Lost in Altpapier.
Wir wirbeln in den langen Sätzen von Bohumil Hrabals allzu lauter Einsamkeit.
Eine Würdigung zum hundertsten Geburtstag.
I am stuck with little paper cuts | On each of my fingers.
(Fujiya & Miyagi, „Lightbulbs“)
Bücher sind langmütig. Sie stehen still in den Regalen und wuchern lautlos in Stapeln auf Schreibtischen und Fensterbänken und in ihnen wuchert die Welt mit all dem, was „das größere Glück und das größere Unglück des Menschen“ (B. Hrabal) ausmacht. Manchmal stehen wir mit einem Satz von Isaak Babel im Kopf vor den Büchern und streichen mit den Fingern über die Rücken, die heute nicht mehr aus Saffian sind, und dann denken wir seinen Satz über die Bücher zu Ende: „dieses wunderschöne Grab des menschlichen Herzens“. Dass die Einsamkeit inmitten der stillen Bücher eine allzu laute sein kann – diese Einsicht verdankt sich Haňťa, jenem eigenartigen Protagonisten der Erzählung Allzu laute Einsamkeit von Bohumil Hrabal, der in endlosen Sätzen durch die unruhigen Wasser der europäischen (Geistes-)Geschichte treibt.
Hrabal, der als einer der bedeutendsten tschechischen Schriftsteller gilt, wurde am 28. März 1914 geboren und erlebte somit die Wirren des 20. Jahrhunderts am eigenen Leib – die letzten Jahre der Habsburgermonarchie, danach den tschechoslowakischen Nationalstaat in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, die Besetzung durch das nationalsozialistische Deutschland, den Stalinismus, den Prager Frühling und seine Niederschlagung mit der darauffolgenden Phase der Lähmung, schließlich die „Samtene Revolution“ mit dem Aufbruch in eine Art Freiheit (B. Müller). Fragmentiert wie der Lauf des letzten Jahrhunderts ist auch die Erwerbsbiographie des promovierten Juristen Hrabal, der immer wieder mit Publikationsschwierigkeiten zu kämpfen hatte. Er arbeitete einige Jahre bei der Bahn als Fahrdienstleiter, sein Lebenslauf verzeichnete unter anderem auch Episoden als Handelsreisender, Arbeiter in einem Stahlwerk und Altpapierpacker in Prag. Hrabal starb 1997 nach einem Fenstersturz beim Taubenfüttern aus dem 5. Stock eines Prager Krankenhauses.
Auch Haňťa ist Altpapierpacker, aber anders als Hrabal es war, ist er das mit beträchtlicher Kontinuität, nämlich seit 35 Jahren. Die Arbeit in einem schmuddeligen Prager Kellerloch ist banal und besteht in der Bedienung einer Altpapierpresse – grüner Knopf, roter Knopf –, die Papier jedweder Provenienz zu Paketen presst. Das Kellerloch ist zugleich Habitat einer Mäusepopulation, und wenn es wie so oft vorkommt, dass Haňťa ganze Nester blinder Mäusejungen zusammen mit dem Altpapier in die Maschine schippt, dann springt die Mäusemutter in den Presstrog hinterher und stellen sich die anderen Mäuse auf die Hinterpfötchen und lauschen den Todesklagen derer, die zerpresst werden, um dann gleich wieder zu vergessen und weiter zu tollen, „wie junge Katzen“. Manchmal springen sie in der Kneipe aus Haňťas Hose, wenn er das Bier bezahlt, er hat dann, tief in den Gedanken an das nächste Papierpaket die Kontrolle über die Mäuse verloren, und die Kellnerinnen kreischen.
Es ist ein bescheidenes Leben, das Haňťa führt, aber seine Liebe zu den Büchern ist überbordend und haptisch. Sein Beruf – die Zerstörung von Büchern mit Goldschnitt und Saffianrücken genauso wie die Zerstörung von blutigen Papierresten aus den Prager Fleischereien, an denen sich Trauben rasender Schmeißfliegen sammeln – hat sich gewissermaßen in ihn eingeschrieben: In den Jahrzehnten als Altpapierpacker hat er Abertausende Bücher vor der Pressmaschine bewahrt und er hat sie „in der törichten Hoffnung gelesen, einmal darin etwas zu finden, was [ihn] qualitativ verändert hätte.“ Haňťa, siffig und versoffen, ist ein proletarischer poeta doctus, „gebildet gegen meinen Willen“. Er ist von einer schmerzlich klaren Einsicht in den Wahn der Welt und er hat auch einigen, rustikalen Humor; jedenfalls ist er von monströser Belesenheit und jemand, für dessen Denken das Feuilleton den Begriff der „Welthaltigkeit“ geprägt hat.
Seine Stimme, die in einem wilden Strom durch endlose Satzkaskaden drängt und die Erzählung bestreitet, streift voller Härte und Herzlichkeit die universalen Themen der Menschheit und Menschlichkeit. Hingebungsvoll erzählt sie auch von den so heiteren wie grausamen Banalitäten des Daseins: Schuld und Scheiße sind die Ingredienzien der schmählichen Mischung, die das Pech der schönen Mančinka in die bunten Haarbänder webt. Mit Leichtigkeit wirbelt Haňťa aber nicht nur die Beschissene Manča über die Tanzfläche, sondern auch durch die Werke von Kant und Hegel und Goethe, von Rimbaud und Nietzsche. Vom bisweilen naiv anmutenden Duktus sollte man sich freilich nicht täuschen lassen. Es ist kein mitteleuropäischer Forrest Gump, der sich da mit putzigen Gemeinplätzen hervortäte – es ist einer, der den bizarren Wahnsinn des Daseins in sich aufgesogen und mit einem düsteren, anteilnehmenden Herzen in die Sterne und die Kloaken geschaut hat. Letztlich erhält Haňťas aufwallende, unerschöpfliche Emphase ihre existenzielle Dringlichkeit vom Ende her, denn sie treibt seinem Suizid in der Pressmaschine entgegen, den kein noch so mäandernder Satz suspendiert.
Allzu laute Einsamkeit ist eine furiose Erzählung, üppig und universal, voller Humor und mehr noch Schmerz, und alles verwirbelt sich im Fluss der langen Sätze. Manchmal glitzert der Goldstaub vernichteter Preziosen auf dem Wasser: „Heute war ein schöner Tag.“
von Janika Rüter
Bohumil Hrabal: Allzu laute Einsamkeit . In: ders.: Die Romane. Übersetzt von Peter Sacher. Mit einem Nachwort von Werner Fritsch. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2008.
Bohumil Hrabals Allzu laute Einsamkeit in Rezensionen:
Müller, Burkhard: Leonardo von der Müllpresse. Rezension in der Süddeutschen Zeitung, 11.7.2003.
Birkerts, Sven: Books into Trash. Rezension in The New York Times, 9.12.1990.