

„Instrumente für eine neue Anthropologie“
Igor’ Sid (Sidorenko) ist als Kurator und Essayist bekannt geworden, vor allem durch die Popularisierung des Begriffs Geopoetik. Seine Essays decken ein breites Themenspektrum ab: vom Terrorismus über das utopische Bewusstsein bis zur biologischen Kehrseite des Menschen (http://www.russ.ru/avtory/Sid-Igor). Zu seinen wichtigsten Initiativen gehört das Bosporus-Forum zeitgenössischer Kultur in der Krim (1993–1995) und das erste afro-ukrainische Festival (Angola-Ukraina, 2001). Bisher wenig bekannt ist Sids dichterische Seite, einzusehen in der Zeitschrift Reflect von 2007 (http://www.russ.ru/avtory/Sid-Igor).
novinki: Wie würden Sie Ihren Beruf bezeichnen? Journalist, Künstler, Dichter, Biologe usw. – oder alles zusammen?
Igor’ Sid: Bei der schwierigen Suche nach dem gemeinsamen Nenner meiner Berufszweige fällt mir meine alte, für mich selbst damals unerwartete Antwort auf die Frage eines Kritikers ein, was der Krim-Klub sei. Die Formulierung enthält ein Maximum an Einfachheit und Kürze „konzentrierte Lebensform der zeitgenössischen künstlerischen Kultur“.
Ich bin also einfach ein Kulturschaffender, der neue künstlerische Tendenzen ausfindig macht und sich aneignet. Aber wenn man meine Interessen in aufsteigender Reihenfolge sortiert, dann bin ich natürlich Schriftsteller, konzeptioneller Kurator, reflektierender Reisender, Naturforscher und vieles mehr.
n.: Wenn Sie zurückblicken, was ist Ihrer Meinung nach das Wichtigste an der Arbeit des Krim-Klubs gewesen? Welche Ziele wurden erreicht, welche verworfen und was haben Sie in Zukunft vor?
I. S.: Das wichtigste Ergebnis unserer Arbeit seit 1998 ist der Aufbau einer soliden russisch-ukrainischen literarischen Brücke. Die Festigung und Erweiterung dieser Brücke haben jetzt andere Kuratoren übernommen, aber meine Aufgabe – die Errichtung der Grundkonstruktionen – sehe ich als erfüllt an. Ich muss betonen, dass nicht ich der Initiator und die erste Geige bei dem ukrainischen Thema gewesen bin, sondern die Historikerin und Übersetzerin ukrainischer Prosa Anna Bražkina. Wir haben gemeinsam auch viel an kulturellen Kontakten mit Afrika gearbeitet.
Übrigens, zum Namen des Klubs: Er paraphrasiert den Namen des von mir geschätzten futurologischen Club of Rome (Rimskij klub). Wir haben nicht die Aufgabe, die zeitgenössische Kultur der Krim zu repräsentieren. Aber wir stellen regelmäßig einzelne Autoren von der Krim vor.
Auf der Krim leben einige Kulturschaffende von Weltrang. Einige von ihnen habe ich mehrmals in Aktionen des Krim-Klubs in Moskau und Kiev einbezogen. Das sind zwei der bedeutendsten russischen Dichter – Ivan Ždanov und Andrej Poljakov, der interessanteste ukrainische Künstler Oleh Tystol (er war Kurator des ukrainischen Programms auf der Venedig-Biennale) und der schrille konzeptualistische Maler Ismet Šejch-Zadė, ein Krim-Tatare.
Heute zähle ich die Annäherung und den Abbau der Spannung zwischen der gefährlich abgesonderten russisch- und ukrainischsprachigen intellektuellen Elite in der Ukraine zu einer der Hauptaufgaben des Krim-Klubs.
n.: Welche besonderen Projekte gab es in letzter Zeit?
I. S.: 2008 wurde für mich in zweierlei Hinsicht zum Durchbruchsjahr.
Im August haben wir zusammen mit einem ‚orangenen‘ Politiker, dem Abgeordneten Oles’ Donyj, auf der Krim und auf der Insel Tuzla das ukrainisch-russisch-weißrussische Literaturfestival Barrikade auf Tuzla (Barrikada na Tuzle) veranstaltet. Diese Insel, nach dem Grenzkonflikt 2003 bekannt geworden, ist sozusagen mein ‚Erbgut‘, mein angestammter Besitz: 1993 bis 1995 habe ich dort die Aktionen des Bosporus-Forums durchgeführt. Das neue Festival hat mir gezeigt, dass selbst die Kooperation mit einem derart tendenziösen Politiker fruchtbar sein kann. (Donyj tritt gegen die Gleichberechtigung der russischen Sprache in der Ukraine ein, was viele Kulturschaffende stutzig macht und auch mir fremd ist.)Heute zähle ich zum Höhepunkt meines sogenannten Art-Managements die Ende 2008 trotz der Finanzkrise herausgekommene erste Audio-Anthologie russischer Poesie SPA (Sovremennaja Poėzija ot Avtorov). Zu den Autoren, deren Stimmen auf dieser CD zu hören sind, gehören Gandlevskij, Kibirov, Rodionov, Rubinštejn, Russ, Saburov… Die Arbeit ging schwierig und mit Pausen voran, aber wir haben es geschafft, den genialen russischen Dichter Dmitrij A. Prigov aufzunehmen, bevor er 2007 starb.
n.: Sie werden sicherlich häufig zum Begriff der Geopoetik befragt. Könnten Sie dennoch kurz skizzieren, was Sie darunter verstehen?
I. S.: Die Geopoetik habe ich irgendwann als einen synkretistischen Begriff gebraucht, der meinen modus vivendi und meine persönliche Philosophie vereinigt. Aber heute, 15 Jahre später, denke ich, dass die Geopoetik eine wichtige Kategorie innerhalb eines neuen Denkens über das Wesen des Menschen werden kann – das Arbeitsinstrument einer neuen Anthropologie.
Die Semantik des Worts Geopoetik ist mehrdeutig, ebenso wie seine unterbrochene Geschichte. Diesen Begriff habe ich mir im Herbst 1994 ausgedacht. Damals habe ich einen provokanten kulturologischen Vortrag vorbereitet, um in Jalta auf einem internationalen Symposium anlässlich des 50jährigen Jubiläums der Jalta-Konferenz von 1945 aufzutreten. Dorthin hatten mich meine ideologischen Opponenten eingeladen, russlandfreundliche Historiker und Politologen von der Krim. Die Diskussionen in dem berühmten Livadijskij-Schloss waren durchweg von Geopolitik durchdrungen. Gegenüber diesem immer anachronistischeren Paradigma habe ich meine auf Kultur fixierte, geisteswissenschaftliche Position gestellt.
Ich habe Geopoetik als eine hypothetische neue Disziplin beschrieben, die die Mechanismen kultureller Gravitation und der Strukturierung des menschlichen Raums untersucht, allerdings nicht ganz nach Huntington. Diese Mechanismen müssen auf künstlerischen Ambitionen basieren, nicht auf denen der Macht. Das war natürlich eine seltsame und freche Utopie. Dennoch hat der neue Begriff trotz seiner Abstraktheit und Unklarheit viele ‚berührt‘. Und so entschied ich mich, das entsprechende Epitheton zu dem Namen des Klubs hinzuzufügen, den ich ein Jahr später in Moskau gegründet habe.
Das war die Epoche des Krim-Separatismus unter Präsident Meškov, und ‚literarische‘, unpolitische Konnotationen kamen beim Publikum kaum an. Aber an der ersten Geopoetik-Konferenz in Moskau 1996 nahmen trotzdem Größen wie Michail Gasparov teil. Bald wurde der ‚wissenschaftliche Begriff‘, den ich in die literarischen Kreise geworfen hatte, als Bezeichnung einiger neuer künstlerischer Praktiken wahrgenommen.
Allerdings stellte sich noch ein Jahr später heraus, dass der Begriff auch vor mir existiert hat, in Frankreich. Der Kulturologe und Essayist Kenneth White hat ihn erfunden. Er hat ihn auch der Geopolitik gegenübergestellt, aber im Gegensatz zu mir hat die Geopoetik von White mit einem Raum zu tun, der fremd und unbekannt für seinen Rezipienten ist – vor allem die Routen arktischer Expeditionen. Das heißt, ihm geht es um einen Raum der Bewegung. Ich hingegen arbeite mit dem Raum des Habitats – sozusagen dem klassischen „Lebensraum“, aber im kulturellen Sinne. Ein Raum, der nicht erweitert werden soll (aus irgendeinem Grund geht dies üblicherweise mit der Verkleinerung des Raums der Nachbarn einher), sondern künstlerisch aus dem Inneren strukturiert.
n.: In Deutschland assoziiert man Geopoetik möglicherweise mehr mit Jurij Andruchovyč und Andrzej Stasiuk als mit dem Krim-Klub. Wie stehen Sie dazu, dass sie diesen Begriff ‚entliehen‘ haben?
I. S.: In den Texten Stasiuks ist mir dieser Begriff nie begegnet, er neigt nicht zur Theoretisierung. Ich nehme an, dass diese Perspektive auf Andrzejs Schaffen durch Andruchovyč entstanden ist.
Jurij habe ich 1998 von der Geopoetik erzählt. Auf unsere Einladung hin kam er zum ersten Mal seit fast 10 Jahren nach Moskau. Auch wenn der Krim-Klub kein erklärtes ‚anti-imperialistisches‘ Projekt war, sondern einfach ästhetisiert als ‚nicht-imperialistisch‘, wurde er für ihn zu einer bequemen Plattform. Seitdem war er noch mehrere Male bei uns.
In der Interpretation Andruchovyčs reproduziert Geopoetik ein Motiv der klassischen Geopolitik Ratzels, Mackinders und Huntingtons – die Idee der Konkurrenz und Unvereinbarkeit, ja sogar Feindschaft verschiedener kultureller Räume. Seine Geopoetik ist eine Publizistik über dramatische Unterschiede und den Streit von Nationalkulturen und Mentalitäten, die mit dem Vektor von leitenden Ambitionen geladen ist.
n.: Die „fiktive Landeskunde“ Andruchovyčs und das westukrainische Projekt Zug76 (Potjah76) – sind das nicht auch Formen von Geopoetik in Ihrem Sinne?
I. S.: Ja, wobei diese Projekte einander ergänzen. Zug76 baut einen alternativen kulturellen Raum der Ukraine auf. Die „Landeskunde“, die eigentlich nicht sonderlich fiktiv ist, markiert diesen Raum, durchnäht ihn mit einem Netz aus Koordinaten und Kraftlinien.
Der „leitende Vektor“, von dem ich gesprochen habe, ist keine Metapher. Ich meine die von Andruchovyč deklarierte klare geografische Ausrichtung: Ein Aufruf zur metaphysischen Wanderung nach Westen. „Westen, Westen und noch mal Westen“ – ich mag dieses Zitat bei ihm.
Wie Sie merken, verwende ich in meiner Arbeit oft die Etymologie als ein Arbeitsinstrument, als eine Hermeneutik. Zum Beispiel deute ich den Titel von Jurijs Essay Desorientierung vor Ort (ukr. Dezorijentacija na miscevosti) von Neuem: “des-orientierung” ist eine Abkehr von der traditionellen Ausrichtung gen Osten (lat. oriens) als der grundlegenden. Das ist der ganze Andruchovyč.
In der Terminologie von Windrosen ausgedrückt, ruft die Geopoetik Whites nach Norden in die harte unerforschte Arktis, die Geopoetik Sids in den Süden auf die un-ordentliche Krim und die wenig erforschten Tropen; die von Andruchovyč in den Westen, in das zivilisierte Europa. Davon abgesehen ähnelt sich Jurijs und mein Konzept darin, dass wir außer der Beschreibung von kulturellen Räumen auch die Intention haben, Räume zu erschaffen und umzugestalten.
n.: Inwiefern sind Sie bei Ihrer Funktion als „Kulturträger“, wie Sie sich bezeichnen, auch ein politischer Vorkämpfer?
I. S.: Mit „Kulturträger“ bin ich einverstanden. Vor ungefähr 15 Jahren ist in Moskau der präzise Begriff Literaturträger („literaturtreger“) entstanden, den der Kurator und Verleger Dmitrij Kuz’min vorgeschlagen hat. Das bezeichnet sowohl mich, Kuz’min als auch Andruchovyč, der ukrainische Lesungen in Berlin organisiert.
Ein politischer Kämpfer bin ich jedoch nicht. Ernsthaft habe ich nur vor 20 Jahren Politik betrieben. Ich hatte mich bei dem Kampf für eine Umprofilierung des mit gefährlichen Mängeln gebauten Atomkraftwerks auf der Krim engagiert. Zusammen mit anderen haben wir die Inbetriebnahme verhindert, und seitdem habe ich die Politik verlassen. Ein Kulturträger sein und Politik machen – das ist, als ob man Pflanzen im Gewächshaus mit einem Bulldozer schneiden würde.
n.: Könnten Sie sich vorstellen, die Idee eines ästhetischen Mitteleuropas zu unterstützen? Oder ersetzen Sie diese mit Krim und Madagaskar?
I. S.: Die Idee eines „ästhetischen Mitteleuropas“ ist mir sehr nah. Das ist ein für mich bequemer Raum – viel mehr als der Raum Russlands, wo der Mensch sich viel unfreier fühlt. In diesem Sinne ähnelt die Krim als ein ehemaliges sowjetisches Territorium mehr Russland als Europa in der Gestalt Warschaus oder des von mir geliebten Lembergs. Allerdings bin ich als erfahrener Reisender unbequeme Situationen gewöhnt. Außerdem ist meine Arbeitssprache Russisch. Von 1995 bis 2007 habe ich mich wie in einer längeren Expedition in Moskau aufgehalten. Ich bin in die Ukraine nicht deswegen zurückgekehrt, weil es in Russland zu ungemütlich geworden ist (obwohl diese Tendenz offensichtlich ist), sondern weil ich meinen Handlungsraum erweitern möchte.
Die Krim ist für mich das, was man ‚kleine Heimat‘ nennt. Der Heimat verzeiht man, wie den Eltern auch, kleine Fehler. Und Madagaskar ist eine ‚Essenz‘ der Krim, eine konzentrierte Verbindung von südlicher Natur und patriarchaler Lebensweise, multipliziert mit zahlreichen historischen Rätseln und einer romantischen Landschaft.
n.: Welche Rolle spielen die afrikanischen Veranstaltungen im Konzept Ihrer Geopoetik und welche Parallelen gibt es zu den Krim-Projekten?
I. S.: Ehrlich gesagt, fällt es mir selber schwer, meine Projekte auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Die tropischen Projekte reißen mich leider aus dem literarischen Kontext heraus. Wahrscheinlich sind sie für mich als eine Antwort auf die Eindrücke meiner Kindheit wichtig. Ende der 1960er arbeitete meine Familie in Afrika (mein Vater ist Physiker). Meine Tropen-Sehnsucht erinnert mich an Gauguin, der in seiner Kindheit in Peru gelebt hat.
Madagaskar ist mit der russischen Literatur über Sujets und Zitate eng verbunden. Vielleicht beschäftige ich mich deswegen hauptsächlich mit dieser Insel.
n.: Was genau ist „Zoosophie“ – mehr als ein tag in Ihrem Blog?
I. S.: Diesen Begriff, der das Denken über das Phänomen des Tierlebens bezeichnet, habe ich von dem Philosophen Herbert Spencer. Das ist für mich nicht nur ein tag in meinem Blog, der Fotografien und Texte über Tiere kennzeichnet, sondern auch eine Reihe von Diskussionen des Krim-Klubs zwischen Literaten und Zoologen über diverse Bedeutungen, die verschiedene Tiere in sich tragen. Einige Tiere verkörpern sozusagen konkrete menschliche Eigenschaften (der Hund – ‘Treue‘, der Esel – ‘Sturheit‘, der Fuchs – ‘Schlauheit‘ usw.). Man kann annehmen, dass das menschliche Wesen aus einem Spektrum unterschiedlich entwickelter ‚animalischer‘ Charakterzüge besteht, und zusätzlich dazu noch aus irgendetwas anderem. Grenzenloses Thema zum Nachdenken.
n.: .Fast jedes Stück Erde hat seine eigene mehrschichtige (erschriebene) Geschichte und manchmal scheint es, als ob Texte über einen ‚Raum‘ stärker von seiner diskursiven Spezifik als von der Kreativität eines Autors geleitet werden. Geht die Zoosophie davon aus, dass die Natur a priori eine eigene Ästhetik hat, also noch bevor sie in einen literarischen Text oder ein visuelles Bild eingeht?
I. S.: Intuitiv schreibe ich der Natur eine ihr immanente Poetik und Ästhetik zu. Aber wenn wir über die Ästhetik eines beliebigen Objekts sprechen, setzen wir die Existenz eines wahrnehmenden Subjekts voraus und bei der Poetik die Existenz eines schaffenden Subjekts. Daher hat die Natur wahrscheinlich keine Ästhetik, wenn es keinen Menschen gibt, der sie wahrnimmt und keine Poetik, wenn es keinen Gott gibt, der die Natur erschaffen hat.
Der Mensch neigt dazu, diese Poetik mit seinen Aktivitäten zu zerstören. Als eine Art Wiedergutmachung hat er solche Künste und Praktiken erschaffen wie Architektur, Landschaftskunst und Feng Shui. Aber wenn ich zum Beispiel die Betrachtung eines Steingartens im japanischen Stil genieße, dann kommt in mir der Verdacht auf, sub specie der Zoosophie, dass dafür der ‚Ursprungsaffe‘ in mir verantwortlich sein könnte. Die Anordnung der Steine erscheint mir behaglich und intim, weil es sehr angenehm ist, zwischen ihnen zu spielen oder sich zu verstecken.
Globale Konflikte und Kriege zeigen, dass der Mensch intensiver über sich selbst nachdenken muss. Offenbar ignorieren wir etwas Grundlegendes, wenn es bis jetzt nicht gelungen ist, ein effektives Mittel zu finden, das gegenseitiges Verständnis in höchst gefährlichen Situationen ermöglichen würde… Die Zoosophie trägt dem ‚Animalischen‘ im Menschen (natürlich metaphorisch) Rechnung und könnte ein zusätzliches nützliches Instrument einer neuen Anthropologie werden.
n.: Vielen Dank für dieses E‑Mail-Interview.
Das Interview wurde geführt und aus dem Russischen übersetzt von Tatjana Hofmann.
http://www.russ.ru/avtory/Sid-Igor
http://igor-sid.livejournal.com/
http://intellectuals.ru/sid/