„Das ist keine Kunst, sondern alltägliche Praxis.“ Interview mit Giorgi Khasaia

Giorgi Khasaia lebt in der postindustriellen Stadt Kutaisi, die einst als wichtiges Zentrum der georgischen (und russischen) Moderne galt. Dieser literarischen Tradition folgend stellt er heute mit seinem Cyber-Theater eine der radikalsten Stimmen des Landes dar. Mit Gedichten, Soundexperimenten und Videoperformances geht er an die Öffentlichkeit, nebenbei übersetzt er russische und amerikanische politische Lyrik ins Georgische. Wir trafen ihn in Kutaisi und sprachen mit ihm über seine Experimente, die Marginalisierung der Kultur und sein Projekt, die Sprache und Literatur von alten Machtstrukturen zu befreien.

 

Khasaia

 

novinki: Was genau ist das Cyber-Theater?

 

Giorgi Khasaia: Das Cyber-Theater ist ein Internetprojekt, das wir begonnen haben, politische Kommentare zu bestimmten politischen Prozessen in Georgien. Manche Leute sagen, es ist Kunst, aber wir erkennen es eigentlich nicht als Kunst an. Es sind vordergründig politische und soziale Kommentare. Wir, das sind Giorgi Tsurtsumia, Vako Nacvlishvili, Mirian Gorgodze, Levan Bibileishvili und ich.

 

n.: Wie und wann habt Ihr damit angefangen?

 

G.K.: Das hängt mit der Saakashvili-Periode zusammen, die nach der Rosenrevolution 2003 begonnen hat. Da hat im Grunde eine radikal rechtsgerichtete Politik angefangen, und wir haben uns entschieden, unsere Meinungen auszudrücken, und Videos zu drehen. Nichts Besonderes eigentlich, das machen viele Menschen hier. Wir haben schon seit unserer Kindheit Gedichte geschrieben und auch übersetzt. Jetzt übersetzen wir zeitgenössische russische und amerikanische politische Poesie.

 

n.: Welche AutorInnen übersetzt Ihr?

 

G.K.: Aus Russland zum Beispiel Kirill Medvedev, Pavel Arsen’ev und Valerij Nugatov, die ich sehr interessant finde. Arsen’ev hat auch unsere Gedichte in dem Magazin Translit veröffentlicht. Aber wir übersetzen auch amerikanische DichterInnen, dabei haben wir herausgefunden, dass russische und amerikanische zeitgenössische politische Poesie einander sehr ähnlich sind.
Von den amerikanischen Autoren übersetzen wir vor allem language poetry, da sind am interessantesten Michael Palmer und Charles Bernstein, aber auch junge DichterInnen wie Shane Allison.

 

n.: Seid Ihr mit ihnen auch in aktivem Dialog?

 

G.K.: Mit den amerikanischen AutorInnen nicht, mit den russischen schon. Manche meiner Gedichte gibt es auch auf Russisch. Das ist natürlich auch eine politische Frage, Georgien und Russland sind kulturell enger verbunden. Jetzt gibt es mehr Einfluss aus den USA, aber eher durch Hollywood und Pop-Kultur. Für mich ist es ein sehr interessanter Moment, wie russische und amerikanische Kultur gleichzeitig hier wirken. Es gibt auch ein Gedicht von mir auf Englisch, Killing a cop.

n.: Über welche Themen schreibst Du?

 

G.K.: Über die Rolle des „kleinen Mannes“ im Spätkapitalismus, in der heutigen Situation. Über die Probleme des Prekariats – denn wir sind das Prekariat. Die georgische Gesellschaft teilt sich in Gewinner und Verlierer, das ist der Hauptunterschied zwischen den Menschen. Hier herrscht wilder Kapitalismus, aber unsere Probleme sind nicht nur der Kapitalismus, sondern vor allem kulturell. Wenn eine Kultur in eine andere übergeht, interessieren mich dabei vor allem die Grenzen und Zwischenräume. Georgien ist ein Treffpunkt verschiedener Kulturen, wie es in vielen kleinen Ländern der Fall ist. Mit Grenzen meine ich dabei, wo beispielsweise das Russische aufhört und das Amerikanische beginnt. Heidegger sagte „Die alten Götter sind tot, aber die neuen sind noch nicht da“. Unsere Situation zeigt das sehr gut.

 

n.: Befindet sich die georgische Kultur generell in einer Art Zwischenphase?

 

G.K.: Einmal habe ich die Situation in Georgien als commandant times bezeichnet, als Ausnahmezustand. So wie es das zum Beispiel in Chile gab, so eine Situation, in der das Militär bestimmte Sachen verbietet, wie etwa nachts auf die Straße zu gehen. Die Freiheit wird massiv eingeschränkt. Ich denke, dass dieser Zustand hier jetzt in der Kultur existiert, und für bestimmte Zwecke instrumentalisiert wird. An der Macht ist immer noch die sogenannte Rote Intelligenzia. Das heißt, die, die sich damals als Kommunisten und dann als Liberale ausgegeben haben, lügen uns heute vor, Nationalisten zu sein. Diese Leute waren es gewöhnt, im Kommunismus gut zu leben, und nach dem Zerfall der Sowjetunion waren sie plötzlich Liberale. Gamsachurdia war zwar radikaler Nationalist, aber ich habe noch mehr gegen die Rote Intelligenzia als gegen ihn – gegen die alten Leute, die sich heute als Nationalisten ausgeben, denn sie besetzen das kulturelle Feld. Sie lassen niemanden durch ohne Passierschein:Du brauchst im Kulturbetrieb einen Ausweis, um teilnehmen zu können. Alle wirklich neuen Ideen in der Kunst oder Kultur, die seit den 1990ern entstanden sind, wurden von den Menschen, die der Macht nahe stehen, marginalisiert. Sie haben jahrelang gelernt, wie man an die Macht kommt, sie sind immer noch hier und wurden die wichtigsten Kultur-Kommandanten. Und jetzt haben sie neue Verbündete gefunden, neue Partner wie etwa die orthodoxe Kirche.

 

n.: War das kulturelle Leben in den 1990er Jahren fruchtbarer als heute?

 

G.K.: In den 1990ern war das Leben sehr interessant, trotz Bürgerkrieg und Armut. Plötzlich traten da solche Figuren auf wie der Dichter und Künstler Karlo Kacharava, David Chixladze, Shota Iatashvili, Davit Barbakadze – das heißt, Leute mit verschiedenen Ansichten und ästhetischen Projekten, die waren alle irgendwie „Engel der Revolution“. Und plötzlich passierte etwas Komisches: Die Großväter der Roten Intelligenzia haben diese talentierten Menschen aus der kulturellen Szene verdrängt. Und in meiner Generation wurden die Leute von diesen Großvätern erzogen und sind so den Großvätern ähnlicher als den Vätern. Es entstand eine Allianz der Großväter und Enkel gegen die Väter. Das ist eine sehr seltsame Situation, und ich denke, es ist ein Resultat dieses sogenannten Ausnahmezustands. Die Enkel sind jetzt eine Mischung aus der Roten Intelligenzia und der orthodoxen Kirche, das ist eine eigenartige Hybride. Unsere Generation ist heute die Hauptstütze der orthodoxen Kirche.

n.: Was ist Eure Strategie, um dem etwas entgegenzusetzen?

 

G.K.: Man muss unter anderem die kulturellen Helden der 1990er rehabilitieren. Ein wichtiges Moment ist, einen Prozess zu starten, auch wenn es eine Imitation ist, einen neuen Kanon zu erschaffen, neue Gesetze. Alles, was wir machen, mit unseren Übersetzungen aus dem Englischen und Russischen, ist die Erschaffung eines neuen Kanons. In Georgien gibt es heute einen Haupt-Diskurs in der Literatur und der lautet: Ein georgischer Dichter ist zweimal Dichter, weil jeder Georgier schon an sich ein Dichter ist. Gedichte sind ein wichtiger Bestandteil der georgischen Kultur und Geschichte, und wir wollen uns davon befreien. Literatur soll Literatur sein, und soll auch politisch sein. Das ist nicht unsere Idee, sondern kommt natürlich aus der Avantgarde-Bewegung Anfang des 20. Jahrhunderts. Majakovskij ist mein Lieblingsdichter und eine große Inspiration.

 

n.: Wie ist Deine Beziehung zur Sprache?

 

G.K.: Die Sprache muss befreit werden. Erstens ist die Sprache gefangen in der Kirche, zweitens in den Medien. Das heißt, wir reden und schreiben in der Sprache, die schon geschrieben ist, von diesen beiden Institutionen. In diesem Sinne fanden auch sehr interessante Experimente in Amerika statt, in den 1960ern beispielsweise, da gab es die Gruppe Language Poetry. In Georgien gab es ähnliche Versuche bei Davit Barbakadze, Zaza Burchuladze, auch bei Giorgi Maisuradze – sein letztes Buch Kill Tbilisi ist beeindruckend, er macht meiner Meinung nach auch Experimente mit der Sprache. Nur unsere Literaturexperten hier wissen nicht, was sie mit diesem Buch tun sollen, weil niemand bisher so etwas oder Ähnliches geschrieben hat.
Wir experimentieren viel, das kommt natürlich aus einer gewissen Liebe zur Sprache. Wir lieben unsere Muttersprache, so wie Roland Barthes die Muttersprache mit dem Körper der Mutter verglichen hat. Du arbeitest mit der Muttersprache wie mit dem Körper der eigenen Mutter, es ist also etwas sehr Inzestuöses. Sprache ist etwas sehr Erotisches. Oder etwa nicht?

n.: Und auch etwas Magisches, gerade in Verbindung mit Performance und Stimme?

 

G.K.: Ja, natürlich. Das sind Rituale, Sprach-Rituale. Sprache ist überhaupt immer ein Ritual.

 

Das Interview führte Philomena Grassl.

 

Weiterführende Links:

vimeo.com/user8747430
https://soundcloud.com/user2599633
http://cytheatre.wordpress.com/http://www.youtube.com/watch?v=wKi4zTulpJU
http://www.youtube.com/watch?v=RQcfbA0GpVM
http://www.youtube.com/watch?v=bs-ym_b5PkI

 

Youtube-Channel des Festivals Ventilation:
http://www.youtube.com/channel/UC_oEszA-dsioCYTyi9iq76Q

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