Identität, Individualität und Immunität biografischer Verläufe, die sich in der politischen und sozialen Willkür des postsowjetischen Russlands eigensinnig verfestigen – mit diesen Kennzeichen neuerer Romane und Filme scheint sich die Postmoderne endgültig zu verabschieden. Zumindest stellen sie eine Spannung zu jener Sinnoffenheit her, die in den letzten Jahrzehnten die ästhetischen Konturen vorgegeben hat. Diesen Grundkonflikt untersucht der von Bettina Lange, Nina Weller und Georg Witte herausgegebene Band Die nicht mehr neuen Menschen. Russische Filme und Romane der Jahrtausendwende. Hervorgegangen ist er aus dem medienvergleichenden Projekt Die nicht mehr neuen Menschen. Fiktionalisierung von Individualität im postsowjetischen russischen Film und Roman, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert und von Georg Witte, dem Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft am Peter-Szondi-Institut der Freien Universität Berlin, geleitet worden ist.
Die Auswahl des analysierten Prosa- und Filmmaterials aus Russland fokussiert eine doppelte Schwelle: Die Zeit nach dem Zerfall der Sowjetunion und die Wende zwischen den Jahrtausenden. Letzteres mag eine pragmatische Entscheidung oder dem Zufall geschuldet sein, dominiert insgesamt doch die Auseinandersetzung mit dem sowjetischen Erbe stärker als eine davon losgelöste Ausrichtung auf die Gestaltung der Zukunft. So interessiert sich Ellen Rutten in ihrem Artikel Post-Communist Sincerity and Sorokin’s Thrilogy (sic) für die Rhetorik der Neuen Aufrichtigkeit(novaja iskrennost’) als einen Diskurs der zeitgenössischen (russischen) Kultur und zeigt am Beispiel von Vladimir Sorokins Trilogija (2002-2005), dass diese Tendenz eine ästhetische, aber auch eine soziale Dimension aufweist und sich mit der postkommunistischen Realität möglichst unmittelbar auseinandersetzt. Sie findet sich auch bei anderen Konzeptualisten (Prigov, Rubinštejn) und lässt sich noch weiter zurück bis zu dem Aufsatz des Kritikers Vladimir Pomerancev Über Aufrichtigkeit in der Literatur von 1953 verfolgen. In Sorokins Blogeinträgen zeichnet sie sich nicht zuletzt durch die Inszeniertheit der authentischen Autorstimme aus und ist mit ihrem Aktualitätsbezug u. a. kommerziell motiviert.
Im Hinblick auf einen poetisch aktiv mitbestimmten, prospektiven Entwurf lässt sich Oleg Jur’evs utopischer Roman Vineta (Die Russische Fracht) interpretieren. Miriam Finkelstein und Nina Weller betrachten ihn als ein Reservoir an mythopoetischen Dekonstruktionen und Neukonstruktionen russisch-jüdischer Identität – eine wichtige, da ergänzende Sicht zu den Rezensionen der deutschen Übersetzung des Romans, die dem jüdischen Aspekt des verschlungenen Narrativs wenig Beachtung schenken. Der russisch-jüdische Protagonist, der eine Dissertation über die Spiegelung von Sankt Petersburg und Vineta schreibt, betreibt auf einem Kühlschiff in der Ostsee nicht nur eine beinah literaturwissenschaftlich anmutende Überdeterminierung des Reise-Sujets, sondern auch biografisch-poetische Selbstanalyse. Der Roman erschaffe einen anderen „neuen Menschen“: Der Protagonist vervollständigt sein lückenhaftes Wissen über sich selbst mit Hilfe von Mitreisenden aus seiner Vergangenheit bzw. seiner Imagination. Auf diese Weise gelingt es ihm, seine Lebensgeschichte sinnstiftend zusammenzusetzen. Der Grundtenor der Autorinnen hebt hervor, dass der Roman, anstatt die Vergangenheit sowjetischer/russischer Juden zu beklagen, ihre positive – kohärente – Zukunft vorschlägt.
Während der Titel des Bandes nur Literatur und Film ankündigt, wird bei der Lektüre ersichtlich, dass ein weiteres Medium diesen künstlerischen Übergangszustand kennzeichnet: Das Internet. Henrike Schmidt geht in ihrem Beitrag Ein Jahr im Leben des Evgenij Griškovec’. Rubaška (Das Hemd) auf die Druckfassung des Blogs God žžizni (Ein Jahr LLeben, 2008) ein, welche ungeachtet des Vorwurfs der Graphomanie grosse Popularität geniesst und Folgebände nach sich gezogen hat. Die Gattung Blog eignet sich für digitale Autor-Inszenierungen – in Mystifikationen (so bei Boris Akunin und Viktor Pelevin) oder auch in der Pose der inszenierten Authentizität (Alexandra Marinina, Sergej Luk’janenko). Das Blog, so Schmidt, ist als Milieu-Dokument für die zeitgenössische Literatur deshalb so wichtig, weil es den empirischen Autor mit seiner selbst erschaffenen Aura und den zur Schau gestellten, quasi ‚natürlichen’ Affekten in den Vordergrund rückt und damit jener Fragmentierung und Verspieltheit entgegen setzt, die die russische Literatur der letzten Jahrzehnte geprägt hat. Die Autorin weist darauf hin, dass eine Wende zum Empirischen und Authentischen hin nicht nur den Autor betrifft, sondern auch den Leser, der in die kollektive Privatheit des Bloggers einbezogen wird.
In dem Essay Ernst als Spiel oder Helden der Nuller Jahre: Evgenij Griškovec’ Rubaška (Das Hemd) betrachtet Christine Gölz den Roman Rubaška als repräsentativ für die Literatur der Nuller Jahre. Ihr Artikel übt explizitKritik gegenüber „Erwartungen an die Literatur einer neuen, ernsthaften Empfindsamkeit mit Hilfe eines als n o r m a l bezeichneten und, wie sich zeigen wird, gerade darin beschränkten Helden zu Beginn des 21. Jahrhunderts“ und ihrer literarischen Einlösung in der Konstruktion eines „normalen“ Helden innerhalb der so genannten „Middl-literatura“. Diese steht zwischen der elitären Hochliteratur und der populären Unterhaltungsliteratur und ist als „Neue Aufrichtigkeit light“ (Gölz) den Radikalen Realisten entgegengesetzt. Der „normale Mensch“ wird als ein männlicher Großstadttypus modelliert, der den „Ernst des Gefühls“ feiere und, so die Literaturwissenschaftlerin, als Benimmbuch für den Szene-Mann der glamourösen Megapolis dienen könne.
In ihren Lektüren interessieren sich die AutorenInnen des Bandes immer wieder für die Protagonisten, so z. B. für den Typus des „kleinen Mannes“, des Pilgers, Wanderers – des strannik und Narren in Christo (jurodivyj). Auf diese Figurentypen fokussiert sich besonders stark Svetlana Sirotininas und Nina Wellers Artikel Heimatsuche und Raumaneignung bei Aleksandr Iličevskij und Aleksej Ivanov. Entwurzelung, soziale Entfremdung und der Topos der Russlandreise dienen der Heimataneignung und Ich-Konfiguration. Die beiden Romane haben gemeinsam, dass sie die Selbstsuche in den Imaginationsräumen naturhafter, urbaner und mythisch-transzendenter Landschaften ausprobieren. Zusammengefasst heisst es: „Bei aller Unterschiedlichkeit zwischen Iličevskijs metaphorischer, stark mäandernder und Ivanovs realistischer und überwiegend linearer Erzählweise stehen beide Romane für eine in der russischen Literatur der Nuller Jahre verstärkt in Erscheinung tretende Suche nach neuen chronotopischen Formen der Existenz, welche sich hier in der ‚Antihaltung’ der Protagonisten gegenüber konventionellen gesellschaftlichen Vorstellungen eines ‚erfolgreichen’ Lebenslaufs artikuliert, ohne dass teleologische Entwicklungssujets der ‚Sinnsuche’ gänzlich aufgegeben würden.“
Beide Romane knüpfen an die romantische Tradition an. Ivanov spiegelt in den Naturschilderungen das Seelenleben des Helden. Dessen poetisch-imaginative Interaktionen mit dem Heimatraum beleben örtliche Mythen wieder. Iličevskij verwendet die Landschaft als erkenntnistheoretische Schlüsselkategorie. Ihre Wahrnehmung generiert die raum- und gedankenstrukturierende Poetik eines ‚neuen’, hochgradig subjektiven, ästhetisierten und spirituellen Sehens. Die Autorinnen gelangen zu dem Schluss, dass die Protagonisten beider Romane nicht als individuelle Charaktere hervortreten, sondern ‚romantisch-eskapistische’ Aussenseitertypen ohne kritische Brechungsmomente bleiben.
Die Beiträge haben gemeinsam, dass sie sich jeweils einem oder zwei Werken widmen. Diese deskriptiven, komparatistischen und anschaulichen Analysen entstehen aus einer Perspektive, die von der postmodernen Theorie stark geprägt ist. Die Lektüren suchen offenbar – im Kontrast zu ihrem Gegenstand – nicht nach neuen methodischen Ansätzen, um der beobachteten Ablösung von konsensfähig gewordenen Verfahren gerecht zu werden. Die Kommentare diagnostizieren Sujets, die auf persönliche Rede und subjektive Innerlichkeit setzen, die existentielle Erfahrungsdimension aktivieren und von der Identitäts-, Sinn-, Glücks- und Heimatsuche bestimmt sind. Methodisch dominieren genrenahe und kontextualisierte Analysen. So geht Bettina Lange in Neue Russen zweiter Klasse: Genre und Identität in Kira Muratovas Vtorostepennye ljudi (Menschen zweiter Klasse) der These nach, dass in Muratovas Film über dysfunktionale Elemente kriminalfilmtypischer narrativer Muster und über eine heterogene Erzählstruktur Identitätsmodelle in der postsowjetischen Zeit verhandelt werden.
Barbara Wurm stellt in Simulanten des Zauderns. Verweigerungs-Figuren in Aleksej Popogrebskijs Prostye vešči (Simple things) und Kak ja provel ėtim letom (How I Ended this Summer) fest, dass Filme unter dem Produktionslabel „Koktebel Film Company“ ein Erfolgsmodell der Nuller Jahre sind, da sie zwischen dem radikal ästhetisiertem Autorenfilm und dem konventionellen Genrekino eine Alternative bieten, eine Balance zwischen trauriger Komödie und ironischer Tragödie halten und mit konstruierter Inkonsequenz spielen. Typisch für diese Filme sei, dass in die Routine des Alltags mit einem Mal ein Moment der Unterbrechung, des Innehaltens und Nachdenkens einbricht. Die Autorin spürt dabei vier nicht-postmoderne Kontextualisierungen auf: Die Tradition des russischen Romans, a-teleologisches Erzählen und Kontingenz, eine am Dokumentarischen orientierte Alltagspoetik und das sowjetische Kino der „signs of the everyday“.
Besonders überzeugend sticht an dem Band hervor, dass sich die meisten Artikel an einem close reading anlehnen und vor dem Hintergrund zeitgenössischen künstlerischen Geschehens feinfühlige Beobachtungen der jeweiligen ästhetischen Spezifik vornehmen, ohne sie allzu generalisierend einzuordnen. Zugleich wären zwischendurch mutigere Thesen und Ableitungen der post-postmodernen Charakteristika wünschenswert. Wenn die Beiträge wiederholt darauf verweisen, dass Erfahrungen von Kontingenz und Unsicherheit vor allem Offenheit, Kreativität und einen positiven Möglichkeitsraum suggerieren (so der Einleitungsartikel der HerausgeberInnen) und transitorische Ich-Entwürfe innovativ seien (so Eva Hausbacher in ihrem Beitrag Seelenoptik. Marija Rybakovas Briefroman Anna Grom i ee prizrak (Die Reise der Anna Grom), so entsteht der Eindruck, dass sie erneut die – mittlerweile mehr neoliberale als postmoderne – Forderung nach Flexibilität, der Lust an Unbestimmtheit und Nichtfestlegung bei den Lebensentwürfen erheben und demgegenüber die Mittel und Motive im Umfeld des „neuen Realismus“ als unterkomplex und anachronistisch abtun. Insgesamt werfen die Lektüren die Frage auf, ob nicht sie es sind, die einem gewissen Anachronismus unterliegen, wenn sie Werke und Autoren, die mitunter bewusst die Postmoderne überwinden, auf ihre immer noch andauernde Postmodernität, die Zerrissenheit ihrer Figuren und die Ambivalenz ihrer Erzählformen hin lesen, anstatt sich ihnen mit neuen theoretischen Impulsen zu stellen.
Einerseits ignorieren dem Grundtenor der Interpretationen nach die Selbstkonzeptionen der Protagonisten in den besprochenen Werken die sowjetische Utopie des „neuen Menschen“ und dessen Folie des sozialistischen Realismus. Andererseits diagnostizieren mehrere Beiträge ein Erzählen, das sich um einen engagierten, gesellschaftskritischen Realismus und Entwicklungsgeschichten bemüht, persönliche Befindlichkeiten akzentuiert, den Alltag ins Zentrum rückt und sich doch um die Etablierung eines neuen, wenngleich unsowjetischen Menschentypus dreht. Dabei kann offenbar kaum etwas die gewohnt gewordene Ausdrucks- und Abbildungsskepsis der WissenschaftlerInnen mehr provozieren als die Authentizität, die das Primärmaterial immer wieder zu vermitteln versucht. Auch wenn das textnahe Beobachten dessen, wie die Noch- und Nicht-Mehr-Postmoderne sich ästhetisch transformiert, den Tiefenanalysen bestens gelingt, bleibt insgesamt der Eindruck, dass es darüber hinaus interessant gewesen wäre, es zu wagen, anhand von exemplarischen Werken den Anbruch der post-postmodernen Epoche genauer zu definieren.
Bettina Lange, Nina Weller, Georg Witte (Hrsg.): Die nicht mehr neuen Menschen. Russische Filme und Romane der Jahrtausendwende. Verlag Otto Sagner, München u. a. 2012.