Auszug aus einem Interview mit Dmitrij Oreškin, Politologe, Mitglied der Akademie der Wissenschaften, Moskau, am 27.2. in der Nachrichtensendung „Hier und Jetzt“ des als „ausländischer Agent“ deklarierten Senders „Dozhd'“:
Es ist Tag vier des Krieges in der Ukraine: Russische Truppen haben mutmaßlich die Verteidigung der ukrainischen Armee in Charkiw durchbrochen. […] In Kiew wurde erneut Luftschutzalarm ausgelöst. Wir sprachen mit dem Politikwissenschaftler Dmitrij Oreschkin über die aktuellen Ereignisse.
Der Reporter fragt den Politikwissenschaftler: „Wie kann dieser Krieg gewonnen werden“?
Wissen Sie, meine Einschätzung ist ganz eindeutig. Ich denke, das ist eine Katastrophe, in erster Linie für die Ukraine, aber auch für Russland. Aus diesem Grund habe ich bis zum Schluss nicht daran geglaubt, dass Putin solch eine Dummheit begeht. Bereits auf der militärischen Ebene: Im 21.jahrhundert darf man im Gegensatz zum 20.Jahrhundert Städte nicht ungestraft in ein flammendes Inferno verwandeln. Das wird als etwas Ungeheuerliches angesehen. Wobei dies Mitte des 20.Jahrhunderts eine gängige Militärpraxis war. Dresden, Kiev, Hiroshima und andere Städte wurden bombardiert. Jetzt ist das nicht mehr normal. Wie kann man also diesen Krieg gewinnen? Ich denke, die russischen Truppen könnten Charkiv umzingeln. Und wie wollen sie Charkiw einnehmen? Sie werden dort verbrannt werden, wie sie es in Grozny wurden. Aus der Luft bombardieren, wie es in Grozny gemacht wurde? Womöglich werden sie das machen, aber das gilt als ein Kriegsverbrechen. Putin hat sein Land in eine Situation gebracht, aus der kein guter Ausweg möglich ist. Denn beabsichtigt war, dass die Ukrainer Schiss bekommen, Zelenskij sich verzieht. Und, dass die sowjetische Armee, sich im Siegesmarsch wähnend, mit Blumen von den Dorfmädchen begrüßt werden, weil sie die Befreier des Landes von den „украфашисты“ (ukrainischen Faschisten) sind. In Wirklichkeit aber tut sich die Ukraine als neue geeinte politische Nation hervor, als eine bürgerliche Nation, in der Menschen verschiedener ethnischer Gruppen ihr Zuhause verteidigen und verteidigen werden. Das heißt also: Wo hat er sich da hineinbegeben, wofür hat er das getan und was soll daraus werden? Außer einer Katastrophe… ich verstehe es einfach nicht. Ich habe den Eindruck, dass das Land unter Führung Putins langsam dahinvegetierte, um letztlich im Sumpf zu versacken. Nun hat er diesen Prozess radikal beschleunigt und den Sumpf mit Blut durchtränkt. Klar ist, unser Land ist isoliert, vergiftet, hinter einem eisernen Vorhang und unsere Auslandskonten werden eingefroren, all dies ist nicht neu und es ist die Katastrophe der kommenden Wochen und Monate. Was soll man hier noch sagen? Und natürlich das Gefühl der Schuld, denn wir konnten das nicht aufhalten, den Wahnsinn nicht verhindern, und nun kämpft die Ukraine in Wirklichkeit auch noch für die russische staatliche Demokratie. Wenn Putin verliert – und es sieht ganz danach aus –, was wird er dann als Sieg darstellen? Naja, vielleicht wird ein Stück Land irgendwo am linken Ufer des Dnepr eingenommen. Aber der Partisanenkrieg wird weitergehen. Gott weiß, was noch! Putin, darüber sprach ich schon, ist langfristig gesehen ein Looser. Nun zeigt er sich auch auf kurze Sicht als Looser. Möglicherweise hat ein Großteil unserer Landsleute dies noch nicht eingesehen, aber bald wird es zu spüren sein, am Portemonnaie, im Alltag.
Reporter: […] über die Portemonnaies und den Alltag sprechen wir gleich, lassen Sie uns über die Entwicklung der Ereignisse, über die Situation allgemein sprechen. Uns erreichen recht lückenhafte Nachrichten, das russische Verteidigungsministerium teilt nur irgendwelche Erklärungen über siegreiche Militäroperationen mit uns und sagt dabei kein Wort über Verluste der russischen Armee. Verluste gibt es aber und in Anbetracht der Situation nicht wenige. Aber in jedem Fall sehen wir, dass die Idee, einen Blitzkrieg zu führen, nicht aufgeht. Heftige Kämpfe in nahezu allen Regionen halten an. Ist das irgendeine falsche Einschätzung der Situation durch die Russische Föderation bei der Vorbereitung dessen, was offiziell „Sonder-Militäroperation“ („специальная военная операция“) genannt wird, oder ist das die Bereitschaft zum langwierigen Krieg?
Oreškin: Natürlich ist das eine Fehlentscheidung. Ich möchte nochmals betonen, dass ich nicht an diesen Schwachsinn glaube. Sie scheinen in einer künstlichen Blase zu leben, in einer ausgedachten russischen Welt, aber diese russische Welt sieht anders aus. Sie waren davon ausgegangen, das würde funktionieren, aber funktioniert hat es nicht, und schuld wird Vladimir Vladimirovič Putin sein. Das ist ein langanhaltender Krieg und jeden Tag, den die Ukrainer durchhalten, und das tun sie im Übrigen mit großer Tapferkeit und Mut, ….. Der ukrainische Präsident macht hierbei ein besseres Bild als unser Präsident, so scheint mir, denn er ist mit dem Volk. Der Widerstand wird heftiger werden und noch gezielter. Denn militärische Aufrüstung kommt aus Großbritannien, Lettland und Estland, jetzt auch aus Deutschland und den USA. Man wird Flugzeuge abschießen, Panzer anzünden. Ich würde gern die besondere Geschlossenheit der ukrainischen Regierung mit der ukrainischen Bevölkerung betonen. 17.000 Maschinengewehre hat man an Kiever Zivilpersonen verteilt. Wie sehr muss man seinem Volk vertrauen, es so zu beauftragen, damit es dem Aggressor zivilen Widerstand leisten kann. Und dass Russland ein Aggressor ist, bezweifelt niemand, weder hier noch anderswo.
Diejenigen, die auf einen großen süßen Käse aus waren, sitzen nun in einem Mauseloch, aus dem sie so leicht nicht wieder rauskommen wie Vladimir Vladimirovic. Weicht er zurück, ist es eine Niederlage, greift er an, dann ist klar, was daraus wird… Also eine Fehlentscheidung, eine strategische und taktische Fehlentscheidung, die Unfähigkeit, sich situationsgerecht in den gegenwärtigen Gegebenheiten zurechtzufinden. Vladimir Vladimirovic Putin mit seinem Generalshirn, das einzige in unserem Land verbliebene Gehirn, das alles verantwortet, ist in der Mitte des 20.Jahrhunderts hängengeblieben, in den Siegen des Genossen Stalin und dementsprechend in der Sowjetunion. Er will die Rückkehr zum sowjetischen Modell. Und ich erinnere daran, dass das sowjetische Modell zusammengebrochen ist.
Eine Mitteilung der letzten Minuten: Putins Pressesekretär Dmitrij Peskov teilt mit, dass eine Delegation Russlands in Belarus eingetroffen ist zu Gesprächen mit den Ukrainern – ich zitiere die Agentur „Interfax“: „In Übereinstimmung mit den getroffenen Vereinbarungen traf eine russische Delegation des Außen- und Verteidigungsministeriums und anderer Ministerien, Putins Administration miteingeschlossen, in Weißrussland zu Verhandlungen mit der Ukraine ein. Wir sind bereit die Verhandlungen in Gomel zu beginnen“, sagte Peskov den Journalisten. Was meinen Sie, sind Verhandlungen jetzt überhaupt sinnvoll? Oder unterscheiden sich die Positionen der Seiten so prinzipiell, dass es keine Chance auf Vereinbarung gibt. Ich denke, dass Verhandlungen immer sinnvoll sind, aber die Frage ist, wie konstruktiv diese verlaufen. Vor allem sehen wir keine Reaktion der ukrainischen Seite. Sind sie bereit nach Belarus zu fahren oder sind sie es nicht? Belarus ist ja nicht wirklich eine Schiedspartei, sondern eher eine beteiligte Seite. Worüber werden sie verhandeln? Werden sie Belarus vertrauen? Denn es ist sehr wohl bekannt, dass Herr Lavrov, Herr Peskov und Frau Zakharova, wie Vladimir Vladimirovic Putin selbst, immer wieder betonten, es wird keinen Überfall auf die Ukraine geben. Was also sind diese Verhandlungen wert? Ich denke, dass die Ukraine bereit ist, diese Verhandlungen zu führen, allerdings nicht mit den Prämissen, wie die anderen Herrschaften es erwarten.
[…] Einen solchen wirtschaftlichen Tiefschlag gab es in unserer Geschichte noch nicht. […]. Für uns wurde entschieden zu erobern, zu siegen, aber dafür bezahlen dürfen Sie und ich.
Journalist: Wenn wir über jene sprechen, die alles entscheiden, so verstehe ich, ist das ein in sich geschlossenes System, aber dennoch, was ist Ihre Vermutung: Wie einheitlich und geschlossen ist die Position zu den Ereignissen in der Ukraine innerhalb der politischen und wirtschaftlichen Elite? Naja, klar ist, dass diejenigen, die für die Berichtigung der Situation verantwortlich sind, nicht vor Begeisterung strotzen. Wir haben ja die Pionierversammlung gesehen, genannt „Versammlung des Sicherheitsrates“, auf der Vladimir Vladimirovic Putin voller kämpferischen Übermuts war, die Anwesenden neckte, wo klar wurde, dass er bereits eine Entscheidung getroffen hatte. Und alle anderen Anwesenden murrten nicht, sondern blökten einverständig.
Aber jene, die die Suppe auszulöffeln haben, schauten weniger siegesgewiss. Dieser Herr Mishustin, der jetzt den Niedergang unserer Wirtschaft aufhalten soll, hat keinen süßen Schlaf mehr wie auch die Unternehmer nicht. Im Übrigen verstehen auch die weitsichtigen klugen Geheimdienstler, dass dies eine Katastrophe ist. Denn jetzt wird es in der weiten Welt der versteckten Agenten Einfluss geben. Im Westen sind sie bestens bekannt und man wird sie aufspüren und herausekeln. Und dies wird Konsens finden, obwohl es gegen die herkömmliche diplomatische Praxis verstößt. Wir selbst haben uns in diese Mausefalle getrieben, aber sagen werden wir jetzt, sie haben uns in die Zange genommen. Ja, die NATO wird erstarken. Ja, die militärische Kraft der europäischen Staaten wird wachsen im Unterschied zu früher, wo sie sich davor drückten, zwei Prozent des Bruttosozialprodukts für militärische Zwecke auszugeben und sie lieber in angenehmere Projekte für Staat und Bevölkerung investierten. Jetzt werden sie es geschwind tun. Es wird in Europa viel mehr Waffen geben als vor dem Siegestanz des Vladimir Vladimirovic Putin. Und all die Waffen werden gerichtet – dreimal dürfen Sie raten – auf wen? Sicherheit und internationale Beziehungen werden sich verschlechtern wie auch die finanzielle Situation, der Lebensstandard wird geringer, und zu all dem wird es keine Siegesnachrichten vom Schlachtfeld geben.
https://tvrain.ru/teleshow/here_and_now/teper_ukraina_vojuet_za_rossijskuju_demokratiju-548764/
Übersetzt von Julia Koifman und Gudrun Jerschow