebe ich Euch die schlechteste Obrigkeit der Welt.“ Und so leben wir: Das beste Land mit der schlechtesten Obrigkeit!