Redak­tion „novinki“

Hum­boldt-Uni­ver­sität zu Berlin
Sprach- und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­liche Fakultät
Institut für Slawistik
Unter den Linden 6
10099 Berlin

Kroa­tien hat Andrić seine jugo­sla­wi­sche Gesin­nung nicht verziehen

Inter­view mit Krešimir Nemec, Pro­fessor für kroa­ti­sche Lite­ratur an der Phi­lo­so­phi­schen Fakultät der Uni­ver­sität Zagreb

novinki: Anläss­lich des 50. Jubi­läums des Nobel­preises von Ivo Andrić setzten Sie sich dafür ein, Andrićs Werke in Zagreb neu zu dru­cken. Wie weit sind Sie in Ihrem Vor­haben gekommen?

Krešimir Nemec: Im August 2010 habe ich der Kul­tur­or­ga­ni­sa­tion Matica hrvatska den Vor­schlag über­sandt, in der exklu­siven Edi­tion „Jahr­hun­derte kroa­ti­scher Lite­ratur“ aus­ge­wählte Werke von Ivo Andrić in drei Bänden zu dru­cken. Bis­lang habe ich keine Ant­wort erhalten. Ich fürchte, dass die Gele­gen­heit, diese Werke in diesem Jahr zu dru­cken, in dem der 50. Jah­restag der Ver­lei­hung des Nobel­preises an Ivo Andrić gefeiert wird, ver­säumt worden ist. Meines Erach­tens hat man in Kroa­tien nichts unter­nommen, um dieses Jubi­läum zu begehen.

n.: Wie erklären Sie sich, dass es keine Reak­tion auf Ihren Vor­schlag gab?

K.N.: Mir per­sön­lich fällt die Erklä­rung schwer. In Kroa­tien gibt es Berüh­rungs­ängste in Bezug auf Andrić, die grundlos sind. Andrić ist zwei­fellos ein Schrift­steller, der auch zur kroa­ti­schen Lite­ratur gehört, nicht nur zur kroa­ti­schen, aber auch zur kroa­ti­schen. Doch seine unita­ris­ti­sche jugo­sla­wi­sche Gesin­nung wird ihm hier nicht ver­ziehen. Man­chen wurde diese Gesin­nung ver­ziehen. Ich weiß nicht, nach wel­chen Kri­te­rien ver­ziehen oder nicht ver­ziehen wird. Ivan Meš­trović etwa ist von diesem Delikt exkul­piert worden, Andrić nicht. Andrićs Werke werden in Zagreb nicht ver­öf­fent­licht oder sehr selten. Es gibt keine Straßen, die nach ihm heißen, es gibt eine Abwehr gegen­über Ivo Andrić in Kroatien.

n.: Inwie­fern hielt sich Andrić selbst für einen kroa­ti­schen Schriftsteller?

K.N.: Andrić hielt sich für einen jugo­sla­wi­schen Schrift­steller. Eine der wenigen Ein­stel­lungen, denen er treu blieb, ist seine jugo­sla­wi­sche Gesin­nung. Von der Bewe­gung Mlada Bosna (Junges Bos­nien), als er poli­tisch aktiv wurde, bis zu seinem Tod ver­tei­digte er die jugo­sla­wi­sche Idee. Er hielt Serben und Kroaten für zwei Stämme ein und des­selben Volkes, darauf bestand er sein Leben lang. Sich selbst sah er nicht als Mit­glied eines der jugo­sla­wi­schen Stämme, son­dern als Ange­hö­rigen eines inte­gralen jugo­sla­wi­schen Volkes, falls so etwas exis­tiert haben sollte. Auf jeden Fall gab es ja Ver­suche, ein sol­ches Volk zu schaffen. Andrić hat nie gesagt, er sei ein ser­bi­scher Schrift­steller, nie, diese Aus­sage gibt es nicht, trotz aller Suche man­cher ser­bi­scher Lite­ra­tur­his­to­riker. Eben­falls lässt sich keine aus­drück­liche Erklä­rung finden, er sei ein kroa­ti­scher Schrift­steller. Er sagte, er sei Jugo­slawe und ein jugo­sla­wi­scher Schrift­steller – und blieb dabei. Das Kroa­tentum aus ihm her­aus­zu­drängen, was man in Bel­grad tut, ist eine frucht­lose Ange­le­gen­heit, genauso wie der Ver­such in Kroa­tien unsinnig ist, sein Jugo­sla­wentum vom Tisch zu wischen, denn das Jugo­sla­wentum ist auch ein Teil der kroa­ti­schen Identität.

n.: Die bos­nia­ki­sche Seite beschäf­tigt sich nicht so sehr mit der Frage, wel­cher Lite­ratur Andrić zuzu­rechnen ist, son­dern mit den poli­ti­schen Bot­schaften seines Werkes. Man wirft ihm vor, den Hass gegen­über den Mus­limen geschürt zu haben. Ist da aus Ihrer Sicht etwas Wahres dran?

K.N.: So wie es in kroa­ti­schen Kreisen eine Abwehr gegen Andrić gibt, so wurde in bos­nia­ki­schen, mus­li­mi­schen Kreisen ein ideo­lo­gi­sches Pro­jekt der soge­nannten Isla­mo­phobie von Andrić kon­stru­iert, für die keine Anhalts­punkte in seinen Werken spre­chen. Andrić war nicht isla­mo­phob. Abzu­wägen, wie viele unter seinen posi­tiven Helden katho­lisch oder orthodox und wie viele mus­li­misch sind, führt zu nichts. Wir können nicht behaupten, dass 25,6% der posi­tiven Helden Katho­liken seien und so und so viele Mus­lime. Das stimmt nicht. Ins­be­son­dere nach dem Krieg machte sich diese Ten­denz bemerkbar, auch wenn schon davor solche Ver­suche unter­nommen worden waren. Muhsin Rizvić, Esad Dura­ković und andere bos­nia­ki­sche Intel­lek­tu­elle stellten Andrić als Isla­mo­phoben vor. Die Basis dafür machen sie in dessen Grazer Dis­ser­ta­tion aus, in der er von einer natür­li­chen Ori­en­tie­rung Bos­niens nach Westen spricht sowie dar­über, dass der Ein­bruch der Türken die Brücke zum Westen zer­stört habe. Nun, da geht es um eine kul­tur­wis­sen­schaft­liche Theorie, um eine Dis­ser­ta­tion. Seine fik­tio­nalen Texte berech­tigen indes keine Inter­pre­ta­tion Andrićs als Isla­mo­phoben. Dort kommen viele posi­tive mus­li­mi­sche Figuren vor, es gibt dort negativ gezeich­nete bos­ni­sche Frater, nega­tive Figuren unter den Serben. Das ist alles mit­ein­ander ver­mischt. Ich will nicht behaupten, dass es gleich­mäßig ver­teilt ist, denn ich habe die Figuren in diesem Sinne nicht berechnet. Man hat aber in den bos­nia­ki­schen Gegenden vor dem Hin­ter­grund dieser Inter­pre­ta­tionen Ivo-Andrić-Straßen und alles, was nach ihm benannt wurde, ein­fach abgeschafft.

n.: Wie hat Andrić die Kroaten dargestellt?

K.N.: Er war von den bos­ni­schen Fra­tern besessen. Wenn man sie sich genauer anschaut, stellt man fest, dass er sie nicht idea­li­sierte, son­dern sie viel­mehr oft mit ihren schlechten Seiten dar­stellte. Einer war faul, der andere aß und trank über­mäßig, also kei­nes­wegs ein­seitig. In Omer-Pascha Latas (Omer­paša Latas) ist Vje­koslav Karas, ein Kroate, die eigent­liche Haupt­figur. An einigen Stellen im Roman heißt es, Karas erwi­derte auf Kroa­tisch. Andrić hatte also kein Pro­blem mit den Kroaten, obwohl er Grund gehabt hätte, Vor­be­halte gegen Zagreb und Kroa­tien zu haben.

n.: Warum?

K.N.: Weil er hier keine Unter­stüt­zung bekam, er litt Hunger in Zagreb. Gerade kon­sti­tu­iert sich der neue Staat, das König­reich der Serben, Kroaten und Slo­wenen, das er ersehnte, er kämpfte ja für die Ver­ei­ni­gung der Süd­slawen. Bel­grad wurde zur Haupt­stadt des neuen Staates, viele Insti­tu­tionen und Intel­lek­tu­elle zogen dahin. Andrić hat sofort begriffen, dass er im neuen Staat als Kroate keine große Kar­riere machen würde und begann, sein Jugo­sla­wentum sozu­sagen zu ver­werten. Er wollte in die Diplo­matie. Das war eine für die Serben reser­vierte Domäne. Auf­grund seiner jugo­sla­wi­schen Gesin­nung gelang es Andrić, sich Zutritt zur Diplo­matie zu ver­schaffen. Er liebte das bequeme Leben, die Sicher­heit, was man ihm nicht übel­nehmen kann. Wer liebt das nicht? Er ent­schied sich also für Bel­grad der Kar­riere wegen. Es gibt Theo­rien, dass er sich in Zagreb vor dem Schatten von Miroslav Krleža fürch­tete. 1919, als Andrić Zagreb ver­ließ, hatte Krleža bereits einige Bücher ver­öf­fent­licht und große Erfolge gefeiert. Meines Erach­tens stimmt diese Theorie nicht, Andrić hatte keinen Grund, Angst vor Krleža zu haben, geschweige denn, dass dies der Haupt­grund gewesen wäre, Zagreb den Rücken zu kehren.

n.: Warum wird Andrić in Kroa­tien nicht von der „Sünde“ los­ge­spro­chen, Jugo­slawe gewesen zu sein? Wem wurde das Jugo­sla­wentum verziehen?

K.N.: Sehen Sie, man kann doch nicht allen Ernstes behaupten, dass Franjo Tuđman zu keiner Zeit ein Jugo­slawe gewesen wäre. Oder Josip Broz Tito. Ivan Meš­trović, Ivo Voj­nović, Vla­dimir Čerina, eine Zeit­lang Tin Ujević. Das Jugo­sla­wentum ist ein Bestand­teil der kroa­ti­schen Iden­tität. Die jugo­sla­wi­sche Idee ist ja in Kroa­tien ent­standen, nicht in Ser­bien, nur haben die Serben sie als Teil ihres Pro­jektes ange­nommen. Denken wir an Lju­devit Gaj, an Josip Juraj Stross­mayer, an die ganzen Illyrer. Bis Ante Starčević auf der poli­ti­schen Szene erschien, war diese Idee dominant.

n.: Wird man in Kroa­tien in Zukunft aner­kennen, dass das Jugo­sla­wentum eine Säule der kroa­ti­schen Iden­tität dar­stellt? Erwarten Sie mit anderen Worten eine Wende in der Rezep­tion von Ivo Andrić in Kroatien?

K.N.: Die erste Frage ist schwer zu beant­worten. Ich hoffe es, ich denke, man wird das Jugo­sla­wentum als Bestand­teil der kroa­ti­schen Iden­tität aner­kennen müssen. Da wird es aber viele Hin­der­nisse und viele Gegner geben. Ich selbst bin übri­gens auch kein großer Befür­worter der jugo­sla­wi­schen Gesin­nung. Dieser Gedanke wird nur sehr langsam in das Bewusst­sein der gewöhn­li­chen Men­schen ein­dringen, aber es wird dazu kommen müssen. Ob sich dadurch der Status von Ivo Andrić in der kroa­ti­schen Lite­ratur ver­än­dert, bleibt eine offene Frage. Andrić hat einmal gesagt, ich gehöre denen, die mich haben wollen. Wenn man ihn in Kroa­tien nicht haben möchte, wenn man ihn nicht liest, wenn man ihn nicht stu­diert, wenn man ihn nicht publi­ziert, wenn man keine Straßen nach ihm benennt, wenn man keine Aus­stel­lungen über ihn orga­ni­siert, dann ist er, fürchte ich, für die kroa­ti­sche Lite­ratur ver­loren. Für mich wäre das total inak­zep­tabel. Solange ich lebe, werde ich die Idee ver­tei­digen, dass Ivo Andrić auch ein kroa­ti­scher Schrift­steller ist.

Das Inter­view führten Kse­nija Cvet­ković-Sander und Martin Sander.
Über­set­zung von Kse­nija Cvetković-Sander