Im Osten nichts Neues? Eine Literaturgruppe aus Luhans’k beweist das Gegenteil

Illustration: Nastasia Louveau

Während AutorInnen aus der Westukraine mit ihrer Europasympathie in den letzten Jahren den deutschsprachigen Buchmarkt überrascht haben, tauchen im Verhältnis dazu Stimmen aus der Ostukraine seltener auf. Das versuchen die Mitglieder der Gruppe STAN zu ändern. Konstantin Skorkin (geb. 1978), Jaroslav Minkin (geb. 1984) und Elena Zaslavskaja (geb. 1977) leben in Luhans’k, einem in der ehemaligen Sowjetunion wichtigen Kohleabbau- und Industriegebiet, unweit der russischen Grenze. Sie wirken der geografischen Marginalität entgegen, indem sie junge SchreibkünstlerInnen vernetzen, Anthologien herausgeben, sozialkritische Aktionen organisieren und an (inter)nationalen Poetry Slams erfolgreich teilnehmen.

 

Ein Interview mit der Literatur- und Aktionsgruppe STAN

 

Das Ziel formuliert der Schriftsteller und Publizist Konstantin Skorkin, der sich als Zuständiger für die Ideologie der Gruppe vorstellt, selbstbewusst: Luhans’k soll einen würdigen Platz auf der kulturellen Karte der Ukraine und des gesamten Europas einnehmen. Dieses Anliegen weist darauf hin, dass eine Tendenz zur regionalen Rivalität mit künstlerischen Mitteln noch immer besteht. So gesehen, handelt es sich um eine Antwort der Ostukraine auf ihre mediale Verunglimpfung als ‚kulturarm’. Abgesehen davon zeigen die Aktivitäten der Gruppenmitglieder, dass die ostukrainische Literaturszene gattungs- und medienübergreifend nicht nur auf eine räumlich abgegrenzte ‚kleine Heimat’ fixiert ist und außerdem, dass sie mit urbanen Lebensweisen sympathisiert. STANs sozialkritisches Pathos macht auf akute politische Missstände aufmerksam.

 

Jaroslav Minkin

Jaroslav Minkin

novinki: Bevor wir auf die Gruppe zu sprechen kommen: Wie hängt die Mitarbeit in STAN mit Eurem eigenen Schreiben zusammen? Lena, ist Deine Lyrik sozial, feministisch oder wie würdest Du sie bezeichnen?

 

Elena Zaslavskaja: Ich mag es nicht, nach Definitionen für meine Poesie zu suchen. Das können die Literaturwissenschaftler tun. Ich schreibe Kindergedichte, sie sind weder sozial noch feministisch. Ich schreibe auch Porno-Poeme, Lyrik, zivilgesellschaftliche Gedichte aus täglicher Wut heraus. Die Poesie ist für mich genau diese Freiheit: vielfältig zu sein! Nicht so wie andere mich sehen möchten oder sehen, sondern so wie ich im gegebenen Moment sein möchte. Mein Engagement in STAN ist gesellschaftlich und es ist literarisches Unfugtreiben.

 

Konstantin Skorkin

Konstantin Skorkin

n.: Was schreibt Ihr?

 

Ja. M.: Gedichte, so nennt man es, glaube ich, aber im Grunde mag ich es, auf der Bühne zu lesen.

Konstantin Skorkin: Ich schreibe im Gegensatz zu den anderen Prosa.

 

n.: Was könnt Ihr empfehlen, was sollten wir von Euch lesen?

 

K. S.: http://tisk.org.ua/?p=18477 Neulich habe ich den Text Čërnyj kvadrat (Schwarzes Quadrat) aus dem Schreibtisch hervorgeholt. Das ist eine Erzählung, die ich Anfang der 2000er Jahre verfasst und die ich immer wieder umgeschrieben habe. Letztlich habe ich aus ihr den Teil zu Vojna i mir (Krieg und Frieden) rausgeworfen, so dass ein kurzer Text über meine Jugend übrig geblieben ist. Hier gibt es autobiografische Elemente, aber insgesamt geht es um jenen Teil der Generation, zu welchem ich hoffentlich gehöre – gebildete junge Leute mit „Ideen“. Ich sorge mich sehr um ihr Schicksal. In der Ukraine sind zu oft ganze Generationen der Intelligenz verschwunden. Aber wir müssen überleben und siegen.

 

n.: Wie sieht die kulturelle Situation in der östlichen Ukraine derzeit aus, vor allem in der Literaturszene?

 

Ja. M.: Aus meiner Sicht kann ich sagen, dass sich in der Ostukraine die Traditionen der europäischen Freiheitsliebe und des russischen (sowjetischen) Untergrunds auf erstaunliche Weise verflochten haben. Das zu verstehen, ist wichtig. Wenn ich über Luhans’k wie über eine Kulturstadt spreche, erkläre ich diese Stadt nach außen hin entgegen ihrer Abgeschiedenheit. Es gibt L’viv, Kyïv und Odesa, wo du selbstständig hinfahren kannst und alles auf dem Silbertablett serviert bekommst. Aber in Luhans’k brauchst du jemanden, der dich hindurch führt, du bist auf einen „Brückenmenschen“ angewiesen. Jene Besucher, die Luhans’k mit unseren Augen gesehen haben, fahren mit der Vorstellung weg, dass diese Stadt ein authentisches, eigenes kulturelles Leben hat. Jene hingegen, die sich mit einem oberflächlichen Rundumblick begnügen, bemerken hier nur das Grau, welches leider immer noch im Übermaß vorhanden ist. Um Luhans’k zu sehen, braucht man eine besondere Optik.

K. S.: Die Situation der Literatur ist traurig. In den 1990er Jahren haben die Vertreter der Westukraine den Diskurs monopolisiert – und jeder, der am Literaturbetrieb teilhatte, musste sich anpassen. Galizien ist in kultureller Hinsicht ein wichtiger Bestandteil der Ukraine, doch längst nicht der einzig wichtige. Aber in Folge der Dominanz von Galizien ist zum Beispiel in der Ukraine keine Großstadtprosa entstanden. Die Stimme der Großstädte hört man nicht, weil in ihnen Russisch gesprochen wird und sie weit von der galizischen Denkweise entfernt sind – diese ist hermetisch und auf die Vergangenheit gerichtet. Wegen der Vereinnahmung des literarischen Diskurses hat ein beachtlicher Teil der Autoren, die auf Russisch schreiben, angefangen sich gen Russland zu orientieren, so dass wir sie als Autoren verloren haben.

 

Elena Zaslavskaja auf der Leipziger Buchmesse

Elena Zaslavskaja auf der Leipziger Buchmesse

n.: Hier stellt sich die Frage, welche Stimmen wir deswegen nicht hören. Welche Autoren und welche Werke entgehen uns?

 

K. S.: Zum Beispiel Dmitrij Savočkin aus Dnipropetrovs’k. Er hat den Roman Markšejder aus dem Leben der Bergbauleute im Donbas verfasst. Das Buch ist qualitativ quasi auf der Ebene von Chuck Palahniuk. Es ist in Russland erschienen. In der Ukraine ist Savočkin unbemerkt geblieben.

Ja. M.: Wir haben Vasyl’ Holoborod’ko – einen Dichter, dessen Name weit in der Ukraine und außerhalb bekannt ist. Sein erstes Buch ist in den USA herausgekommen. Aber in Luhans’k kennt ihn niemand. Und Vasyl’ Starun. Es gibt viele davon. Nur ist es üblich, sie nicht zu bemerken. Die Politik ist so. In dieser Hinsicht hat STAN einen richtigen Zug gemacht – hin zur aggressiven Propaganda von Kunst.

E. Z.: Früher haben wir Sammelbände herausgegeben, Zeitschriften mit Veröffentlichungen von alten und neuen Autoren überwiegend aus Luhans’k. Doch dann haben wir verstanden, dass dieser Weg in eine Sackgasse führt. So entdecken wir neue Namen vor allem für uns, und das ist natürlich gut, aber uns kennt keiner außerhalb von Luhans’k, auch in der Stadt selbst vielleicht nur die Heimatkundler und nicht mal das kann man mit Sicherheit sagen. So haben wir angefangen, uns zu bemühen, über den Rahmen von Luhans’k hinauszukommen. Und ich denke, dass es uns gelingt.

 

n.: Kann man sagen, dass es in der Ostukraine eigene lokale Kulturzentren gibt?

 

K. S.: Charkiv und künftig Luhans’k.

Ja. M.: Es gibt Kulturzentren im Untergrund, aber diese kennen nur diejenigen, die in sie hineingeraten und sie erleben. Im Bewusstsein der Mehrheitsgesellschaft gibt es sie nicht. Zudem bemerke ich ein Phänomen der kulturellen Amnäsie. Die Leute kommen, schauen, begeistern sich, aber das gesellschaftliche Bewusstsein verdrängt die Erinnerungen an kulturelle Ereignisse. Es vergehen ein bis zwei Monate und alle sprechen erneut davon, dass in Luhans’k nichts los ist. Einfach 1984. Orwell. Wieviel ergibt zwei mal zwei?

E. Z.: Es ist einfach so, dass in Kyïv in einer Woche zehn kulturelle Veranstaltungen stattfinden, aber in Luhans’k nur eine oder zwei.

Ja. M.: Das ist kein Indikator. In Kyïv gibt es viel Schaumschlagen. Und dennoch dominiert das Image Kyïvs als Ort des kulturellen Lebens.

K. S.: Das ist nicht Amnäsie, sondern eine Schwäche des Milieus.

E. Z.: Ich stimme mit Kostja überein. Es fehlt der Dialog, die professionelle Literaturkritik. Es gibt Treffpunkte, aber tusovka ist nicht immer gut.

K. S.: Wir brauchen die entsprechende Umgebung: ständige tusovka, den Dialog mit den Massenmedien, Kunstzentren. Aber das können nur wir selbst schaffen. Daher richtet sich die Kritik in Wirklichkeit an uns selbst.

Ja. M.: Wir haben doch die richtige Infrastruktur, aber sie ist im Untergrund, wie auch unsere künstlerischen Zentren.

 

n.: Es braucht Zeit. Aber das Interesse an der Kultur und Literatur aus der Ostukraine besteht.

 

K. S.: Das Interesse ist riesig.

Ja. M.: Wie an Außerirdischen. Niemand hat sie gesehen, aber die Gerüchte kursieren.

 

Jaroslav Minkin

Jaroslav Minkin

n.: Und Ihr repräsentiert sie letztlich. Was genau ist STAN?

 

Ja. M.: STAN ist eine Bewegung, eine künstlerische Community.

K. S.: Ein Kreativ-Cluster. STAN ist keine Organisation mit einer fixierten Mitgliedschaft. Wo es unsere Gleichgesinnten gibt – in Charkiv, Moskau, Kyïv –, dort existiert auch STAN. Solch eine schlaue Politik. Ljuba Jakimčuk in Kyïv, Serhij Žadan in Charkiv, Ženja Baranova in Jalta.

Ja. M.: Man kann niemals sagen, wie viele Personen wir in STAN sind. Das ist eine Marke, die den einen gefällt und den anderen nicht. Einige zittern sogar vor Wut.

E. Z.: Es gibt einen kämpferischen Kern: Minkin, Skorkin und ich. Die anderen kamen und gingen, aber wir sind schon lange dabei.

 

n.: Kooperiert Ihr mit Serhij Žadan?

 

E. Z.: Wir sind befreundet, er nimmt an unseren Projekten teil und wir an seinen.K. S.: Žadan ist unser Landsmann, er kommt aus der Luhanščyna, wohnt in Charkiv, aber er hat in der Sphäre westukrainischer Autoren Anerkennung gefunden. Er ist ein Mensch, dem es gelungen ist, ein Katalysator von Veränderungen zu werden. Im Moment gleicht sich die Situation aus. Er ist meiner Ansicht nach ein Brückenmensch zwischen Ost und West geworden. Ich erinnere mich an Auftritte von Serhij Žadan im Haus des Schauspielers in Charkiv – man konnte kaum in den Saal gelangen, die Menschen standen in den Gängen und die dort auftretenden Schweizer Dichter erlebten einen Kulturschock: „Zu unseren Lesungen kommen fünf bis zehn Personen.“Ja. M.: Žadan ist mit uns ideologisch verbunden.

 

n.: Was für eine gemeinsame Ideologie habt Ihr?

 

K. S.: Die Schaffung einer neuen Literatur, die zugleich authentisch und kosmopolitisch ist. So spreche ich über Žadan – er ist ein Bursche aus unserem Hinterhof, nur dass dieser Hof in Luhans’k, in Charkiv, in Piter oder Berlin liegen kann. Das möchte auch STAN. Darüber hinaus setzt sich Žadan für eine soziale Kunst ein. Er nimmt an sozialen Projekten teil, an Aktionen mit wohltätigen Zwecken, drückt seine Meinung zu brisanten aktuellen Problemen aus. Dazu ist Žadan ein Kulturträger, er sucht – sowie wie wir auch – und vereint Leute mit Talent. Er ist also unser Mann.

"Persten' Predsedatelja Zemnogo šara" beim ZEX Festival 2006, Charkiv

„Persten‘ Predsedatelja Zemnogo šara“ beim ZEX Festival 2006, Charkiv

n.: Wie ist Euer Verhältnis zu Autoren aus der Westukraine?

 

K. S.: Jurij Andruchovyč ist bei uns zu Gast gewesen. Aber angesichts seiner derzeitigen politischen Ansichten (er träumt davon, Donbas und die Krym wegen ihrer russophilen Sympathien von der Ukraine abzutrennen) möchte ich nicht über ihn sprechen.

 

n.: Wie hat es STAN geschafft, über Luhans’k hinaus zu gelangen?

 

E. Z.: Das war ein langer Prozess. Alles hat mit einem Auftritt in Charkiv begonnen, auf dem Festival ZEX im September 2006. Das war eines der ersten offenen Slam-Tourniere in der Ukraine, und es ist uns gelungen, grell aufzufallen. Mir hat man den improvisierten Ring des Vorsitzenden der Weltkugel ausgehändigt. Bemerkenswert, dass vor 90 Jahren im Charkiver Theater Esenin und Mariengof den Ring des „Vorsitzenden der Weltkugel“ („predzemšar“) auf den Finger von Velimir Chlebnikov aufgesetzt haben.

Ja. M.: Anfangs haben alle einfach für die Schublade geschrieben. Viel und lange. Aber man traf sich ständig und diskutierte – zwecks Talentschärfung. Danach haben wir angefangen, erste schüchterne Schritte auf Festivals und in Anthologien zu tun. Einen Wendepunkt brachte der Besuch des mittlerweile verstorbenen Jurij Pokalčuk in Luhans’k mit sich. Wir haben ihm das echte Luhans’k im Untergrund gezeigt. Diese Stadt ist eine Insel, hat er gesagt, als wir gemeinsam Cognak getrunken und Gedichte gelesen haben. Er meinte damit, dass Luhans’k sich in einem autonomen Zustand befindet, getrennt von dem gesamtkulturellen Prozess, aber über eine eigenständige Tradition verfügt, die im Untergrund entstanden ist. Diese Kluft hat er versucht zu überwinden und ist unser treuer Freund und Promoter geworden. Unsere Gedichte sind in der Zeitschrift Kievskaja Rus’ erschienen, wo russischsprachige Autoren vorher nicht anzutreffen gewesen sind. Das war der Durchbruch.

K. S.: Danach folgten unsere Erfolge bei den gesamtukrainischen Slams: 2007 kam Minkin beim Großen Slam in Charkiv ins Finale, 2008 hat Minkin (gemeinsam mit dem Weißrussen Chadanovič) den Allukrainischen Slam in der Mohyla-Akademie in Kyïv gewonnen. Übrigens gab es nach dem Kyïver Slam einen großen Skandal – ins Finale sind Autoren gekommen, die auf Russisch oder Weißrussisch gelesen haben (aber nicht auf Ukrainisch). Für einige nationalbewusste Freunde war dies der Sieg des „herkunftslosen Kosmopolitismus“. Dabei hat doch das Publikum die Gewinner gewählt!

Ja. M.: Früher war die Barriere zwischen der russisch- und der ukrainischsprachigen tusovka viel zu hoch, aber der Slam hat sie verbunden. Die Zuschauer haben für die Qualität der Texte gestimmt und nicht für die Politik.

E. Z.: Einen Schritt über unsere Schranken hinweg, wenn man sich so ausdrücken kann, haben wir dank unserer Bücher vollzogen: Uroki vreditel’stva, diversii i špionaža (Lektionen der Schädigung, Sabotage und Spionage), Iz žertv v likvidatory (Von Opfern zu Liquidatoren) und Anestezija (Anästhesie). Sie vereinigen Autoren nicht nach dem Prinzip der Zugehörigkeit zu einer Stadt, sondern ideologisch: Die Dichter haben versucht, mit ihren Texten und Essays die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf jene Probleme zu lenken, deren Lösung noch aussteht. Diese Bücher sind das Ergebnis großer sozialer und kultureller Kampagnen.

K. S.: Zur Veranschaulichung kann ich über das Buch Uroki vreditel’stva, diversii i špionaža erzählen. Im Jahr 2010 haben wir die Idee gehabt, eine Anthologie mit sozialer Poesie herauszubringen, denn in dem Land geht sonst was vor sich vor, aber die ukrainische Literatur schweigt oder reagiert im Geiste eines Pamphlet-Feuilletons. Hingegen erklangen gerade die Stimmen der Dichter in düsteren Zeiten von Diktaturen, um die menschliche Würde zu schützen. Wir wollten ein konzeptionell starkes Buch und fragten Autoren an, die wir für unsere Gleichgesinnten hielten – Serhij Žadan und Andrej Rodionov (Moskau) – sowie unseren Autorenkreis: Slava Minkin, Lena Zaslavskaja, Aleksandr Sigida, Ljubov’ Jakimčuk. In die Anthologie haben wir auch die literarische Mystifikation „Der Dichter auf dem Thron“ eingeschlossen. In der Presse tauchte nämlich die Mitteilung auf, dass Janukovyč auch ein Dichter sei und wir haben beschlossen, ihm dabei zu helfen, erst einmal Gedichte zu schreiben. Daher enthält der Sammelband auch Gedichte des Präsidenten. Zusätzlich zu diesem Buch haben wir in Luhans’k einen Wettbewerb für soziale Fotografie „Luhans’k ohne Schminke“ durchgeführt. Die besten Arbeiten sind Illustrationen unserer Anthologie geworden.

Der Vorteil dieses Buch ist, dass wir dabei gänzlich unsere Provinzialität hinter uns gelassen haben. Über das Erscheinen des Buchs hat sogar die Moskauer Snob-Seite openspace geschrieben. Der Nachteil liegt darin, dass wir zu viele Pointen in ein Projekt hineingesteckt haben – das Beste ist der Feind des Guten, soweit meine Meinung.

E. Z.: Jedes Buch verdient ein eigenes Gespräch. Und dann ist es besser, es einmal gelesen zu haben als davon hundertmal zu hören. Die Bücher sind online auf unserer Seite verfügbar, Anestezija wird auch bald hochgeladen:

Uroki vreditel’stva, diversii i špionaža – http://tisk.org.ua/?p=15135

Iz žertv v likvidatory – http://tisk.org.ua/?p=16125

 

n.: Wie hängt Ihr mit anderen regionalen Gruppierungen wie zum Beispiel LSD zusammen?

 

K. S.: Oh, LSD ist mein Projekt. Das ist die Abkürzung von Literatura Sovremennogo Donbassa (Die Literatur des heutigen Donbas). STAN hat seinen literarischen Aktionismus als Munition von LSD übernommen und LSD hat sich in der Mundhöhle STANs aufgelöst. Siehe auch: http://tisk.org.ua/?p=12976.

Ja. M.: Kostja hat als erster angefangen, innovativ zu experimentieren. Denn STAN war damals dazu nicht bereit. Es war das Jahr 2002. So ist LSD entstanden. Nackte Menschen, die in einer dunklen Bibliothek Gedichte lesen.

E. Z.: Mit dem Schild „Berühren ist tödlich“ auf der gewissen Stelle.

K. S.: Wir sind unter strömendem Regen zum Dzeržinskij-Denkmal gegangen und haben Gedichte gelesen, die die Ehre des Revolutionärs gegen den russischen Geheimdienst FSB verteidigen (sie haben seinen Liebesbriefwechsel veröffentlicht). Auf einem Konzert zum Schutz obdachloser Kinder hat LSD die Oligarchen dazu aufgerufen, die schmutzigen, mit Sperma und Blut betröpfelten Dollars den hungrigen Straßenkindern zu geben. LSD besteht aus mir, anderen Menschen, die mir geholfen haben, meine krankhaften Ideen zu verwirklichen, und Lena. Wir verwenden die Abkürzung heute noch für besonders provokante Aktionen.

E. Z.: Hier sind beschriftete Fotos unserer Aktionen.

 

n.: Welche vergangenen Aktionen bzw. Projekte sind besonders charakteristisch für STAN?

 

K. S.: Hervorragend, was das Niveau der Organisation und Kreativität angeht, waren die Lesungen unter Dzeržinskij. Im Hinblick auf den Exodus aus dem regionalen Ghetto waren es die Lesungen beim ZEX und in Bezug auf die Etablierung als Kulturinstitution war es das Festival Artodrom in 2012.

 

n.: Was ist für STAN wichtiger, Aktionen oder Publikationen? Oder ist beides gleich wichtig?

 

E. Z.: Für mich sind Aktionen eine Möglichkeit, neue Leser zu finden. So wenden wir uns an jene, die keine Bücher lesen, aber die Show mögen.

K. S.: Erstens haben unsere Performances immer einen sozialen Subtext. Das ist unser Know-how, Literatur mit zivilem Aktivismus zu verbinden. Zweitens leben wir im visuellen Zeitalter. Einem Buch sollte eine Videoreihe angefügt werden. Und was lässt die Texte besser zur Geltung kommen als eine öffentliche Aktion, und wenn sie auf Provokation aus ist, dann umso besser.

 

n.: Gegen wen oder was ist die Provokation gerichtet? Oder ist épater le bourgeois Selbstzweck?

 

K. S.: Erstens, gegen die autoritäre Macht, denn wir sind für eine offene Gesellschaft. Zweitens, gegen starre Stereotypen des Massenbewusstseins, welches vom sowjetischen Erbe vergiftet wird, und drittens gegen die heuchlerische Moral der Spießbürger – die ewige Zielscheibe von Künstlern. Man verdächtigt uns, dass wir gegen die Traditionen sind, und es ist richtig, dass man uns dessen verdächtigt.

 

n.: Aber es klingt wie eine Fortsetzung der über hundertjährigen Tradition des Modernismus.

 

K. S.: Vor hundert Jahren gab es die Sowjetmacht noch nicht. Unsere Idee wird das Bewusstsein entsowjetisieren. Das ist durchaus revolutionär.

 

n.: Mit ‚Traditionen’ meinst Du die sowjetische Literatur?

 

K. S.: Überhaupt die sowjetische Lebensweise. Wir sind von sowjetischen Menschen umgeben (ich meine Beamte, Abgeordnete, Kulturschaffende der älteren Generation) – Menschen mit einer grausamen, entstellten Psyche, die Denunzationen geschrieben haben und zu Parteiversammlungen gegangen sind. Heute sind sie Kapitalisten geworden, aber Kapitalisten aus eben sowjetischen Büchern, wo man den dicken Bourgeois mit Zigarre in der Hand auf einem Geldsack gemalt hat. Deshalb geraten wir in dieselbe totalitäre Hydra, sogar wenn wir den Kapitalismus kritisieren.

 

n.: In welcher Sprache seid Ihr künstlerisch aktiv? Ist die Sprachwahl wichtig?

 

E. Z.: Ich schreibe vor allem auf Russisch, aber es gibt auch einige Versuche auf Ukrainisch. In unseren Büchern publizieren Autoren, die auf Ukrainisch schreiben. Die Frage der Sprache ist für uns nicht entscheidend.

K. S.: Ich schreibe auf Russisch, und das ist für mich entscheidend – nicht aus chauvinistischen Gründen, sondern weil die Sprache der Sprachwirklichkeit entsprechen sollte. Vojna i mir ist zur Hälfte auf Französisch geschrieben, weil die Situation so ausgesehen hat, die Adligen haben français gesprochen. Wie kann man heute realistische Prosa über das Leben in der ostukrainischen Stadt auf Ukrainisch schreiben, wo 90 % der Bevölkerung Russisch spricht? Wenn man sich die Performances anschaut, so sind sie auch auf Russisch – in der „Sprache internationalen Austauschs“.

 

n.: Wie dokumentiert Ihr die Aktionen?

 

K. S.: Früher war es uns weniger wichtig, so dass es von vielen Aktionen keine Spur mehr gibt. Fotografien und Videos stellen wir auf unsere Seite tisk.org.ua. und wir sammeln Publikationen über uns.

E. Z.: Die vollständigste Auflistung der Aktionen ist in Wiki. Die russische Seite bedarf noch einiger Ergänzungen.

 

n.: Vielen Dank.

 

Das Interview wurde von Tatjana Hofmann geführt und aus dem Russischen übersetzt.

Fotos: Gruppe STAN, Roman Miškovec & Andrej Avdošyn

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