Ivo Andrić – Eurozentrist und Heilige Kuh

Ein Interview mit Esad Duraković, Professor für Orientalistik an der Philosophischen Fakultät der Universität Sarajevo

novinki: Welchen Platz hat Ivo Andrić heute in Bosnien-Herzegowina?

Esad Duraković: Bosnien ist heute hoffnungslos und tragisch geteilt, in jeder Hinsicht, so auch in Bezug auf Andrić. Man kann also nicht behaupten, dass es einen einheitlichen Standpunkt zu Andrićs Stellung in unserer Kultur und Literaturgeschichte gibt. Die serbischen Leser rezipieren Andrićs Werke ausgesprochen zustimmend und unkritisch. Ein Teil der Bosniaken rezipiert dieses Œuvre ganz anders, kritischer, vom Standpunkt der postkolonialen Kritik. Zu solchen Rezipienten von Andrićs Werk zähle auch ich. Ich bin der Ansicht, dass Andrić ein guter Schriftsteller ist, aber ich halte es ebenfalls für notwendig, die ideologisierten Aspekte seiner Kunst sowie die ideologisch-politische Rezeption bei den Serben zu beleuchten.

n.: Andrić hat sich vor allem mit Bosnien beschäftigt. Was für ein Bosnien schildert er? Wo findet man da die ideologisierten Aspekte, von denen Sie sprechen?

E.D.: Das Problem mit Andrićs Werk besteht eben darin, dass er Bosniens kulturelle Vielfalt nicht affirmativ betrachtet, er sieht keine Möglichkeit der gegenseitigen kulturellen Befruchtung, sondern er bezieht die Position einer hoffnungslosen Unversöhnlichkeit. Da liegt das Problem.

n.: Unversöhnlichkeit zwischen was?

E.D.: Zwischen zwei Kulturkreisen, dem christlichen oder judäo-christlichen und dem orientalisch-islamischen. In dieser Hinsicht sehe ich Andrićs Werk im Kontext der Ideologie des Eurozentrismus. Meiner Meinung nach eignet sich dieses Werk geradezu dafür, dass man es durch die Brille von Saids Orientalismus liest. Andrić ist ein Literat, ein Künstler, und Kunst lässt sich nie restlos auf Faktographie reduzieren, doch kann man sie auch nicht als etwas betrachten, was gar keine Beziehung zur Wirklichkeit hat. Meiner tiefen Überzeugung nach schildert Andrić in seinem Werk die gesamte orientalisch-islamische bzw. bosniakisch-muslimische Welt sehr negativ – eine ganze Kultur. Das Problem liegt in der Verallgemeinerung. Es handelt sich nicht um eine oder zwei Figuren, sondern um die negative Darstellung einer ganzen Kultur. Das ist das Wesentliche. Diese Kultur betrachtet er – in der Sprache der postkolonialen Kritik gesprochen – als das Andere, als etwas, was gegensätzlich ist, was sich nicht in die europäische Kultur integrieren lässt, etwas, was im Grunde also feindlich ist. Darin liegt die ideologische Kontaminierung dieses Werks.

n.: Würden Sie denjenigen recht geben, die behaupten, dass Andrić die Absicht hatte, den Hass gegenüber den Muslimen zu schüren? Manche Stimmen behaupten, dass sich Andrić – würde er heute leben – vor dem Gerichtstribunal in Den Haag verantworten müsste.

E.D.: Selbstverständlich würde ich nie so weit gehen, denn die Kunst ist souverän. Für ein sogenanntes Verbaldelikt kann man meines Erachtens nicht zur Rechenschaft gezogen werden, insbesondere nicht für Romane oder überhaupt für Kunstwerke. Was wir aber tun müssen, das ist: die Kunstwerke kritisch lesen. Und wir sollten nicht überempfindlich reagieren, wenn man – wie das hier der Fall ist – Andrićs Werk anders liest. Im ehemaligen Jugoslawien war Andrić ein staatsoffizieller Schriftsteller, eine heilige Kuh. Niemand durfte etwas Negatives über ihn sagen. Ich erfahre auch heutzutage, wenn ich etwas Kritisches über seine Literatur sage, außerordentlich große Unannehmlichkeiten. Was für Absichten Andrić verfolgte, ob er den Hass zwischen den Völkern schüren wollte, das weiß ich nicht und möchte darüber nicht urteilen. Seine Absichten behielt er für sich; wir hingegen haben es mit seinem Werk zu tun und mit der Tatsache, dass dieses Werk seit dem Krieg in Bosnien-Herzegowina sehr stark in die Politik involviert ist. Vor nicht allzu langer Zeit hörte ich im Fernsehen einen sehr hoch gestellten Politiker aus der Republika Srpska sagen, man müsse Ivo Andrić lesen, um zu begreifen, warum es zum Krieg in Bosnien-Herzegowina kam und was für Menschen die Bosniaken sind. Radovan Karadžić brachte den Brief aus dem Jahre 1920 (Pismo iz 1920. godine) sogar zu Verhandlungen mit den Westlern mit, und es ist bekannt, dass den Vertretern der Vereinten Nationen Exemplare der Romane Die Brücke über die Drina (Na Drini ćuprija) und Wesire und Konsuln (Travnička hronika) überreicht wurden, um sie über die Verhältnisse in Bosnien zu informieren bzw. um das, was man dort tat, zu rechtfertigen. Über die Absichten von Ivo Andrić kann ich also nicht urteilen, aber ich kann etwas zur Einbeziehung seines Werks in die politischen Ereignisse in Bosnien-Herzegowina sagen. Sein Werk ist objektiv gesehen in die negativen Prozesse des Eurozentrismus einbezogen worden, unter dem ich – sehr grob gesprochen – eine Hegemonie europäischer Ideen, Vorurteile und Vorstellungen über den Islam und den Orient verstehe. Aber von Den Haag kann dabei keine Rede sein.

n.: Wie kann es denn dann sein, dass ein solcher Andrić in Titos Jugoslawien, das sich die Brüderlichkeit und Einheit zwischen den Nationen auf die Fahnen geschrieben hatte, als heilige Kuh behandelt wurde? Ist die ideologische Grundlage seines Werks also niemandem aufgefallen?

E.D.: Im kommunistischen Jugoslawien war Andrić, wie gesagt, ein offizieller Schriftsteller. Sein Werk zählte zum Kanon. Er war unantastbar. Interessant ist, dass in diesem Jugoslawien nie öffentlich erklärt wurde, wieso er die gesamte Zeit der deutschen Besatzung in der Prizrenska-Straße in Belgrad verbrachte, wo man darauf aufpasste, dass er von niemandem belästigt wurde. Dort hat er Die Brücke über die Drina und Wesire und Konsuln geschrieben. Und wir wissen, welche Erfahrungen Jugoslawien mit dem deutschen Nationalsozialismus gemacht hatte. Darüber hinaus ist bekannt, dass Ivo Andrić es zeit seines Lebens nicht erlaubte, seine Dissertation – in der wir die ideologische Plattform all seiner späteren Kunstwerke finden – zu veröffentlichen. Es ist offensichtlich, dass das Regime ihn schützte, und einer der Gründe dafür ist gerade sein eurozentrisches Verhältnis zur islamischen Welt.

n.: Wie erklären Sie sich die Tatsache, dass Andrić den Nobelpreis bekam?

E.D.: Ich sprach vom Eurozentrismus, Edward Said nennt es Orientalismus, wobei die beiden Begriffe nicht vollkommen identisch sind, aber diese „-ismen“ werden gerade durch die höchste Auszeichnung des Nobelpreises zu einer Einheit. Vor allem wegen der Brücke über die Drina und der Wesire und Konsuln wurde Andrić mit diesem höchsten Literaturpreis ausgezeichnet. Das bedeutet, dass das schwedische Komitee und somit die Träger der europäischen Rezeption sein Verhältnis gegenüber der orientalisch-islamischen Welt förderten. Zweifelsohne wird ein Nobelpreis nicht aufs Geratewohl vergeben und wenn man ihn einem Œuvre zuspricht, das ausgesprochen ideologisch kontaminiert ist, dann steckt darin eine Botschaft.

n.: Gab es zu jugoslawischen Zeiten unter Bosniaken Diskussionen über Andrić? Wie lasen muslimische Schüler und Studenten sein Werk?

E.D.: Soweit mir bekannt ist, gab es in der Öffentlichkeit keine Diskussionen, aber ich weiß, dass bosniakische oder damals muslimische Leser negativ auf seine Literatur reagierten. Man hat das Werk Ivo Andrićs kritisch gelesen, allerdings konspirativ. Das war ausgeprägt, spielte sich aber im Untergrund ab. Das Werk von Schriftstellern wie Ivo Andrić, er ist kein Einzelfall, wirkte auf zwei Ebenen. Auf einer Ebene – Kunst ist ja sehr suggestiv – rief es bei den Serben in Bosnien-Herzegowina das Gefühl der Überlegenheit hervor. Auf der anderen Seite fühlten sich die Bosniaken gesellschaftlich herabgesetzt, an den Rand gedrängt. Mir ging es auch so, und anderen, wie ich aus Gesprächen weiß, ebenfalls. Durch Andrićs Werk wird den Bosniaken das Gefühl einer kollektiven historischen Schuld vermittelt. Und darin liegt das Problem.

n.: Soll man Andrić heute an den Schulen lesen?

E.D.: Ich bin dagegen, dass man irgendeinen Schriftsteller vertreibt, also sollte man auch Andrić nicht vertreiben, aber ich bin dafür, dass man Lehrern wie Schülern beibringt, wie man ein literarisches Werk kritisch liest. Ich bin generell dagegen, dass man literarische Werke, egal um was es geht, wie Heiligtümer behandelt. Als Literaturprofessor habe ich das Recht auf meine eigene Interpretation. Auf diesem Recht bestehe ich, auch darauf, dass man mich nicht anprangert, weil ich kritisch über Ivo Andrić rede. Es gibt Bosniaken, die Andrić gern aus den Städten – es geht um die nach ihm benannten Straßen – und aus den Curricula vertreiben würden. Nein, dafür bin ich keinesfalls, ich betone, dass Andrić ein guter Schriftsteller ist, und zwar nicht nur ein bosnischer und bosniakischer, sondern auch ein serbischer. Er ist ein bosnischer, ein bosniakischer, aber auch ein kroatischer Schriftsteller. Als Wissenschaftler kann ich mich nicht von Gefühlen leiten lassen und sagen, er gehört uns nicht und für ihn ist kein Platz in den Curricula. Nein, man muss ihn studieren, jedoch kritisch.

n.: Wie erklären Sie Andrićs Verwandlung vom Beamten des Königreichs in eine – wie Sie sagen – „heilige Kuh“ von Titos Jugoslawien?

E.D.: Darüber haben viele geschrieben. Diese Fakten müssen nicht notwendigerweise einen großen Einfluss auf sein literarisches Werk ausüben, das wir immanent betrachten sollten. Andrić arbeitete als Diplomat in Hitler-Deutschland, verbrachte die Besatzung in Belgrad, um dann – als großer Konformist und Mann, der sehr viel Wert auf gesellschaftliche Anerkennung legte – eine ganz andere Platte aufzulegen. Er wurde sogar Mitglied der Kommunistischen Partei. Offenbar geht es also um einen Menschen, der sich bei allen Regimes einzuschmeicheln verstand, von Hitler bis Tito, der seiner persönlichen Bequemlichkeit wegen in allen Wassern schwimmen konnte. Eine wesentliche Sache ist gleichwohl die, dass die Deutung seines Werks vom Standpunkt postkolonialer Kritik heute besonders aktuell wird, wo die westlich-christliche Kultur und die islamische Kultur in einen immer schärferen Konflikt geraten, wo auf der einen Seite in den europäischen Ländern die Islamophobie, auf der anderen Seite die Al-Qaida und die Talibans erstarken. Andrićs Werk muss auch in diesem Kontext gelesen werden. Umso mehr muss man Menschen ausbilden, die dieses Werk richtig verstehen werden, statt es aus den Schulen zu vertreiben. Andrić ist heute besonders aktuell.

n.: Auch ein Anders Breivik beruft sich in seinem „Manifest“ ja auf Ivo Andrić.

E.D.: Es besteht kein Zweifel daran, dass die Kultur bei der Konfrontation der Kulturkreise, des westlichen, d.h. des judäo-christlichen, und des orientalisch-islamischen, missbraucht wird. Meiner Meinung nach haben Kultur und Kunst da nichts zu suchen, denn ihrem Wesen nach gehen sie keine Konflikte ein. Wahrhaftige, authentische Kunstwerke fördern vielmehr Prozesse der Integration zwischen Völkern und Kulturen. Was hat die orientalisch-islamische Kultur für Europa getan? Sie verhalf Europa zur Renaissance, denn sie übermittelte die antike griechische Kultur usw.

n.: Aber Ivo Andrić konnte dem multikulturellen Bosnien nichts abgewinnen?

E.D.: Genau, davon kann keine Rede sein. Ivo Andrić ist ein Schriftsteller, der in seinem gesamten Œuvre, angefangen bei der Dissertation bis zu seinen literarischen Werken, eigentlich postuliert hat, dass die orientalisch-islamische Kultur – einschließlich der muslimischen in Bosnien-Herzegowina – in ihrem Kern dekadent und anarchisch sei. Er stellte sie als anpassungsunfähig dar, als unfähig, den Anschluss an den europäischen Geist und die europäische Kultur zu finden, als schädlich und vom Absterben bedroht.

Das Interview führten Ksenija Cvetković-Sander und Martin Sander.

Übersetzung von Ksenija Cvetković-Sander

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