Das ist eine Beziehung, kein Verhältnis wie zwischen einer Prostituierten und ihrem Kunden. Ein Liebesverhältnis ist das oder sogar die Liebe. Im Idealfall dauert sie drei Monate: nach der ersten Faszination gibt es einen Monat für gründliches Kennenlernen, der zweite ist zum Erwägen, dann bleibt noch die Zeit für attraktives Kleiden. Manchmal muss Mariusz Szczygieł sich jedoch nur mit zwei Wochen zufrieden geben, um die Beziehung zum ausgewählten Thema aufzubauen. Es kommt darauf an, wie viel Zeit er von der Redaktion bekommt, um seine Reportage fertigzustellen.
Sein Name erscheint in der polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza fast seit ihrer Gründung. In den 1990ern war er für sieben Jahre mit dem Fernsehen liiert. „Szczygieł, wróć!!!“ (Szczygieł‚ komm zurück!!!), appellierten die Zeitungskollegen auf der Titelseite der Gazeta Wyborcza, er moderierte aber die damals populärste polnische Talkshow Na każdy temat (Zu jedem Thema). Jeder Zuschauer des ersten privaten Senders in Polen kannte den blonden Dreißigjährigen mit Brille, der eine in Leder gekleidete Frau mit der Peitsche einfühlsam fragte: „Dominieren Sie gerne?“ Zu seiner Sendung lud er die Unsichtbaren der kommunistischen Zeit ein: einen Mann nach der Geschlechtsverwandlung, eine Frau nach der Brustamputation, Menschen, die an UFOs glauben… Im Jahre 1996 brachte er seine erste Reportagensammlung Niedziela, która zdarzyła się w środę (Der Sonntag, der am Mittwoch geschah) heraus, die von den Literaturkritikern als eine wichtige Quelle für die Erforschung der Transformationszeit in Polen bezeichnet wurde. Sein treuherziges Fernsehimage trug ebenfalls Früchte: Er gewann den Internet-Wettbewerb für den dümmsten Polen.
Vom Minderwertigkeitskomplex befreite er sich acht Jahre später. Vor einer Buchhandlung in Arles spürte er, dass sein Körper sich plötzlich anspannte und sofort wieder auflockerte, als ob ihn die Spannung seines ganzen Lebens verlassen hätte. Im Schaufenster lag sein Buch Gottland über Tschechien beziehungsweise Tschechen in französischer Übersetzung. Es ist mittlerweile in dreizehn Sprachen übertragen worden, hat ausschließlich gute bis enthusiastische Rezensionen bekommen und wurde – als erstes journalistisches Buch – für den bekanntesten polnischen Literaturpreis Nike nominiert.
Mach den Mantel auf
Über die Stadt erhebt sich ein Hügel. Im Inneren verbirgt er dunkle Kammern, deren Wände in vergangenen Zeiten dem Stöhnen der Verbannten lauschten. Hoch oben tickt eine Gigantenuhr, die das Leben der lachenden Bestien misst. Die alten Einwohner der Stadt erinnern sich noch an einen Steinriesen, der vom Hügel aus über das Volk herrschte und der nach Lust und Laune das Leben in den Tod verwandelte. Er ertrug keine Fröhlichkeit und keine Kunst: Als seine Untertanen sich hinter seinem Rücken vergnügten, musste ein Künstler dafür sterben. Das Völkchen zitterte vor dem Riesen, bis er in einer Nacht in tausend Stücke zersprang und verschwand.
Die Stadt heißt Praha, der Hügel – Letná. Auf Letná wippt gleichmäßig ein über zwanzig Meter langes Metronompendel, das sich an Stelle des weltgrößten Stalin-Denkmals befindet. Das Monument stellte Stalin an der Spitze einer Menschenreihe dar und wurde 1962 – sieben Jahre nach seiner Einweihung und sechs Jahre nach Chruschtschows offizieller Verurteilung des Stalinismus – gesprengt. Die tief unter die Erde hineingebauten Betonfundamente bildeten Säle, genutzt unter anderem von Prostituierten. Den Gerüchten nach beging der Autor des Denkmals Selbstmord, nachdem ein Taxifahrer ihn darauf aufmerksam gemacht hatte, dass die Hand der steinernen Partisanin in Stalins Gefolge auf dem Hosenschlitz ihres Waffenbruders läge.
Szczygieł nennt seine Reportage über das Stalin-Denkmal eine „Mantelgeschichte”. Als er das Material dafür gesammelt hatte, zeigten sich da zwei rote Fäden und parallel ließ er auch im Text zwei Handlungen laufen. Die Oberseite des Mantels ist aus Gerüchten und Legenden um das Denkmal gewoben; das Futter sind die Fakten, die darunter stecken, und die Wege, auf denen der Autor an sie gelangt ist. Szczygieł schreibt nie lineare Geschichten, in denen Ereignisse ordentlich aufeinander folgen. Er will den Leser vom ersten Satz an in Beschlag nehmen und macht sich dabei seine stärkste Seite zunutze: die fesselnde Form.
Zieh die Blicke an
„Diese ständige Suche nach einer attraktiven Form ergibt sich aus meinen Komplexen eines unattraktiven Jungen”, erklärt Szczygieł den Studenten des 2009 gegründeten Instituts für Reportage in Warschau, wo er und seine Kollegen Schreibkurse anbieten. „Die Form ist wie ein Federbusch, der von Mängeln ablenkt und den Leser verführt. Erst wenn ich eine konkrete Idee zur Form, einen frappanten Anfang und eine überraschende Pointe habe, fange ich an zu schreiben.” Im Ausland wird Gottland als schöngeistige Literatur klassifiziert – als eine Sammlung von Erzählungen (in Deutschland), von Essays (in Frankreich) oder von historischen Skizzen (in Russland). In Polen gilt es als Reporterarbeit pur. Bloß tragen die dargestellten Fakten nicht ihr nacktes Fleisch herum.
Schreibt ein Reporter das ganze gesammelte Material nieder, ohne der Form eine besondere Sorgfalt zu schenken, bereitet er eine fade Frikadelle zu. Man nehme eine Aussage der Hauptfigur, gebe eine weitere in eigenen Worten wieder und tue sie hinzu. Man wiederhole diesen Vorgang in gleicher Reihenfolge. Zur Abwechslung ersetze man die Aussagen der Hauptfigur durch die Aussagen der Frau/des Sohnes/der Nachbarin der Hauptfigur und das Wort ‚Kind‘ durch das Wort ‚Spross‘. Die Frikadelle wird hastig verschluckt; Szczygiełs Ziel ist es dagegen, Genuss und Erregung mit jedem konsumierten Absatz zu steigern. Und über den Hauptgang hinaus auch Antipasti, Suppe, Wein und Dessert zu bieten.
Gerne vergleicht er seine Reportagen mit Bauwerken voller Balkons, Kreuzgänge und Außentreppen. Sie sind mal kubistisch, wie das Porträt des Schriftstellers Eduard Kirchberger alias Karel Fabian, der in der kommunistischen Tschechoslowakei nicht nur seinen Namen und Schreibstil, sondern auch seine Persönlichkeit und Handschrift geändert hat. Sie können aus kleinen Ziegelsteinen gebaut werden, wie Poczet pokrzywdzonych w III RP (Die Sammlung der Geschädigten in der Dritten Polnischen Republik) mit den merkwürdigsten Beschwerden, die beim polnischen Beauftragten für Bürgerrechte im Jahr 1993 eingegangen sind. Ein anderes Mal erinnern seine Texte – wie Onanizm polski (Die polnische Onanie) – an Brücken, deren Pfeiler und Joche unterschiedliche Stile repräsentieren und trotzdem zusammen funktionieren.
Lass die Hüllen langsam fallen
Die Reportage über die Selbstbefriedigung in Polen publizierte Gazeta Wyborcza Mitte der Neunzigerjahre zwischen einem Essay von Czesław Miłosz und einem Interview mit Václav Havel. Viele Leser gaben diese Ausgabe an die Redaktion zurück; die nationale Empörung fiel dabei auf die Zeit, als Szczygieł sich schon längst gegen sensationelle Storys entschieden hatte. „Ich habe das als junger Reporter durchgemacht. Ausnüchterungszellen, Obdachlose, das Mädchen ohne Finger vom Różycki-Markt in Warschau – das waren keine Aufträge, ich wollte das selber, das hat mich als einen achtzehnjährigen, einundzwanzigjährigen Reporter fasziniert. Als ich angefangen hatte, mit Hanna Krall zu arbeiten, verstand ich aber, dass das Schreiben über den Alltag eine große Kunst ist. Nicht über den Penner-Alltag, sondern einfach über den Alltag, man muss nur die ganze Poesie aus dem Alltag herausholen können. Ich habe diese Fähigkeit. Die gewöhnlichen Geschichten verkaufe ich als Krimis – ich spinne sie allmählich, langsam und spiele mit dem Leser.“
Ein Rezensent in der Ukraine nannte das einen Striptease.
Mit der gleicher Langsamkeit enthüllte Szczygieł in seinem zweiten Tschechien-Buch Zrób sobie raj (Mach dir dein Paradies) das Geheimnis eines Polizisten, der beim Militärdienst dank einem Kameraden sein neues Ich entdeckt hatte. Die gesellschaftliche Intoleranz ließ ihn schweigen, irgendwann wurde der innerliche Druck jedoch unerträglich und er wollte endlich aus dem Schrank kommen. Aus Angst vor der Reaktion verriet er seinen Kollegen nichts, obwohl die Kolleginnen ihn akzeptierten und sogar zu ihrem Vertrauten machten. Als er seiner Freundin die Wahrheit beichtete, war sie erleichtert: „Ich dachte schon, du hast eine andere Frau“. Was hält man als heterosexueller Polizist in Tschechien nun so streng geheim? Diesen und andere Unterschiede zu Polen versucht Szczygieł zu verstehen und seinen Lesern zu erklären. Das ist das erste Gebot der ‚polnischen Schule der Reportage‘, bereits von Kapuściński und Krall befolgt: Du sollst verstehen. Nicht beurteilen, nicht verurteilen, nicht rechtfertigen. Für deinen Leser verstehen.
Bring sie alle zum Brodeln
Er fragt sich, ob er noch ein Tschechophiler oder schon ein Kryptotscheche ist. Seine Traumheimat entdeckte er vor zwölf Jahren, als er zum Interview mit Helena Vondráčková gefahren war und Prag samt der tschechischen Sprache ihm einen metaphysischen Orgasmus bereitete. Die Sängerin erzählte ihm über ihre alte Kollegin Marta Kubišová, die 1970 auf dem Gipfel der Karriere für zwanzig Jahre aus dem öffentlichen Leben ausradiert worden war. Um mit Kubišová direkt sprechen zu können, lernte er Tschechisch – so gut, dass die Muttersprachler ihn für einen Slowaken halten und vor ihm über Polen lästern. Weitere Fremdsprachen kann er nicht; fünfzehn Lehrer haben versucht, ihm Englisch beizubringen und sie haben alle nach der fünfzehnten Unterrichtsstunde aufgegeben. Für die Autorentreffen im Ausland hat er die Formel „I don’t speak English, but I understand“ parat.
Szczygieł sagt offen, dass Warschau ihm die Kehle zuschnürt. Frei atmet er in Prag. Dass die tschechischen Schwächen (zu viel Gelächter und Selbstironie, kein Pathos und Tabu, keine Gottesfurcht) ihm eher liegen als die polnischen (zu viel Seriosität, keine Selbstironie, zu viel Pathos und Tabu und eine große Gottesfurcht). „Das Gefühl, kein hundertprozentiger Pole zu sein, gilt für einen Polen als Sakrileg. Todsünde. Beschämende Krankheit. Kein normaler Mensch würde das bei uns in aller Öffentlichkeit zugeben.“ Sein Patriotismus (obwohl er sowieso der Meinung ist, dass die Patriotismen zum Verschwinden verurteilt sind) ist tschechischer Art: gemütlich. Für seine Heimat will er nicht sterben. Er steht auf samtene Umwälzungen – wie der Buchladen mit Kulturcafé Wrzenie Świata (Brodeln der Welt),der von Szczygieł und seinen Reporterkollegen Wojciech Tochman und Paweł Goźliński vor zwei Jahren gegründet wurde, damit die Polen die Non-fiction lieben lernen.
Die Angestellten der Stadtverwaltung waren schockiert, als die meist älteren Nachbarn von Wrzenie Świata dessen Antrag auf die Konzession für Alkoholausschank unterstützten. Üblicherweise sind die Wohnungseigentümer ja knallhart dagegen. Die Vorsitzende der Eigentümergemeinschaft hat erklärt, dass der erbauende Blick auf die Besucher durch Buchladenfenster hier entschieden hat. Die jungen Menschen, die stundenlang über Büchern und bei Autorenlesungen hocken, haben sich ein Gläschen Wein verdient.