Raus aus Bratislava! – Preč! Preč! von Jana Beňová
So beginnt der Text. Daneben stellt die Autorin die Anekdote von der Prager Fürstentochter, die ihre Ferien bei der Thurn-und-Taxis-Verwandtschaft in Deutschland verbringen muss. Als sie von ihrer Gastgeberin großzügig gefragt wird, was sie sich denn wünschen würde, antwortet das adelige Mädchen, sie würde es ja gerne sagen, aber das sei einfach ungehörig, viel zu ungezogen. Als die Fürstin insistiert, antwortet das Mädchen: „Weg! Weg!“.
Das Thema ist damit gesetzt. Es geht um das schnelle Kofferpacken, um die Flucht aus Situationen, in denen man sich nicht befinden will, um die Reise an egal welchen Ort, Hauptsache an einen anderen, aber auch um Ungehorsam, Rebellion. Grundlage jedes Arbeitslebens ist das Ausreißen, das Schwänzen, behauptet Rosa, im Jetzt der Erzählung eine vierzigjährige Frau. Dabei ist sie nicht immer so rebellisch gewesen. Als Kind, erinnert sie sich, ging sie gerne zur Schule. Erst später, auf dem Gymnasium in der Vorstadt, hielt sie es nicht mehr aus. Dort gab es kein echtes Leben, nur Autobahnen, graue Häuser, schwarzen Schnee und beschränkte Menschen. Zusammen mit den Anderen fühlte sie sich unwohl, gefangen im Kollektiv; ein besonderer Horror dabei: das gemeinsame Mittagessen, der Geruch des aufgezwungenen Essens, die Geräusche der Mitschüler. Hier entsteht ihr Freiheitsdrang: Aus dem reglementierten Schulalltag flieht sie in kleine Cafés, zieht durch die Stadt, zum Bahnhof, trinkt Rotwein, raucht. So erschafft sie sich ihr Paris inmitten der tristen Tschechoslowakei, denn, so die erwachsene Rosa, wenn man sich mit sechzehn nicht ein eigenes Paris erfindet (vor allem am frühen Abend), wenn man nicht in den Tag hineinlebt, nicht Albert Camus liest, dann wird man es auch später nie (er)finden.
Fortan bestimmen Fluchten und Reisen Rosas Leben. Die erste Reise führt sie zu ihrem Onkel nach Amerika, wo sie sich Abenteuer erhofft. Stattdessen verbringt sie die Tage in der Autowerkstatt des Onkels, der ihr abends immer wieder Ausflüge verspricht – je mehr er trinkt, desto großspuriger seine Pläne. Doch am nächsten Morgen schläft der Onkel bis mittags, um dann wieder in der Werkstatt zu verschwinden.
In Rosas Leben lösen die Aufbrüche einander ab, geben ihr Kraft; die neuen Orte dagegen sind desillusionierend, niemals kommt sie in ihnen an, kehrt immer wieder zurück in die trostlose slowakische Plattenbausiedlung. Auch die vierzigjährige Rosa muss also weg von hier, ist wie früher in der Schule den Mitschülern, jetzt den ständig plaudernden Kolleginnen ausgeliefert: „Arbeit, Kinder, Familie, Geld, Musik, Familie, Kinder, Arbeit, Essen, Kognak, Sex, Schönheitsoperationen, politische Theorie, Cellulitis, Essen, Kognak, Arbeit, Geld, Sex, Cellulitis“, sind die nichtssagenden Themen, die ohne Unterlass diskutiert werden (obwohl man sich fragt, was die „politische Theorie“ hier zu suchen hat – Beňová mit ihrem gewohnt ironischen Unterton mag hier das Pausenraumgemecker über die Unfähigkeit der politischen Klasse vorgeschwebt haben).
Ebenso gefangen fühlt sich Rosa in der Ehe mit Son, dem Dichter. Ihre Beziehung scheint am Ende, sie hält es nicht aus mit ihm. So kommt es, dass in diesem Jahr der Januar, für sie der schwärzeste Monat, bis in den März hinein andauert. Im Januar, so Rosa, sind sogar Spaziergänge überflüssig, „denn alles ist tot, was bleibt, ist Selbstmord, d.h. eine Ehe plus vierzig Stunden Büroarbeit, oder ein Revolver“.
Stattdessen nimmt sie den Zug, reist nach Österreich, zu einem anderen Mann, zu Corman, dem Marionettenspieler. Mit ihm reist sie weiter, durch Slowenien, egal wohin. Ein Ziel gibt es wie immer nicht, schon gar nicht das Meer (das auf dem Buchcover abgebildet ist), denn, so bemerkt sie auf einem Flughafen voller Südurlauber: „Wir kommen aus einer Gegend, wo man sich Wärme verdienen muss, sie erschaffen muss. Im eigenen Körper ein eigenes Feuer entzünden. … Wir haben kein Meer. Und wollen auch keins.“ Und wie immer kehrt sie auch dieses Mal zurück, zu Son, in die Plattenbausiedlung, lebt zwischen zwei Welten, zwei Männern, trauert über das, was war, das, was ist, denn: „Wenn der Geliebte verschwindet, tauchen sehr viele Wörter auf, die man gerne noch sagen würde. Sie wirbeln in einem herum. Fallen in den Tag wie schlammige Steine. Radioaktiver Abfall.“ Und auf ihrer Suche nach Unabhängigkeit, angetrieben von ihrem „Weg! Weg!“, das zwischendurch zumindest den Männern wie ein Schlachtruf in den Ohren klingen muss, kommt sie zum Schluss vielleicht doch an. Versteht vielmehr, dass abzureisen auch bedeutet, irgendwo anders anzukommen.
Weg! Weg! beginnt gewissermaßen da, wo Jana Beňovás Der Geleitplan aufhört. Die Protagonistinnen ähneln sich: Die rebellische Rosa könnte eine Zwillingsschwester der starken Elza aus dem Geleitplan sein, und auch Son teilt nicht nur die schlechten Augen mit Ian, dem alternden Dichter. Aber während Elza bleibt, sich eine eigene Welt in der Tristesse der Plattenbauten zusammenbastelt (wie auch die sechzehnjährige Rosa), nach einem „Geleitplan“ für das Hier und Jetzt sucht, in dem sie trotz allem fest verankert ist, wagt Rosa die Flucht nach vorn, ist ständig in Bewegung. Sie bleibt nicht in der unglücklichen Beziehung, wo sie von ihrem schlecht sehenden Dichtermann „abhängig ist wie ein Blindenhund“. Da steht sie lieber weinend auf dem Bahnsteig und trauert dem Ende ihrer Liebe nach. Aber: Sie geht, muss gehen, um zu überleben.
Jana Beňová verhandelt die Suche von Frauen nach Unabhängigkeit, das Scheitern von Beziehungen mit allzu selbstbezogenen Männern, die sich wandelnde Rolle von Frauen in den Gesellschaften Mitteleuropas, die Erfahrung einer Kindheit im Sozialismus. Das Gefühl der Enge, kleine Fluchten, die Freiheit in engen Weinkaschemmen, in den Straßen der Stadt und die Sehnsucht nach fremden Orten sind viel beschriebene Motive ihrer Generation, die während der „Normalisierung“ in der Tschechoslowakei aufwuchs. Beňová widmet sich ihnen aber auf ihre ganz eigene, unnachahmliche und alles andere als banale Weise.
Weg! Weg! ist untertitelt mit „Roman / Gedicht“, und zweigeteilt ist auch der Text, wobei beide Teile den gleichen Titel „Weg!“ tragen. Und ja, es ist ein Roman, es gibt die oben beschriebene Handlung, Protagonisten, Ereignisse. Gleichzeitig quillt der Text über vor Bildern, freien Assoziationen, ist häufig radikal aus Rosas Perspektive und in der Technik des Bewusstseinsstroms erzählt. Beňová hat mit Rosa eine noch stärkere, wildere Erzählstimme als die ihrer Elza geschaffen, die im Vergleich fast etwas zurückgenommen, distanziert klingt. Rosa lässt die Leser näher an sich heran, ihr Verlangen nach Unabhängigkeit und Abgrenzung sind so unmittelbar, dass man sie fast körperlich miterlebt. Aber ihre Suche nach Sinn, nach dem eigenen Platz in der Welt ist keinesfalls linear erzählt, sondern voller Brüche und Zeitsprünge. Die Autorin spielt mit der Wahrnehmung ihrer Leser, lässt keine klaren Zuordnungen von Raum und Zeit, von Realität und Traum zu. Textpassagen brechen plötzlich ab, bis der Faden an späterer Stelle wiederaufgenommen wird und die Ereignisse oft in völlig neuem Licht erscheinen.
Und wie schon im Geleitplan ist Beňovás Prosa von einer bewundernswerten Leichtigkeit, erscheint der Erzählstil niemals künstlich oder gewollt. Fast noch genauer, noch treffender sind ihre Bilder geworden, die knappen Sätze, mit denen alles gesagt ist. Dazu kommt ihr unvergleichlicher Humor, etwa wenn sie Rosa den Zustand ihrer Beziehung zu Son bei einem Restaurantbesuch so charakterisieren lässt: „Ich habe mich wahrscheinlich falsch hingesetzt. Auf den schlechtesten Platz. Genau gegenüber von Son.“ Oder wenn Rosa, die ängstlich auf den Geliebten wartet, denkt: „Wäre es möglich, dass Corman mich verlässt? Dass er es fertig bekäme, die Frau zu verlassen, die ihm das Nachtleben von Krems gezeigt hat?“
Jana Beňová hat mit Preč! Preč! einen erfrischend rebellischen, mitreißend erzählten Text geschaffen. Humorvoll und ironisch verhandelt sie existenzielle Themen, wie es sich leben lässt, wenn die Liebe verschwindet, wenn es einen anderen Mann gibt, man aber mit dem ersten das ganze Leben verbracht hat. Beňová schreibt im besten Sinne berührend; sprachliche Verspieltheit, Leichtheit, Selbstironie und Humor treffen bei ihr auf die tieferen Wahrnehmungsschichten und Entfremdungspraktiken moderner Gesellschaften. Leider liegt Preč! Preč! bisher nicht in deutscher Übersetzung vor – schade, denn Besseres war aus der Slowakei seit Langem nicht zu lesen.
Beňová, Jana: Preč! Preč! Bratislava: Marenčin PT, 2012.
Alle Zitate wurden von Sarah Houtermans aus dem Slowakischen übertragen.
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