Der junge mazedonische Publizist, Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Ivan Dodovski, geboren 1974, debütierte 1991 mit einem Gedichtband Sedenka so likot (Party mit Bild). Es folgten zwei weitere Gedichtbände: Luda luna (Der manische Mond ), 1995, und Sveta ludost (Heilige Manie),1999. Mit dem Erzählband Golemiot kufer (Der große Koffer) machte er sich 2005 einen Namen als Prosaist und wurde insbesondere für seine kunstfertige Ausdrucksweise, die reiche Lexik und das virtuoses Spiel mit dem Satzrhythmus gelobt. Teilweise werden die Personen in seinen Erzählungen schon bei ihrer Benennung skizziert: so steckt im Namen der Hauptfigur in Umetnik na revolucijata (Künstler der Revolution), Dzvezdanovski, das Wort dzvezda (Stern).
novinki: Du bist in Bitola, im Südwesten Mazedoniens, geboren und hast einen wesentlichen Teil deines Lebens dort verbracht. Wie zeigt sich dieser Hintergrund in deinen Werken?
Ivan Dodovski.: Es gibt Orte, aus denen man weggeht und dabei glaubt, dass die Zeit ihr Gesicht und ihren Sinn verwischen wird. Aber eine solche Trennung ist eine Illusion. Wir kehren ständig zu den gedanklichen Orten zurück, deren Geschichten wir lebenslang in uns tragen. Bitola ist für mich ein solcher Ort, die Stadt meiner Kindheit und der frühen Jugendjahre. Dort haben sich mir die Augen geöffnet, dort habe ich gelernt, die Welt wahrzunehmen. Noch wichtiger: In Bitola habe ich meine Liebe zur Literatur und zur intellektuellen Neugierde entdeckt. Ich hatte das Glück, mit der ganzen Kulturszene der Stadt in Berührung zu kommen. Bitola ist eine Stadt, die eine lange kulturelle Tradition pflegt: von der Antike erstreckt sie sich über das christliche Mittelalter. Ab Ende des 19. Jahrhunderts war Bitola osmanisches Verwaltungszentrum, in dem moderne europäische Ideen Resonanz fanden. Ich bin an der Seite meines Vaters aufgewachsen, der selber einige Prosawerke schrieb; für mich zumindest, ist er vor allem als Leser unübertroffen: er konnte allem entsagen, nur einem guten Buch nicht, auch nicht in den Jahren nach dem Auseinanderfallen Jugoslawiens und dem wirtschaftlichen Kollaps, als sein geschrumpftes Gehalt ihn zwang, seine Prioritäten neu zu setzen. Durch ihn habe ich andere Kulturschaffende kennen gelernt: Autoren, bildende Künstler und Musiker aus Mazedonien und dem Ausland. Eine besonders starke Bindung an Bitola habe ich durch das Theater, an dem mein Vater eine Zeit lang Intendant war. All das – die ganze urbane Topographie der Ideen, Gefühle und Jugenderlebnisse – kann mich nie und nimmer verlassen, auch wenn ich es wollte.
n.: Du hast einige Jahre in den USA gelebt und dort das Gymnasium abgeschlossen. Wie hat das dein Weltbild und die Themen deines Schreibens verändert?
D.:Meine Erlebnisse in Amerika waren ambivalent. Damals in der Schule, im Kommunismus, wurden die USA als ideologischer Feind und Hort der Dekadenz dargestellt. Als ich 1991 nach Amerika ging und in einem kleinen Ort in den Südstaaten lebte, sah ich entgegen allen Hollywood-Klischees vom Glamour und Laster, dass die Menschen in dieser Gegend meistens ein einfaches Leben führen, im Rahmen des allgemeinen Diskurses der protestantischen Moral. Andererseits habe ich die Widersprüche Amerikas auch durch die amerikanische Literatur entdeckt, die ich gelesen und studiert habe. So konnte ich durch persönliche Erfahrung beispielsweise die mythische Welt der „Yoknapatawpha County“ William Faulkners besser verstehen lernen. Mir wurde klar, dass sich das große Drama der Menschheit auch in einem kleinen Ort entdecken lässt, wenn der Schriftsteller den Mut und das Talent hat, es zu transportieren.
n.: Du hast dann an der Uni in Skopje Literaturwissenschaft und Amerikanistik studiert, eine Magisterarbeit über narrative Strategien in der Literatur geschrieben und seit 2005 arbeitest du an deiner Doktorarbeit an der Universität Nottingham. Von dir sind drei Gedichtbände und ein Erzählband erschienen; außerdem hast du verschiedene literaturwissenschaftliche Studien und Theaterkritiken geschrieben und einen Essayband zum Multikulturalismus in Mazedonien herausgegeben. Wie passen diese verschiedenen Bereiche und Genres für dich zusammen?
D.: Also, ich habe zunehmend das Gefühl, dass die Ausdrucksformen unseres Erlebens der Welt nur Werkzeuge sind, mit denen jeder von uns seine eigene Geschichte erzählt. Jede Formensprache und jedes Genre schreibt bestimmte Regeln vor, und es gibt keine Ausrede, sich nicht in seinem Handwerk zu vervollkommnen. Aber wer sich mehrerer Werkzeuge zu bedienen weiß, kann auswählen, mit welchem er die eigene Geschichte erzählt. Manchmal hat man die Qual der Wahl: Eine meiner Erzählungen habe ich zum Beispiel unter merkwürdigen Umständen verloren, bevor sie veröffentlicht werden konnte, aber dann habe ich die gleiche Geschichte zu einem Drehbuch für einen Kurzfilm verarbeitet; heute bin ich mir wiederum nicht sicher, ob die endgültige Form nicht vielleicht die einer Novelle oder eines kurzen Romans sein wird. Die gleiche Geschichte verfolgt mich immer noch.
n.: Neben deiner schriftstellerischen Tätigkeit verfolgst du auch eine wissenschaftliche Schiene; in dieser Arbeit beschäftigst du dich mit dem zeitgenössischen Theater der Balkanländer. Gibt es literarische oder theoretische Schulen, mit denen du dich verstärkt identifizierst?
D.: In meiner wissenschaftlichen Arbeit habe ich mich bisher hauptsächlich mit dem Gebrauch und der Bewertung der Konzepte des Strukturalismus und der Semiotik beschäftigt, was in meiner Studie Narativni strategii vo psihološkiot roman (Narrative Strategien des psychologischen Romans, 2004) kulminierte. Heute ist mir wiederum eine Offenheit gegenüber postkolonialer Kritik sehr wichtig. Diese Interessen erwachsen aus dem Bedürfnis, die Literatur verstehen und eine sich schnell ändernde Welt erklären zu wollen. Kein Ansatz wird allein ausreichen oder allgemein gültig sein, um ein für alle Mal das Geheimnis der Zeit zu ergründen oder Aussagen über die gesellschaftlichen Veränderungen und schließlich über unser Leben zu machen.
n.: Deine Erzählungen in der Sammlung Golemiot kufer sind voll surrealer und traumhafter Momente; so ist die Erzählerin der Geschichte Umetnik na revolucijata (Künstler der Revolution) keine Freundin oder Ehefrau des Protagonisten, sondern, wie wir erst am Ende erfahren, eine kleine Gliederpuppe, die den fanatischen, einsamen Künstler ein Leben lang in seiner Brusttasche begleitet hat; in Sarma erscheint der erniedrigte Erzähler seinem früheren Peiniger im Traum und rächt sich, indem er diesen mit Sauerkrautwickeln erstickt, die in der Zeit seiner politischen Inhaftierung Mittel einer besonderen Demütigung waren. Verrücktheit und Tod spielen auch eine Rolle – gleich in zwei Erzählungen spricht der Protagonist aus dem Grab oder dem Jenseits. Sind das Dimensionen deiner Welt? Oder setzt du diese Ebenen als Stilmittel ein, um die erdbebenhafte Intensität des Systemwechsels mitzuteilen?
D.: Ursprünglich wollte ich die Sammlung Site moi mrtovci (Alle meine Toten) nennen. Das ist ein Vers aus einem meiner Gedichte, der als Motto des Buches dient. In den Erzählungen in Golemiot kufer gibt es fantastische Elemente, und der Tod ist ein geistiger gemeinsamer Nenner aller Figuren. Das hat aber nichts mit schriftstellerischem Exhibitionismus zu tun. Es ist einfach so, dass ich einer Welt, die radikale soziale Umbrüche erlebt, die Möglichkeit geben musste, sich in „umgekehrter Perspektive“ zu äußern. In der Übergangszeit nach Ende des Kalten Krieges, wie auch während aller früheren historischen Umwälzungen, brachen die niedrigsten menschlichen Leidenschaften aus, entblößten sich alle menschlichen Schwächen. Wir können den menschlichen Verfall verurteilen. Gleichwohl dürfen wir den Mechanismus nicht übersehen, der Menschen dazu treibt, eine Ideologie anzunehmen, um sie später zu verraten. Die Darstellung des Unglücks der „Wendegeschädigten“, die in meinen Erzählungen zu Wort kommen, ist schließlich nur ein Versuch, die menschliche Natur im ewigen Spannungsfeld zwischen der Suche nach Glück und dem Tod zu begreifen.
n.: Ja, das merkt man. Auch wenn die Hauptfiguren unglücklich sind, zeugt die Sprache von einem Drang, einem Streben; sie ist reich an Wortspielen, Assonanz und Alliteration. Manchmal wird das bewusst übertrieben, zum Beispiel in der Titelgeschichte der Sammlung, um eine bombastische Figur darzustellen. Aber diese Verspieltheit scheint auch ein generelles Merkmal deiner Erzählungen zu sein. Welche Rolle spielt sie für dich?
D.: Wie gesagt, jeder von uns hat das Bedürfnis, seine eigene Geschichte zu erzählen. Sie offenbart sich aber erst in der Sprache; sie eilt der Sprache nicht voraus, sondern koexistiert in ihr. Daher wandeln wir in der Sprache und versuchen, das Unausdrückbare auszudrücken. Und alles, was wir in diesem sprachlichen Exil entdecken, sind Bruchstücke der Wahrheit, die uns insofern befriedigen können, als dass wir einen Vorgeschmack auf den ultimativen Akt der Erkenntnis bekommen, der sonst Gott vorenthalten ist. Sowohl vor als auch nach James Joyce ist klar, dass Erkenntnismomente, wie auch gute Literatur, nur durch Erforschung der Sprache, durch Verschiebung der Grenzen der gespürten Befriedigung beim Leser, möglich sind. Das ist, versteht sich, eine überaus mühsame Arbeit, die niemals vollendet sein wird.
n.: Welche Aspekte des Lebens im postsozialistischen Mazedonien, seien sie beflügelnde oder hemmende Momente, bewegen dich als Autor am meisten?
D.: Einige Schriftsteller rechtfertigen ihre fehlende Inspiration damit, dass sie den Krieg nicht erlebt haben. Andere wiederum, die den Krieg erleben mussten, behaupten, sie müssten Abstand davon gewinnen, daher schreiben sie über entfernte Zeiten und Räume. Ich möchte gern glauben, dass ich weder der einen, noch der anderen Gruppe angehöre. Ich habe das Glück oder das Unglück, in einer dramatischen Zeit zu leben, in der sich ein Systemwechsel vollzogen hat und Ideale neu bewertet werden; diese Identitätskrise manifestiert sich in widersprüchlichen Formen globaler Vereinheitlichung auf der einen Seite und in zunehmenden sozialen, ethnischen und anderen Konflikten auf der anderen. Mazedonien ist in dieser Hinsicht kein Einzelfall. Die Spezifika seiner Geschichte und Gegenwart liefern mazedonischen Schriftstellern Impulse, sind ihnen aber gleichzeitig eine Last. Ich gehöre nicht zu denen, die vor dieser Wirklichkeit fliehen oder sie durch exotische Parabeln deuten wollen. Unsere Zeit braucht eine authentische Stimme und ich bemühe mich, diese Stimme zu finden.
n.: Die Literaturlandschaft Mazedoniens ist seit über 15 Jahren im Fluss. Neben etablierten Institutionen, wie dem Schriftstellerverband (DPM), dem Mazedonischen PEN-Zentrum und dem traditionellen alljährlichen Poesiefestival in Struga, entstehen neue Formen, die nach der Implosion der öffentlichen Kulturförderung größtenteils aus der Not geboren sind. Es gibt einige literarische Internetzeitschriften, die auch verlegerisch und übersetzerisch aktiv sind, insbesondere Blesok (Glanz) oder die nonkonformistische Margina (Rand). Schriftsteller der jüngeren Generation wie Goce Smilevski und Lidija Dimkovska experimentieren mit neuen Stilrichtungen, andere kopieren aber auch unreflektiert Moden und Modelle aus dem Ausland. Wie schätzt du die aktuelle materielle Situation und die Rahmenbedingungen für Schriftsteller in Mazedonien ein? Gibt es Faktoren, die zu einer Auswanderung führen?
D.: Heute Schriftsteller zu sein, ist etwas anderes als damals im Kommunismus, das ist ganz klar. Meine Vorgänger hatten den Status wichtiger Persönlichkeiten, ihre Werke oder öffentlichen Auftritte fanden ein gesellschaftliches Echo. Egal ob sie Dissidenten oder Apologeten des Regimes waren, hatten sie die Macht, die öffentliche Meinung zu gestalten, und so konnten sie große historische Narrative schaffen. Die Dissidenten ihrerseits wurden im Westen umjubelt und zu Hause unterdrückt. Heute sind mazedonische Schriftsteller zu Hause marginalisiert, aber sie besitzen noch keine Aura ideologischer Märtyrer, um im Westen akzeptiert zu werden. Keiner von ihnen kann vom Schreiben leben und ihr Einfluss ist in der Regel auf isolierte Zielgruppen beschränkt. Dabei verblasst die Aufteilung in West- und Osteuropa und die EU-Integration des Balkans (jenes „unvollständigen Selbsts“, wie Maria Todorova ihn in ihrem Buch Imagining the Balkans nannte) verwischt die letzten Elemente der westlichen Wahrnehmung dieser Region als „exotisch“. So bleiben Schriftsteller, die auf Mazedonisch schrieben, für andere Kulturen relativ unattraktiv und unbekannt. In den letzten fünfzehn Jahren erreichte nur eine verschwindend kleine Zahl von Autoren irgendeinen Erfolg außerhalb Mazedoniens, und noch kleiner ist die Zahl derjenigen, die außerhalb des Landes leben und schreiben. Allein die Übersetzung eines Werkes gilt schon als Erfolg, auch ohne dass das Werk sich einer breiten Rezeption erfreut. Symptomatisch ist auch, dass die Schriftsteller, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht die mazedonische Wirklichkeit thematisieren, sondern sich nach Trends richten und versuchen, dem aktuellen Erwartungshorizont des Auslands zu entsprechen.
n.: Welche Pläne hast du für die Zukunft?
D.: Zur Zeit widme ich mich vor allem der wissenschaftlichen Arbeit. Die Forschung für meine Doktorarbeit an der Universität Nottingham bezieht sich auf die Repräsentation von Balkanidentitäten im Theater der Balkanländer heute. Wer sind wir? Wie sehen wir uns dem Westen und dem Osten gegenüber? Welche Geschichte möchten wir über uns erzählen? Das sind Fragen, die mich sowohl persönlich als auch professionell faszinieren, wie man sich nach dem, was ich bisher gesagt habe, vorstellen kann. Diese intellektuelle Neugierde, wie auch meine Erfahrungen in England, zwängen mir auch neue schriftstellerische Obsessionen auf. Ich stehle mir die Zeit zusammen, so viel ich nur kann, um diesen Schreibauftrag zu erfüllen.
Golemiot kufer (Der große Koffer). Templum. Skopje 2005.
Der große Koffer. Aus dem Mazedonischen von Will Firth. Edition Erata. Leipzig 2008.
Narativni strategii vo psihološkiot roman (Narrative Strategien des psychologischen Romans). Kultura. Skopje 2004.
Sveta ludost (Heilige Manie). Kultura. Skopje 1999.
Luda luna (Der manische Mond). Zumpres. Skopje 1995.
Sedenka so likot (Party mit Bildnis). Klub na pisateli Bitola. Bitola 1991.
Dodovski, Ivan (Hg.): Multikulturalizmot vo Makedonija: model vo nastanuvanje (Multikulturalismus in Mazedonien: Entstehung eines Modells). FIOOM. Skopje 2005.