Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Lies dir diesen Strip­tease durch oder wie Mariusz Szc­zy­gieł den Alltag pikant würzt

Das ist eine Bezie­hung, kein Ver­hältnis wie zwi­schen einer Pro­sti­tu­ierten und ihrem Kunden. Ein Lie­bes­ver­hältnis ist das oder sogar die Liebe. Im Ide­al­fall dauert sie drei Monate: nach der ersten Fas­zi­na­tion gibt es einen Monat für gründ­li­ches Ken­nen­lernen, der zweite ist zum Erwägen, dann bleibt noch die Zeit für attrak­tives Kleiden. Manchmal muss Mariusz Szc­zy­gieł sich jedoch nur mit zwei Wochen zufrieden geben, um die Bezie­hung zum aus­ge­wählten Thema auf­zu­bauen. Es kommt darauf an, wie viel Zeit er von der Redak­tion bekommt, um seine Repor­tage fertigzustellen.

Sein Name erscheint in der pol­ni­schen Tages­zei­tung Gazeta Wyborcza fast seit ihrer Grün­dung. In den 1990ern war er für sieben Jahre mit dem Fern­sehen liiert. „Szc­zy­gieł, wróć!!!“ (Szc­zy­gieł‚ komm zurück!!!), appel­lierten die Zei­tungs­kol­legen auf der Titel­seite der Gazeta Wyborcza, er mode­rierte aber die damals popu­lärste pol­ni­sche Talk­show Na każdy temat (Zu jedem Thema). Jeder Zuschauer des ersten pri­vaten Sen­ders in Polen kannte den blonden Drei­ßig­jäh­rigen mit Brille, der eine in Leder geklei­dete Frau mit der Peit­sche ein­fühlsam fragte: „Domi­nieren Sie gerne?“ Zu seiner Sen­dung lud er die Unsicht­baren der kom­mu­nis­ti­schen Zeit ein: einen Mann nach der Geschlechts­ver­wand­lung, eine Frau nach der Brust­am­pu­ta­tion, Men­schen, die an UFOs glauben… Im Jahre 1996 brachte er seine erste Repor­ta­gen­samm­lung Nied­ziela, która zdar­zyła się w środę (Der Sonntag, der am Mitt­woch geschah) heraus, die von den Lite­ra­tur­kri­ti­kern als eine wich­tige Quelle für die Erfor­schung der Trans­for­ma­ti­ons­zeit in Polen bezeichnet wurde. Sein treu­her­ziges Fern­sehi­mage trug eben­falls Früchte: Er gewann den Internet-Wett­be­werb für den dümmsten Polen.

Vom Min­der­wer­tig­keits­kom­plex befreite er sich acht Jahre später. Vor einer Buch­hand­lung in Arles spürte er, dass sein Körper sich plötz­lich anspannte und sofort wieder auf­lo­ckerte, als ob ihn die Span­nung seines ganzen Lebens ver­lassen hätte. Im Schau­fenster lag sein Buch Gott­land über Tsche­chien bezie­hungs­weise Tsche­chen in fran­zö­si­scher Über­set­zung. Es ist mitt­ler­weile in drei­zehn Spra­chen über­tragen worden, hat aus­schließ­lich gute bis enthu­si­as­ti­sche Rezen­sionen bekommen und wurde – als erstes jour­na­lis­ti­sches Buch – für den bekann­testen pol­ni­schen Lite­ra­tur­preis Nike nominiert.

 

Mach den Mantel auf
Über die Stadt erhebt sich ein Hügel. Im Inneren ver­birgt er dunkle Kam­mern, deren Wände in ver­gan­genen Zeiten dem Stöhnen der Ver­bannten lauschten. Hoch oben tickt eine Gigan­tenuhr, die das Leben der lachenden Bes­tien misst. Die alten Ein­wohner der Stadt erin­nern sich noch an einen Stein­riesen, der vom Hügel aus über das Volk herrschte und der nach Lust und Laune das Leben in den Tod ver­wan­delte. Er ertrug keine Fröh­lich­keit und keine Kunst: Als seine Unter­tanen sich hinter seinem Rücken ver­gnügten, musste ein Künstler dafür sterben. Das Völk­chen zit­terte vor dem Riesen, bis er in einer Nacht in tau­send Stücke zer­sprang und verschwand.

Die Stadt heißt Praha, der Hügel – Letná. Auf Letná wippt gleich­mäßig ein über zwanzig Meter langes Metro­nom­pendel, das sich an Stelle des welt­größten Stalin-Denk­mals befindet. Das Monu­ment stellte Stalin an der Spitze einer Men­schen­reihe dar und wurde 1962 – sieben Jahre nach seiner Ein­wei­hung und sechs Jahre nach Chruscht­schows offi­zi­eller Ver­ur­tei­lung des Sta­li­nismus – gesprengt. Die tief unter die Erde hin­ein­ge­bauten Beton­fun­da­mente bil­deten Säle, genutzt unter anderem von Pro­sti­tu­ierten. Den Gerüchten nach beging der Autor des Denk­mals Selbst­mord, nachdem ein Taxi­fahrer ihn darauf auf­merksam gemacht hatte, dass die Hand der stei­nernen Par­ti­sanin in Sta­lins Gefolge auf dem Hosen­schlitz ihres Waf­fen­bru­ders läge.

Szc­zy­gieł nennt seine Repor­tage über das Stalin-Denkmal eine „Man­tel­ge­schichte”. Als er das Mate­rial dafür gesam­melt hatte, zeigten sich da zwei rote Fäden und par­allel ließ er auch im Text zwei Hand­lungen laufen. Die Ober­seite des Man­tels ist aus Gerüchten und Legenden um das Denkmal gewoben; das Futter sind die Fakten, die dar­unter ste­cken, und die Wege, auf denen der Autor an sie gelangt ist. Szc­zy­gieł schreibt nie lineare Geschichten, in denen Ereig­nisse ordent­lich auf­ein­ander folgen. Er will den Leser vom ersten Satz an in Beschlag nehmen und macht sich dabei seine stärkste Seite zunutze: die fes­selnde Form.

 

Zieh die Blicke an
„Diese stän­dige Suche nach einer attrak­tiven Form ergibt sich aus meinen Kom­plexen eines unat­trak­tiven Jungen”, erklärt Szc­zy­gieł den Stu­denten des 2009 gegrün­deten Insti­tuts für Repor­tage in War­schau, wo er und seine Kol­legen Schreib­kurse anbieten. „Die Form ist wie ein Feder­busch, der von Män­geln ablenkt und den Leser ver­führt. Erst wenn ich eine kon­krete Idee zur Form, einen frap­panten Anfang und eine über­ra­schende Pointe habe, fange ich an zu schreiben.” Im Aus­land wird Gott­land als schön­geis­tige Lite­ratur klas­si­fi­ziert – als eine Samm­lung von Erzäh­lungen (in Deutsch­land), von Essays (in Frank­reich) oder von his­to­ri­schen Skizzen (in Russ­land). In Polen gilt es als Repor­ter­ar­beit pur. Bloß tragen die dar­ge­stellten Fakten nicht ihr nacktes Fleisch herum.

Schreibt ein Reporter das ganze gesam­melte Mate­rial nieder, ohne der Form eine beson­dere Sorg­falt zu schenken, bereitet er eine fade Fri­ka­delle zu. Man nehme eine Aus­sage der Haupt­figur, gebe eine wei­tere in eigenen Worten wieder und tue sie hinzu. Man wie­der­hole diesen Vor­gang in glei­cher Rei­hen­folge. Zur Abwechs­lung ersetze man die Aus­sagen der Haupt­figur durch die Aus­sagen der Frau/des Sohnes/der Nach­barin der Haupt­figur und das Wort ‚Kind‘ durch das Wort ‚Spross‘. Die Fri­ka­delle wird hastig ver­schluckt; Szc­zy­giełs Ziel ist es dagegen, Genuss und Erre­gung mit jedem kon­su­mierten Absatz zu stei­gern. Und über den Haupt­gang hinaus auch Anti­pasti, Suppe, Wein und Des­sert zu bieten.

Gerne ver­gleicht er seine Repor­tagen mit Bau­werken voller Bal­kons, Kreuz­gänge und Außen­treppen. Sie sind mal kubis­tisch, wie das Por­trät des Schrift­stel­lers Eduard Kirch­berger alias Karel Fabian, der in der kom­mu­nis­ti­schen Tsche­cho­slo­wakei nicht nur seinen Namen und Schreib­stil, son­dern auch seine Per­sön­lich­keit und Hand­schrift geän­dert hat. Sie können aus kleinen Zie­gel­steinen gebaut werden, wie Poczet pokrzywd­zonych w III RP (Die Samm­lung der Geschä­digten in der Dritten Pol­ni­schen Repu­blik) mit den merk­wür­digsten Beschwerden, die beim pol­ni­schen Beauf­tragten für Bür­ger­rechte im Jahr 1993 ein­ge­gangen sind. Ein anderes Mal erin­nern seine Texte – wie Ona­nizm polski (Die pol­ni­sche Onanie) – an Brü­cken, deren Pfeiler und Joche unter­schied­liche Stile reprä­sen­tieren und trotzdem zusammen funktionieren.

 

Lass die Hüllen langsam fallen
Die Repor­tage über die Selbst­be­frie­di­gung in Polen publi­zierte Gazeta Wyborcza Mitte der Neun­zi­ger­jahre zwi­schen einem Essay von Czesław Miłosz und einem Inter­view mit Václav Havel. Viele Leser gaben diese Aus­gabe an die Redak­tion zurück; die natio­nale Empö­rung fiel dabei auf die Zeit, als Szc­zy­gieł sich schon längst gegen sen­sa­tio­nelle Storys ent­schieden hatte. „Ich habe das als junger Reporter durch­ge­macht. Aus­nüch­te­rungs­zellen, Obdach­lose, das Mäd­chen ohne Finger vom Różycki-Markt in War­schau – das waren keine Auf­träge, ich wollte das selber, das hat mich als einen acht­zehn­jäh­rigen, ein­und­zwan­zig­jäh­rigen Reporter fas­zi­niert. Als ich ange­fangen hatte, mit Hanna Krall zu arbeiten, ver­stand ich aber, dass das Schreiben über den Alltag eine große Kunst ist. Nicht über den Penner-Alltag, son­dern ein­fach über den Alltag, man muss nur die ganze Poesie aus dem Alltag her­aus­holen können. Ich habe diese Fähig­keit. Die gewöhn­li­chen Geschichten ver­kaufe ich als Krimis – ich spinne sie all­mäh­lich, langsam und spiele mit dem Leser.“

 

Ein Rezen­sent in der Ukraine nannte das einen Striptease.

 

Mit der glei­cher Lang­sam­keit ent­hüllte Szc­zy­gieł in seinem zweiten Tsche­chien-Buch Zrób sobie raj (Mach dir dein Para­dies) das Geheimnis eines Poli­zisten, der beim Mili­tär­dienst dank einem Kame­raden sein neues Ich ent­deckt hatte. Die gesell­schaft­liche Into­le­ranz ließ ihn schweigen, irgend­wann wurde der inner­liche Druck jedoch uner­träg­lich und er wollte end­lich aus dem Schrank kommen. Aus Angst vor der Reak­tion ver­riet er seinen Kol­legen nichts, obwohl die Kol­le­ginnen ihn akzep­tierten und sogar zu ihrem Ver­trauten machten. Als er seiner Freundin die Wahr­heit beich­tete, war sie erleich­tert: „Ich dachte schon, du hast eine andere Frau“. Was hält man als hete­ro­se­xu­eller Poli­zist in Tsche­chien nun so streng geheim? Diesen und andere Unter­schiede zu Polen ver­sucht Szc­zy­gieł zu ver­stehen und seinen Lesern zu erklären. Das ist das erste Gebot der ‚pol­ni­schen Schule der Repor­tage‘, bereits von Kapuściński und Krall befolgt: Du sollst ver­stehen. Nicht beur­teilen, nicht ver­ur­teilen, nicht recht­fer­tigen. Für deinen Leser verstehen.

 

Bring sie alle zum Brodeln
Er fragt sich, ob er noch ein Tschecho­philer oder schon ein Kryp­totscheche ist. Seine Traum­heimat ent­deckte er vor zwölf Jahren, als er zum Inter­view mit Helena Von­drá­č­ková gefahren war und Prag samt der tsche­chi­schen Sprache ihm einen meta­phy­si­schen Orgasmus berei­tete. Die Sän­gerin erzählte ihm über ihre alte Kol­legin Marta Kubišová, die 1970 auf dem Gipfel der Kar­riere für zwanzig Jahre aus dem öffent­li­chen Leben aus­ra­diert worden war. Um mit Kubišová direkt spre­chen zu können, lernte er Tsche­chisch – so gut, dass die Mut­ter­sprachler ihn für einen Slo­waken halten und vor ihm über Polen läs­tern. Wei­tere Fremd­spra­chen kann er nicht; fünf­zehn Lehrer haben ver­sucht, ihm Eng­lisch bei­zu­bringen und sie haben alle nach der fünf­zehnten Unter­richts­stunde auf­ge­geben. Für die Autoren­treffen im Aus­land hat er die Formel „I don’t speak Eng­lish, but I under­stand“ parat.

Szc­zy­gieł sagt offen, dass War­schau ihm die Kehle zuschnürt. Frei atmet er in Prag. Dass die tsche­chi­schen Schwä­chen (zu viel Gelächter und Selbst­ironie, kein Pathos und Tabu, keine Got­tes­furcht) ihm eher liegen als die pol­ni­schen (zu viel Serio­sität, keine Selbst­ironie, zu viel Pathos und Tabu und eine große Got­tes­furcht). „Das Gefühl, kein hun­dert­pro­zen­tiger Pole zu sein, gilt für einen Polen als Sakrileg. Tod­sünde. Beschä­mende Krank­heit. Kein nor­maler Mensch würde das bei uns in aller Öffent­lich­keit zugeben.“ Sein Patrio­tismus (obwohl er sowieso der Mei­nung ist, dass die Patrio­tismen zum Ver­schwinden ver­ur­teilt sind) ist tsche­chi­scher Art: gemüt­lich. Für seine Heimat will er nicht sterben. Er steht auf sam­tene Umwäl­zungen – wie der Buch­laden mit Kul­tur­café Wrzenie Świata (Bro­deln der Welt),der von Szc­zy­gieł und seinen Report­er­kol­legen Wojciech Tochman und Paweł Goź­liński vor zwei Jahren gegründet wurde, damit die Polen die Non-fic­tion lieben lernen.

Die Ange­stellten der Stadt­ver­wal­tung waren scho­ckiert, als die meist älteren Nach­barn von Wrzenie Świata dessen Antrag auf die Kon­zes­sion für Alko­hol­aus­schank unter­stützten. Übli­cher­weise sind die Woh­nungs­ei­gen­tümer ja knall­hart dagegen. Die Vor­sit­zende der Eigen­tü­mer­ge­mein­schaft hat erklärt, dass der erbau­ende Blick auf die Besu­cher durch Buch­la­den­fenster hier ent­schieden hat. Die jungen Men­schen, die stun­den­lang über Büchern und bei Autoren­le­sungen hocken, haben sich ein Gläs­chen Wein verdient.