Eisbaden, Eiswürfel und Eiszeiten
Packeis, Pinguine und Walrösser, winterliche Landschaften und die schleichende Kälte beim Eisbaden im Eisloch. Der allgegenwärtigen Kälte kann nur mit beharrlicher menschlicher Wärme begegnet werden. Und mit Wodka.
Andrej Jur’evič Kurkov [Andrej Jurewitsch Kurkow], geboren 1961 in Budugošč [Budugoschtsch] in Russland, aufgewachsen in Kiew, ist der auflagenstärkste Autor der Ukraine. Und er schreibt auf Russisch. Inzwischen längst dem internationalen Lesepublikum bekannt, hadern viele seiner Landsleute immer noch mit der Tatsache, dass der meistgelesene ukrainische Schriftsteller russischsprachig ist. In einem Land, das nach wie vor eine von Russland deutlich abgegrenzte Identität sucht, polarisiert Kurkov. Er selbst bezeichnet sich gerne als ukrainischen Schriftsteller russischer Herkunft, der in russischer Sprache arbeitet.
Dass er sich zunächst eher als Drehbuchautor denn als Romanschriftsteller verdingte, ist Kurkovs Romanen anzumerken. Die meisten seiner Romane entstanden auch erst auf Grund eines verfilmten Drehbuches, beispielsweise Picknick auf dem Eis (Smert’ postoronnevo) oder Ein Freund des Verblichenen (Milyj drug, tovarišč pokojnika). Der Drehbuchcharakter blieb erhalten: ständig wechselnde Einstellungen, in die Einzelhandlung wird hinein und wieder herausgezoomt wie mit einer Kamera, und immer behält Kurkov sich das Überraschungsmoment vor. Die vielen anfangs autonom erscheinenden Sequenzen verknüpfen sich im Laufe seiner Geschichten zu dichtem Erzählstoff.
Auf den ersten Blick muten seine Romane wie Kriminalgeschichten an. Der Leser kann sich der Anziehungskraft, die von den Charakteren ausgeht, nur schwer entziehen. So wird er entführt in die sozialen und emotionalen Welten der Protagonisten, die sich im Laufe eines Romans vor ihm entfalten. Die kriminalistischen Elemente sind in Andrej Kurkovs Romanen nämlich lediglich der Nährboden für eine Realsatire, resultierend aus dem zynischen Blick des Autors auf die postsozialistische Gegenwart der Ukraine oder, wie in Picknick auf dem Eis und Pinguine frieren nicht (Zakon’ ulitki), Weißrusslands.
In einem Interview mit Michael Martens in der Zeitschrift Kulturaustausch gesteht Kurkov: „Ich gebe zu, dass ich zynisch bin – andernfalls müßte ich ein heftiger Trinker werden, emigrieren oder Selbstmord begehen. Ich versuche, zurechnungsfähig zu bleiben.“
Gemeinsam ist seinen Romanen eine männliche Hauptfigur, deren Passivität die Ereignisse der Erzählung bestimmt. Diese Passivität ermöglicht, dass dem Protagonisten ständig etwas widerfährt, ohne dass dieser die Ereignisse bewusst lenkt. Im Interview nennt Kurkov dies „Zookomplex“, für ihn ist diese Passivität vor allem im postsozialistischen Raum auszumachen: „passiv sein und auf Nahrung und Befehle warten“.
In Picknick auf dem Eis wird Viktor – ein Schriftsteller, der davon lebt, seine Kurzgeschichten an Zeitungen zu verkaufen – eines Tages vom Chefredakteur der Kiever Hauptstadtnachrichten darum gebeten, fiktive Nekrologe zu schreiben. Der Job verselbstständigt sich, da die Totgesagten plötzlich der Reihe nach versterben, und Viktor befindet sich mitten in (s)einer Kriminalgeschichte. „Man hatte ihm ein tolles Spiel angetragen. Und obwohl Viktor noch nicht wusste, wie er seine neuen Verpflichtungen erfüllen sollte, spürte er den wunderbaren Vorgeschmack von etwas Neuem und Außergewöhnlichem.”
Auch in Ein Freund des Verblichenen ist der Protagonist Tolja zunächst passiv. Ihm gefällt sein eigenes Leben nicht, das Leben an sich, außerhalb seiner Welt, hingegen schon. Zum Selbstmord ist er allerdings zu träge. Erst ein Bekannter bringt ihn auf den Gedanken, einen Auftragsmörder zu bestellen – für sich selbst. Als der Killer schon unterwegs ist, trifft er Lena, eine Prostituierte, die ihm neuen Lebenssinn im Erwarten ihres nächsten Anrufes gibt. Tolja will jetzt nicht mehr sterben. Die Einsamkeit ist nun mit Warten erfüllt und deshalb sinnvoll. Wieder ist Tolja der Passive, der Wartende.
Damit nährt Kurkov das kulturelle Klischee des den Menschen im ehemaligen Ostblock oft zugeschriebenen Fatalismus. Durch die überspitzte Darstellung karikiert er jedoch letztendlich dieses Klischee, da gerade der Fatalismus in seinen Romanen zum alles antreibenden Motor wird. So muss Tolja, nachdem er sich völlig in seinem Nicht-tun verstrickt hat, schließlich den Killer, den er auf sich selbst angesetzt hatte, umbringen lassen. Und, als einzig aktive Tat, beschließt er, die Schuld des Mordes wieder gut zu machen. Die Wiedergutmachung verselbständigt sich, Tolja endet an der Seite der Frau des Ermordeten und schlüpft auch in dessen Vaterrolle.
Leere Schauplätze – sei es in der Wüste oder auf dem Eis – lassen zusätzlich im Erzählgeschehen die Aushebelung von Kausalgesetzen zu, denn es fehlt der Bezug zur Realität, der durch die Anwesenheit unbeteiligter Beobachter hergestellt würde (z.B. in Städten). So können eher unwahrscheinliche Ereignisse stattfinden, wie zum Beispiel in Petrowitsch (Dobryj angel smerti) die Begegnung des Protagonisten in der kasachischen Wüste mit der romantisiert dargestellten Tochter eines Nomaden, die ihm anschließend auch noch geschenkt wird. In Die letzte Liebe des Präsidenten (Poslednaja ljubov’ prezidenta) wird der Protagonist, der beim Eisbaden im Eisloch einschläft, von einem alten Mann gerettet, der aus Protest gegen die staatliche Umsiedlungspolitik in einer Erdhöhle haust.
Als weiteres, großes Thema durchzieht der Tod wie ein roter Faden Kurkovs Romane. Nicht nur als Teil des Erzählstrangs, wo der Tod in Form von Mord- und Kriminalgeschichten Grundthema ist, sondern auch in der von Kurkov verwendeten Symbolik.Der Pinguin Mischa trägt einen Frack und wird in Picknick auf dem Eis zum Begleiter von Bestattungen. Er ist der, der „nicht friert“, und damit der Einzige, der dem Topos von Schnee und Eis – und damit dem Tod – etwas entgegen setzen kann.
Als Gegenpol zum Tod fungiert in Die letzte Liebe des Präsidenten das Herz, Zentrum des Lebens: Im Jahr 2015, nach seiner Herztransplantation, sieht sich der ukrainische Präsident Sergej unschuldig in einem lebensgefährlichen Netz von Korruption und Intrigen gefangen. Um sich zu befreien, muss er auch sein Herz befreien, das skurrilerweise während der Operation mit einem herzrhythmusstörenden Peilsender versehen wurde. Alle, die die Operation ausgeführt haben oder davon wussten, sind inzwischen unter mysteriösen Umständen gestorben. Und während sein Herz noch warm und lebendig pocht, badet Sergej Pavlovič schon im Eis oder würfelt es in seine Drinks.
Und schließlich stellt Kurkov immer wieder die Frage nach dem Nationalgefühl und der nationalen Identität der Ukraine. Sie wird in Kurkovs Romanen thematisiert, so in Petrowitsch und Die letzte Liebe des Präsidenten, und ist wahrscheinlich aufgeworfen durch Kurkovs eigene Erfahrungen.
Der Protagonist Kolja macht sich in Petrowitsch auf Grund von Tagebucheinträgen des ukrainischen Nationalschriftstellers Taras Ševčenko [Schewtschenko] auf die Suche nach dem ukrainischen Nationalgeist und wird im kasachischen Wüstensand fündig. Die Erzählung mündet im irrwitzigen Versuch, den Nationalgeist in Form von Sandladungen mit dem Zug in die Ukraine zu schmuggeln. In Die letzte Liebe des Präsidenten wird die Frage der ukrainischen Identität nicht mehr metaphorisch aufgeworfen. Sie wird stattdessen konkret vom Ich-Erzähler, dem Präsidenten der Ukraine, auf Regierungsebene ausgehandelt. In diesem Roman beschreibt Kurkov satirisch die offizielle und inoffizielle Interaktion mit Russland – und nennt Vladimir Putin namentlich, der es im Roman mit Hilfe von Verfassungsänderungen geschafft hat, im Jahre 2016 immer noch Präsident Russlands zu sein.
So karikiert Andrej Kurkov gekonnt die Realität und kommt ihr in seinen politisch brisanten und irrwitzig anmutenden Erzählungen derart nahe, dass dem Leser wiederum der Wahnsinn dieser Realität bewusst wird.
Er empfindet die immer noch vorherrschende Atmosphäre des Umbaus als inspirierend und spannend. Im Interview mit der Zeitschrift Kulturaustausch stellt er fest: „Ein Poet mit einer fragilen Psyche ist woanders besser aufgehoben. Für einen Abenteurer stellt diese Gesellschaft dagegen eine zusätzliche Möglichkeit bereit, den Adrenalinspiegel ansteigen zu lassen. Es ist eine Schule des Überlebens.“
Auf Deutsch von Andrej Kurkov erschienen:
Picknick auf dem Eis. Aus dem Russischen von Christa Vogel. Zürich 1999.
(Смерть постороннего, Kiew 1996; spätere Auflage unter dem Titel: Пикник на лдьу, 2005.)
Petrowitsch. Aus dem Russischen von Christa Vogel. Zürich 2002.
(Добрый ангел смерти, Kiew 2000.)
Ein Freund des Verblichenen. Aus dem Russischen von Christa Vogel. Zürich 2001.
(Милый друг, товарищ покойника, Kiew 1996.)
Pinguine frieren nicht. Aus dem Russischen von Sabine Grebing. Zürich 2003.
(Законь улитки, Kiew 2002.)
Keine Angst vor der Dunkelheit. Aus dem Russischen von Angelika Schneider. Zürich 2004.
(Не надо бояться темноты, Kiew 2001.)
Die letzte Liebe des Präsidenten. Aus dem Russischen von Sabine Grebing. Zürich 2005.
(Последняя любовь президента, Charkov 2004.)
Martens, Michael: „Ein dubioses Paradies“. In: Zeitschrift für KulturAustausch. Stuttgart 2000.