Andrićs Beziehung zu Bosnien: Von der Liebe bis zum Hass und zurück
Ein Interview mit Ivan Lovrenović, Verleger, Kulturhistoriker, Publizist, Sarajevo
novinki: Ivo Andrić ist heute zur Waffe im Kampf zwischen den Nationen des ehemaligen Jugoslawien geworden. Kroaten und Serben streiten um seine Nationszugehörigkeit, Bosniaken und Serben um die politische Botschaft seiner Literatur. In Titos Jugoslawien war Andrić unumstritten. Was für ein Verhältnis hatte Tito zum Nobelpreisträger? |
Ivan Lovrenović: Ivo Andrić und Miroslav Krleža waren die beiden bedeutendsten jugoslawischen Schriftsteller und zwei Symbole für die Kultur, die Literatur, aber auch die Politik. Der Schriftstellerverband Jugoslawiens hatte beide als Kandidaten für den Nobelpreis vorgeschlagen. Titos Favorit war Krleža. Andrić mochte er nicht. Als Andrić den Nobelpreis erhielt, war Tito sehr enttäuscht, sogar sauer. Seine Berater konnten ihn nicht überreden, Andrić zu empfangen und ihm zu seinem Nobelpreis zu gratulieren. Man tuschelte bereits von einem Skandal. Schließlich gab Tito nach, das Treffen fand in seiner Residenz, dem Weißen Hof, statt. Zufälligerweise bin ich im Besitz eines unveröffentlichten Protokolls dieses Gesprächs. Es ist wahnsinnig interessant, weil es vollkommen uninteressant ist. Welche Zigaretten rauchen Sie, Genosse Andrić? Ach, ich rauche nicht richtig, ich zünde mir mal eine an, wissen Sie, usw. Das ganze Gespräch ist gekünstelt, man spürt, dass der eine wie der andere es kaum erwarten können, sich zu verabschieden. |
n.: Woher rührt diese Antipathie? |
I.L.: In politischer Hinsicht gehörten sie zwei vollkommen unterschiedlichen Welten an. Andrić war ein hoher Beamter des königlichen Regimes, das Tito als Rebell bekämpft hatte. Andrić war ein unideologischer Mensch; mit der Linken symphatisierte er aber nie. Man muss sich die Zwischenkriegszeit vergegenwärtigen, als in Jugoslawien Kultur und Literatur, aber auch die Politik stark polarisiert waren. Auf der einen Seite hatte man eine mächtige Bewegung der sozial engagierten Literatur, die sich an sowjetische Vorbilder anlehnte, auf der anderen Seite die bürgerliche Intelligenz, die bürgerliche Kultur, bürgerliche Schriftsteller. Andrić war der profilierteste Vertreter dieser bürgerlichen Welt, in der Politik, in der Diplomatie, und eben auch in der Literatur. Er diente also dem Regime, und zwischen dem Regime und der Bewegung Titos herrschte Todesfeindschaft. |
n.: Wie konnte Andrić dennoch im sozialistischen Jugoslawien zum Staatsschriftsteller avancieren? |
I.L.: Es gibt etwas, worin Andrić mit Titos neuem Regime sehr kompatibel war, und das war die Frage Jugoslawiens. Andrić war ein überzeugter Trans-Jugoslawe. Er selbst spricht darüber im Buch von Ljubo Jandrić (Jandrić, Ljubo: Sa Ivom Andrićem, Sarajevo 1982). Er sagt, dass er sich nie für die Natur des Regimes interessiert habe, sondern allein für Jugoslawien und den Fortbestand Jugoslawiens. Das waren sehr starke Berührungspunkte. Titos Leute verstanden, was für eine Bedeutung Andrić in dieser Hinsicht hatte, als großer Schriftsteller und als Schriftsteller mit weißer Weste. Er war ein Beamter des Königreichs gewesen, hatte aber nichts getan, was ihn diskreditierte. Nun, es gab ein unangenehmes Detail in seiner Biographie, er bemühte sich aber, es auszuradieren. Es ging um ein Foto von der Unterzeichnung des Dreimächtepaktes in Wien. Auf dem Foto ist Ministerpräsident Cvetković zu sehen, Ribbentrop, glaube ich, und hinter ihnen Andrić als der damals höchste Mann der diplomatischen Hierarchie. Das neue Regime hat 1946 in Belgrad eine Riesenausstellung über die Entstehung des neuen Jugoslawien organisiert. Sie war chronologisch aufgebaut, so dass man gleich am Eingang das große Foto von der Unterzeichnung des Dreimächtepakts sehen konnte. Milovan Đilas spricht darüber in seinen Memoiren. Andrić habe ihn angerufen und sehr unterwürfig gebeten, dieses Foto, wenn irgend möglich, wegzuschaffen. Đilas hat das natürlich getan. Solange Jugoslawien existierte, tauchte das Foto nicht mehr auf. Dies ist nur eine kleine Anekdote, alles in allem hatte Andrić eine weiße Weste, und er war ein überzeugter Jugoslawe. Im Gegensatz zu Krleža, der ebenfalls ein überzeugter Jugoslawe war, allerdings ein Föderalist, verstand sich Andrić als Integralist. Das passte damals sehr gut zu Titos Regime, denn es war abgesehen von der Existenz der sechs Republiken bis zu den späten 1960er Jahren im Grunde integralistisch und unitaristisch. Andrić passte da perfekt rein. |
n.: In Kroatien schweigt man heute zumeist über Ivo Andrić. Zwar wurde er in einer kroatischen Familie in Bosnien geboren, doch seine jugoslawische Einstellung erregt Anstoß. In Belgrad beschäftigt sich eine Reihe von Institutionen mit Andrić, man veranstaltet derzeit sogar ein Andrić-Jahr. Wo ist Andrićs Platz in Bosnien heute? |
I.L.: Mit dem Wechsel des politischen Paradigmas in Bosnien-Herzegowina geschah mit Andrić etwas sehr Trauriges. Unter den früheren Machthabern hatte Andrić in ganz Jugoslawien, besonders in Bosnien, den Status einer Kulturhalbgottheit. Immer wenn er nach Bosnien kam, empfing man ihn auf höchster Staatsebene. Er wurde auch sehr viel gelesen. Aber mit dem Paradigmenwechsel in den 1990er Jahren änderte sich das vollkommen. Es ist eine lange Geschichte voller Nuancen und Verzweigungen. Man könnte tagelang erzählen, um das alles zu erklären, und man würde doch nichts erklärt haben. Kurz gesagt geht es um Folgendes: Das Schicksal Bosniens, das im Erleben der eigenen Welt in drei ethnisch basierte Teile zerfallen ist – in drei Einheiten im politischen Leben und im Bildungswesen –, dieses Schicksal teilt auch Andrić. Auch dadurch offenbart sich, wie schicksalhaft er mit Bosnien verbunden ist. Das, was mit Bosnien geschieht, geschieht auch in Bosnien mit ihm. Die größte Neuigkeit in der neuen Behandlung Andrićs im neuen Bosnien war die muslimische Rezeption von Andrić. Diese Rezeption gab es auch vorher jahrzehntelang, nur hatte sie kein Stimmrecht, sie hatte nur im Untergrund rumort. Jetzt bekam sie das Stimmrecht und schöpfte es maximal aus, leider auf schlechte Weise. Wie? So, dass in der gesamten neuen bosniakisch-muslimischen Kultur, da meine ich das politische Establishment und in der Folge die offizielle Kultur und das Schulwesen, Andrić auf einmal ein sehr schlechter Platz zugewiesen wurde. In extremen Fällen wird er fast wie eine Art Volksfeind behandelt. Zur Geltung kam jenes alte Rumoren über Andrić als Schriftsteller, der ideologisch angeblich gegen die Muslime, gegen den Islam, sogar gegen Bosnien gewesen sein sollte. All das beruht natürlich darauf, dass man ihn falsch, literarisch unbegründet liest. Aus seiner Literatur werden Teile mechanisch herausgerissen, die dies belegen sollen. Jede wahre Literatur ist voller solcher Kontroversen, man kann sie benutzen, wie man möchte. Diese Rezeption Andrićs in muslimisch-bosniakischer Manier führte dazu, dass überall, wo diese Kultur dominiert, für Andrić einfach der Platz fehlt. Besonders im Krieg und in den Jahren danach kam das zum Ausdruck, jetzt lässt es ein wenig nach. Man kann das an einer Reihe von Details beobachten. Nehmen Sie den öffentlichen Raum in Sarajevo und stellen Sie die Frage, wo da Andrić zu finden ist. Es gibt ihn nirgendwo. Unter den Denkmälern, die wieder vor dem Verlagsgebäude von Svjetlost stehen – sie wurden dort vor dem Krieg installiert, dann weggeschafft, und dann doch zurückgebracht – ja, da steht neben Branko Ćopić und Petar Kočić auch Andrić. Und es gibt eine Ivo-Andrić-Gasse in Dobrinja, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen. Berücksichtigt man, dass Andrić der größte Schriftsteller Sarajevos in der Geschichte überhaupt ist, dann bedeutet dieses Missverhältnis, dass diese Stadt einen solchen Schriftsteller gar nicht in ihren öffentlichen Raum, in ihr symbolisches Imaginarium integriert hat. |
n.: Wie verhält es sich mit der serbischen Rezeption nach den Kriegen? |
I.L.: Die serbische Geschichte über Andrić ist mehr oder weniger bekannt und klar. Noch zu Andrićs Lebzeiten stellte man ihn als einen serbischen Schriftsteller vor. Es ist sehr interessant, zu analysieren, was er zu diesem Thema gesagt hat. Wenn man das tut, wird man feststellen, dass man da bei ihm gar nicht fündig wird. Und man kann auch gar nicht fündig werden, denn Andrićs Wesen ist transethnisch. Aufgrund seiner Literatur und aufgrund seiner Sicht auf Jugoslawien kann er niemandem speziell gehören. Dennoch ist diese Vorstellung entstanden, er lebte in Belgrad, schrieb in der ekavischen Variante, die serbische Kultur integrierte ihn sehr stark, er veröffentlichte dort, war Mitglied der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Es geht also um tausend Elemente, die literarisch keineswegs von Bedeutung sind, aber im bürgerlichen, privaten Sinne sind sie es. Andrić wurde also in der Öffentlichkeit zugleich als jugoslawischer, aber auch als serbischer Schriftsteller stilisiert. Und nach dem Zerfall Jugoslawiens wurde er irgendwie von selbst immer mehr zum serbischen Schriftsteller. Im Krieg benutzte man ihn als nationales Symbol. Dies ging so weit, dass Dobrica Ćosić – seinerseits ein großes Sinnbild der serbischen Kultur – vor einigen Jahren in Višegrad erklärte, dass Ivo Andrić ganz bestimmt, wäre er noch am Leben, im Krieg und danach „mit uns“ gewesen wäre. Hier handelt es sich um eine Spekulation, die, berücksichtigt man das gesamte künstlerische Werk Andrićs und seine Biographie, nicht nur falsch ist, sondern auch eine Manipulation. In diesem populistischen Diskurs neigt man dazu, Andrić auf den Roman Die Brücke über die Drina (Na Drini ćuprija) zu reduzieren, denn aus serbischer Perspektive lässt sich dieses Werk am ehesten für nationale Ziele instrumentalisieren. |
n.: Was lässt sich über die dritte bosnische Perspektive, die kroatische, sagen? |
I.L.: In Mostar, dem politischen und kulturellen Zentrum der Kroaten, ist man ein wenig zur Vernunft gekommen. Andrić ist ja Nobelpreisträger, so dass man eine kleine Tagung an der Universität in Mostar veranstaltet hat. Aber das ist alles nicht der Rede wert. Formulieren wir es so: Die Kroaten brauchten Andrić nie. Die Kroaten in Bosnien, d.h. ihre wichtigste politische Strömung hier war seit den 1990er Jahren bis heute lediglich ein Transmissionsriemen für die Ereignisse in Kroatien. In Sarajevo gibt es indes eine Filiale der in Zagreb ansässigen nationalen Institution Matica hrvatska. Dank eines einzigen dort tätigen Menschen, ich meine den Schriftsteller Mirko Marjanović, hat diese Filiale der Matica hrvatska vor etwa zehn Jahren eine Reihe ins Leben gerufen: „Kroatische Literatur Bosnien-Herzegowinas in hundert Bänden“. Marjanović hat mir vorgeschlagen, in dieser Reihe Ivo Andrić vorzustellen. Wir haben eine Auswahl in vier Bänden gemacht, und das war das einzige solide Zeichen einer kroatischen Achtung gegenüber Ivo Andrić in Bosnien-Herzegowina seit den 1990er Jahren. |
n.: Um diese vier Bände streiten sich die Matica hrvatska in Sarajevo und die Ivo-Andrić-Stiftung in Belgrad vor Gericht. Die Stiftung war dagegen, dass Andrić mit dem Etikett „kroatischer Schriftsteller“ in Druck geht. In erster Instanz entschied ein Gericht in Sarajevo zugunsten der Belgrader Stiftung. Wie kam es dazu? |
I.L.: Dem Gericht standen nur bestimmte formal-rechtliche Informationen zur Verfügung. Die Stiftung vertritt formal die Rechte von Ivo Andrić, sie hat das Recht, ein Angebot eines Verlegers ohne Erklärung abzulehnen. Wesentlich ist Folgendes: Die Stiftung wurde als jugoslawische Institution gegründet. Andrićs Werke veröffentlichten die sogenannten vereinigten jugoslawischen Verleger. Das waren Verleger aus dem ganzen Land, von Slowenien bis Makedonien. Dementsprechend sah die Struktur des Verwaltungsrates der Stiftung aus. Dort waren Schriftsteller und Kulturarbeiter aus allen Republiken und Nationen vertreten, darauf achteten die Kommunisten sehr. Auf diese Weise hatte die Stiftung einen jugoslawischen, transnationalen Charakter. Durch den Zerfall Jugoslawiens wurde sie serbisch und begann, sich wie ein serbischer Vertreter von Ivo Andrić aufzuführen. Und hier muss man ein Argument anführen, das vielleicht nicht formal-rechtlich gilt, aber literarisch und im Sinne des gesunden Menschenverstands: Wenn Ivo Andrić tatsächlich ein jugoslawischer Schriftsteller war, wenn er in seinem Werk seine Aufmerksamkeit mit der gleichen literarischen, künstlerischen, auch philosophischen Neugier auf das gesamte jugoslawische und insbesondere auf das bosnisch-herzegowinische Mosaik richtete, dann wäre es logisch, dass er problemlos in vergleichbaren Reihen jeder der Nationalliteraturen behandelt werden kann. Meines Erachtens sogar vor allem in der bosniakischen, weil er mit dem Hauptteil seines Œuvres dorthin gehört. In diesem Sinne ist das Argument der Stiftung sehr schwach. Nun ja, es gibt diese formale legale Basis, die das Gericht verwirrte. Man wird sehen, wie in der zweiten Instanz entschieden wird. |
n.: Die Stiftung besteht darauf, dass Andrić Serbe sei und belegt das mit Dokumenten, in denen er in der Rubrik für die nationale Zugehörigkeit „serbisch“ eingetragen hat. |
I.L.: Vor einigen Tagen fiel mir ein, dass es sehr interessant wäre, zu prüfen, wie die aktuelle ukrainische Kultur Gogol’ behandelt, der seiner Geburt nach Ukrainer und zugleich ein heftiger russischer Nationalist war, der Russisch schrieb. Ich glaube nicht, dass die Ukrainer auf Gogol’ verzichten wollen. Stellen wir uns vor, irgendeine Institution aus Moskau geht wegen ukrainischer Projekte mit Gogol’ vor Gericht, weil er in Wirklichkeit ein russischer Autor sei. Lächerlich. |
n.: Kommen wir auf Bosnien zurück. Wie schreibt Andrić über Bosnien? Wie schildert er die Religionsgemeinschaften, ist er einer von ihnen mehr zugeneigt als den anderen? Wie stellt er die Beziehungen zwischen diesen Gemeinschaften dar? |
I.L.: Das ist die interessanteste Frage. Bevor man ins Detail geht, ist es wichtig, Folgendes zu berücksichtigen: Andrićs emotionale, gedankliche, historisch-philosophische Beziehung zu Bosnien war sehr ambivalent, in sich dynamisch, keineswegs einfach und keineswegs einseitig, sondern eben ambivalent. Das ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Beziehung, die eine Amplitude von der Liebe bis zum Hass und zurück besitzt. Ohne das gäbe es diese großartige Literatur gar nicht, es würde sich um eine propagandistische, politische Literatur handeln. Das muss man verstehen. Was für Andrić darüber hinaus sehr wichtig ist, und da reicht ihm bis heute meiner Meinung nach kein anderer bosnischer Schriftsteller das Wasser, ist die Tatsache, dass ihn in materieller, faktischer, konkreter Hinsicht ganz Bosnien interessierte. Er recherchierte in Bosnien wie ein Wissenschaftler, wie ein Anthropologe, ein |
n.: Was würden Sie denen entgegnen, die Andrićs Hass gegenüber den Muslimen mit seiner Doktorarbeit belegen wollen, die ihrer Meinung nach die osmanische Herrschaft in Bosnien dämonisiert? Im literarischen Werk stellen sie vor allem die Szene der Pfählung eines serbischen Bauern durch die Osmanen in der Brücke über die Drina heraus. Die Szene sei so brutal, sagen sie, dass sie bei serbischen Lesern nichts anderes als Hass gegenüber den Muslimen hervorrufen könne. Die Serben bei Andrić, kritisieren diese Interpreten, seien allesamt positive Figuren, oft Helden. |
I.L.: Das sind zwei Dinge, die zwei Antworten erfordern. Was die Dissertation betrifft: Das ist ein aus einer Zwangslage entstandener und vor allem kein literarisch-künstlerischer Text. Ich will nicht behaupten, dass Andrić ihn nicht geschrieben hat, natürlich hat er ihn geschrieben, und natürlich kam das Bild Bosniens, über das wir gesprochen haben, hier zur Geltung. Aber es ist nicht alles so, wie die Interpreten es behaupten, es ist nicht so vulgär. Andrić hat da einige große Ideen. Und was nun den famosen Pfahl an der Brücke in Višegrad betrifft: Wenn diese Art von Interpretation von Literatur Schule macht, dann müssten wir auf mindestens 80 % der Weltliteratur verzichten oder wir müssten sie für wertlos oder für gefährlich erklären. Was würden wir mit dem ganzen Naturalismus machen? Und dass Andrić solche Dinge den anderen nicht zuschreibt, das ist einfach unwahr. Nehmen Sie diese fürchterliche Erzählung Anikas Zeiten (Anikina vremena), dort sind alle Protagonisten Serben aus der Gegend von Višegrad. Die Erzählung ist dermaßen blutig und morbide, dass man ebenso ruhigen Gewissens behaupten könnte, sie sei antiserbisch. Literarisch gesehen sind das vollkommen lächerliche Argumente. |
n.: Der Filmemacher Emir Kusturica baut zur Zeit in Višegrad ein ganzes Viertel, das Andrić gewidmet sein soll: eine Andrić-Stadt. Die Reaktionen auf dieses Mammutprojekt waren in Sarajevo bereits vor Beginn der Bauarbeiten meist negativ. Wie sehen Sie Kusturicas Projekt? Wird seine Andrić-Stadt etwas bringen? |
I.L.: Ich glaube nicht. Es geht um ein klassisches potemkinsches Dorf. Wäre Andrić für Kusturica ein Vorbild, wie er es behauptet, dann hätte er sich an dessen Taten orientieren können. Durch eine Geste hat Andrić sich selbst zum größten Erblasser in der modernen Geschichte Bosnien-Herzegowinas gemacht. Er hat nämlich seinen Nobelpreis für die Entwicklung des Bibliothekswesens in Bosnien-Herzegowina gespendet. Bis zum Zerfall Jugoslawiens gab es im Kulturministerium einen Ivo-Andrić-Fonds, aus dem Gemeindebüchereien und erste Publikationen junger Schriftsteller finanziert wurden. Das war eine großartige Geste, die mit den Bedürfnissen der Gesellschaft im Einklang stand, der sie zugedacht war – bei uns gab es im kulturellen Bereich immer Defizite. Und das, was Kusturica macht? Das ist eine Marotte eines offensichtlich starken, begabten Filmemachers, aber zugleich eines Menschen, der sich nicht an wirklichen Bedürfnissen orientiert, sondern aus dem eigenen Bedürfnis heraus handelt, seine Eitelkeit zu befriedigen. |
n.: Viele Bürger von Višegrad sind begeistert, der Bürgermeister sieht in Kusturicas Projekt ein großes Potential für den Tourismus und erwartet, dass an der Kunstakademie, welche Kusturica in der Andrić-Stadt eröffnen möchte, junge Menschen aus der ganzen Welt studieren werden. Die Višegrader sagen, Kusturicas Projekt würde Andrić und die humanitäre Botschaft seiner Literatur verbreiten. |
I.L.: Ich sehe das nicht. Višegrad zu erreichen, ist auch aus Belgrad nicht einfach. Von hier aus, durch Bosnien, ist es noch schwieriger. Wie könnte dieses Višegrad ohne Ressourcen ein solches Zentrum werden? Da ist auch noch etwas, was sehr schmerzt und dennoch nicht unerwähnt bleiben darf. Višegrad hat eine entsetzliche Erfahrung aus dem letzten Krieg und diese ist ausschließlich eine Erfahrung der muslimischen Višegrader. Ich möchte nicht sagen, dass Kusturica dies mit seinem Projekt beabsichtigt, aber durch die Art der Werbung für das Projekt wird diese Tatsache zwangsläufig vom Tisch gewischt. |
n.: Kusturica wird vorgeworfen, Andrićs Werk zu missbrauchen, um zu beweisen, dass ein friedliches Miteinander von Nationen in Bosnien nicht möglich sei. Wie sehen Sie das? |
I.L.: Nein, ich glaube nicht, dass es bei Kusturica darum geht. Das ist nicht die Leitidee. Andererseits gibt es schon die Absicht, Andrić möglichst fest in der serbischen Kultur und Mentalität zu verankern. |
n.: War Andrić jemand, der das negative Bild von der osmanischen Herrschaft auf dem Balkan prägte? Ein solches Bild herrschte im sozialistischen Jugoslawien vor. |
I.L.: Der Antiosmanismus ist in der gesamten südslawischen Kulturideologie ein sehr ausgeprägter Trend, besonders seit den Emanzipationsbewegungen in Politik und Kultur zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Es ist auch klar, dass sich Ivo Andrić, wie mehr oder minder seine gesamte Generation, an diesen Trend angelehnt hat. Dieser Trend ist sehr mächtig, weil er aus den Befreiungsideen des 19. Jahrhunderts herrührt, als man die Anwesenheit der Osmanen als Fremdherrschaft erlebte, die man loswerden wollte. Es ist sehr interessant, dass die beiden jugoslawischen Regime, das königliche und das kommunistische, obwohl sie in ideologischer Hinsicht über Kreuz lagen, im Blick auf die generelle Deutung der Geschichte doch vollkommen kompatibel miteinander waren. Der Trend, von dem ich spreche, setzte sich im Kommunismus also fort und verkörperte ein dominantes Muster in der offiziellen Geschichtsschreibung und an den Schulen. Allerdings tauchten schon in den 1960er Jahren in der jugoslawischen, insbesondere in der bosnisch-herzegowinischen Historiographie, andere Stimmen auf. Es gab eine ganze Reihe von Projekten, die von der Akademie der Wissenschaften unterstützt wurden, und die die Rolle des Osmanischen Reiches in Bosnien-Herzegowina neu bewerteten. So existierten bereits in den 1970er Jahren, vor allem in Bosnien-Herzegowina, zwei entgegengesetzte Diskurse, der althergebrachte und ein neuer, der die Dinge zu relativieren versuchte. Das führte damals schon zu Kontroversen. Es entstand eine Art Gleichgewicht. Warum erzähle ich das alles? Es ist schlecht, dass sich im heutigen Bosnien diese beiden Diskurse in ihre Extreme verwandelten. Grob gesagt kann der eine osmanophob, der andere osmanophil genannt werden. Keiner von beiden sucht nach Wahrheit. Und das schadet Andrić am meisten. Andrić hat sich mit all diesen vertrackten Fragen und Beziehungen befasst, aber man kann nicht sagen, er hätte sich auf die eine oder andere Seite geschlagen. |