Kunst in der Schlafstadt

Die Kuratorin Marina Zvjaginceva organisierte von 2009 bis 2011 mehrere Kunstprojekte in den Schlafstädten der Moskauer Peripherie. Was passiert, wenn Ausstellungen den geschützten Raum der Galerie verlassen und auf Distanz zur etablierten Kunstwelt gehen? Im Interview mit Julia Fertig erzählt Marina Zvjaginceva, wie die Menschen am Rande der Metropole auf Public Art reagieren.


Kunst in der Schlafstadt

 

Julia Fertig: Das Thema „Schlafstädte“ beschäftigt Sie schon seit längerer Zeit. Warum möchten Sie zeitgenössische Kunst ausgerechnet dort präsentieren oder anders gefragt: was reizt Künstler_innen an diesen Orten?


Marina Zvjaginceva: Erstens wohne ich selbst in einer Schlafstadt und kenne die Distanz zur Kunstwelt, deren Leben sich im Stadtzentrum konzentriert, aus eigener Erfahrung. Zweitens werden Ausstellungen immer wieder von einem begrenzten Publikumskreis besucht, während die meisten Menschen, wie zum Beispiel meine Nachbarn und Freunde, sprich die Menschen aus meinem Umfeld, denen ich täglich begegne, von zeitgenössischer Kunst nichts wissen, obwohl sie in punkto Theater, Musik und Ballett durchaus auf dem Laufenden sind. Ich sehe meine Aufgabe darin, den Mythos von der Schlafstadt als kulturfreiem Raum zu zerstören. Ein zweiter Mythos suggeriert, zeitgenössische Kunst sei etwas Abgeschottetes und dem Volk nicht zugänglich. Wenn das so wäre, wie könnte es dann zeitgenössische Kunst sein, wenn Zeitgenossen keinen Zugang zu ihr finden? Ein weiterer Mythos betrifft die Selbstwahrnehmung der Bewohner von Schlafstädten, die das Gefühl eines Daseins am Rande empfinden. In den Schlafstädten gibt es keine historischen Denkmäler oder touristischen Sehenswürdigkeiten und nur zeitgenössische Kunst kann diese Lücke schließen und den Menschen in den Außenbezirken ein Gefühl von „Zentrum“ vermitteln. Für die Künstler selbst ist das eine interessante und überraschende Erfahrung. Wenn der Künstler seine Werke einem einschlägig nicht vorgebildeten Publikum präsentiert, kann er sich nicht hinter seinem Background verstecken, denn niemand weiß, in welchen coolen Galerien er ausstellt und Mitglied welcher Verbände er ist. Die Zuschauer reagieren einzig auf seine Werke. Somit ist der Künstler dem unverfälschten Kontakt mit dem Publikum ausgesetzt und spürt genau, ob sein Werk emotional anspricht oder nicht.


J.F.: Ihr Projekt wurde häufig mit der Bewegung der Peredvižniki, der Wandermaler aus dem 19. Jahrhundert, verglichen. Sehen Sie sich tatsächlich in dieser Tradition?


M.Z.: Als das Projekt Schlafstadt in den Anfängen steckte, hätte ich nicht gedacht, dass daraus ein ganzes Programm werden würde, und ich bin einfach einem kreativen Impuls gefolgt. Ich fand es einfach interessant mich Aufgaben zu stellen, deren Bewältigung anderen unmöglich schien. Jetzt, nachdem vier vollwertige Projekte unter dem gemeinsamen Motto Schlafstadt hinter mir liegen, kann ich bestätigen, dass diese Idee die Tradition der Peredvižniki gewissermaßen in moderner Lesart fortsetzt.

 

Begegnung von Zentrum und Peripherie

J.F.: Positiv wurde aufgenommen, dass das Projekt ganz ohne das Herauskehren kultureller Überlegenheit und Überheblichkeit auskam und dabei die didaktische Komponente nicht verlorenging. Ebenso zu spüren waren das Interesse von Seiten der Künstler und ihre Offenheit gegenüber Themen und Formen, die für die „normalen“ Bewohner_innen relevant sind. Trotz allem bleibt der Charakter einer Begegnung des Zentrums mit der Peripherie. Wie ist es Ihnen gelungen, nicht als vereinnahmende Missionarin zu wirken?


M.Z.: Ich fühle mich nicht als Missionarin! Ich lebe selbst in diesem Umfeld und kenne all seine Vor- und Nachteile. Mir gefällt das Leben in der Schlafstadt und ich möchte den Schwerpunkt zeitgenössischer Kunst allmählich vom Zentrum in die Außenbezirke verlagern. Ich dränge niemandem etwas auf. Ich möchte den Menschen (sowohl den Bewohnern als auch den Künstlern) die Entscheidung selbst überlassen und ihnen neue Möglichkeiten aufzeigen, die sie vorher nicht kannten. Natürlich haben Jurij Samodurov und ich bei der Auswahl der Projekte die lokale Spezifik berücksichtigt, aber wir haben nicht versucht, die Projekte um der besseren Verständlichkeit willen zu „versimpeln“. Die ausgehängten Begleitkommentare waren völlig ausreichend. Etwas anderes ist, dass die Wirkung vieler Projekte davon abhängt, ob sie in einer Galerie oder im Freien ausgestellt werden. So wird zum Beispiel ein Haufen Müll, ausgestellt in einer Galerie, zum Kunstwerk, im Freien hingegen bleibt er einfach nur Müll.


J.F.: Was wird in Süd-Butovo bis zur nächsten Biennale passieren? Verbleibt etwas von den Objekten beziehungsweise von der Idee und dem Geist im öffentlichen Raum? Gibt es Nachahmer_innen? Oder war es ein Projekt mit rein utopischer Dimension, so dass Public Art auch in Zukunft im Land jenseits der Moskauer Ringautobahn ein Fremdwort bleibt?


M.Z.: Die Verwaltung von Süd-Butovo möchte sechs der Bauwagen stehen lassen und sie als Raum für Ausstellungen nutzen, um auf diese Weise hier eine Galerie für Gegenwartskunst zu schaffen. Einige der Projekte aus unserer Ausstellung werden in den Bauwagen verbleiben, ein Teil der Exposition wird jeweils neu gestaltet. Diese Idee befindet sich im Moment in der Diskussion und man ist dabei, die Bedingungen für die Arbeit auszuloten. Ich hoffe, dass das klappt. Aber zugleich befürchte ich, dass alle Gespräche im Sand verlaufen könnten und damit die Welle der Aktivitäten, die vom „Haus des Künstlers“ im Moskauer Zentrum ausgelöst wurde, in Süd-Butovo verebben könnte. Im Gegensatz zu Jurij Samodurov meine ich, dass dies nicht die letzte Ausstellung ihrer Art gewesen ist, denn schon jetzt habe ich mehrere Angebote, das Projekt Schlafstadt fortzusetzen. Eigentlich diente bisher jede Ausstellung als Impuls für die nächste. Und mein staune immer wieder, dass dieses Thema so stark nachgefragt ist.


J.F.: Gehen wir etwas konkreter auf die Ausstellung ein: Meiner Auffassung nach sprechen die von Ihnen ausgewählten Werke eine klare ästhetische Sprache. Welche Ziele hatten Sie als Kuratorin, das heißt nach welchen Kriterien haben Sie geeignete Kunstwerke beziehungsweise die teilnehmenden Künstler_innen ausgewählt?


M.Z.: Von mir als Künstlerin stammt die Idee, den Bauwagen als Ausstellungsmodul zu nutzen. Jurij Samodurov entwickelte die Mythologie des Projektes, bei dem alle Objekte aus den vor Ort verfügbaren Materialien entstehen und von den Künstlern gemeinsam mit Bewohnern und Einrichtungen des Bezirks (sowohl realen als auch fiktiven) geschaffen werden. Unsere Aufgabe als Kuratoren bestand darin, die Künstler zu ermutigen, ihre Werke ohne Bedenken im öffentlichen städtischen Raum auszustellen und ihnen die Angst vor Vandalismus zu nehmen. Außerdem hatten wir uns zum Ziel gesetzt, dass jedes Projekt einen bestimmten Bezug zur Geschichte und zum Leben des Stadtbezirks aufweisen soll, sowohl real als auch aus mythologischer Sicht. Ich hoffe, das ist uns gelungen.

 

„Cool“ urteilten 70% der Bewohner_innen

J.F.: Erzählen Sie bitte über die Begegnungen mit den Bewohnern vor Ort und deren Reaktionen auf Ihre Präsenz in Süd-Butovo.


M.Z.: Als die ersten Bauwagen vor Ort eintrafen, rückten zunächst jede Menge Gastarbeiter an! Nachdem die ersten künstlerischen Objekte auszumachen waren (zum Beispiel die Ameise von Mitenev auf dem Dach eines Bauwagens), wurde man neugierig und stellte vor allem die Frage: Was soll das hier werden? Das heißt, den Menschen wurde klar, dass das keine Baustelle ist, sondern etwas anderes. Wir haben allen ausführlich erklärt, was man sich unter einer Biennale und unter Gegenwartskunst vorzustellen hat.


J.F.: Konnten Sie Veränderungen in der Haltung der Menschen gegenüber dem Projekt vor und nach der Ausstellung beobachten?


M.Z.: Im Vorfeld der Ausstellung äußerten die Anwohner überwiegend Verwunderung oder Ablehnung gegenüber den „hässlichen Bauwagen in unserem geliebten Park“. Nachdem die Wagen für die Besucher geöffnet wurden, gab es einen Riesenansturm, denn man wollte endlich erfahren, was es da Interessantes zu sehen gibt. Die Reaktionen der Besucher zerfiel in vier Gruppen. Etwa 10% der Anwohner haben das Projekt harsch abgelehnt. Sie fanden es „abnorm, hässlich“. Zu dieser Gruppe zählten vor allem aktive Senioren und Hundeliebhaber. Die größte Gruppe, etwa 70%, fanden das Projekt „cool“. Das waren vor allem Jugendliche, Kinder und vorurteilsfreie Erwachsene. Dann gab es etwa 15 %, die meinten: „Verstehe ich nicht und will ich auch nicht verstehen.“ Und den kleinsten Teil von etwa 5 % der Besucher machten diejenigen aus, die so etwas für notwendig, wichtig und interessant erachten. Sie haben auf diese Weise die zeitgenössische Kunst für sich entdeckt und sind froh darüber, dass man dazu nicht erst ins Zentrum von Moskau fahren muss.

So in etwa würde ich die Reaktion des Publikums, ausgehend von meinen persönlichen Eindrücken, beschreiben. Die größte Aktivität entwickeln natürlich die Ausstellungsgegner. Sie schreiben Beschwerden an die örtliche Verwaltung, erheben lautstark Protest und das wird natürlich am ehesten wahrgenommen. Aber nach den Gesprächen mit den Zuschauern wird einem klar, dass solche Reaktionen die Ausnahme sind. Der Grundtenor in den Reaktionen der Anwohner ist folgender: sie zeigen sich interessiert, animieren ihre Freunde zum Besuch der Ausstellung und berichten mit Stolz, dass ihr Stadtbezirk etwas Besonderes aufzuweisen hat.


J.F.: Nach dem Besuch der Ausstellung habe ich bemerkt, dass Kinder und Jugendliche sehr positiv und locker auf das Event reagierten, während die Erwachsenen häufig ihr Unverständnis gegenüber der in ihren Augen hässlichen Gegenwartskunst äußerten. Die Situation von Kindern fand thematisch ihren Ausdruck auch in einigen Werken der Ausstellung. Ist das eine Problematik, die Sie besonders interessiert?


M.Z.: Das Thema Kinder ging aus den beiden vorangegangenen Ausstellungen hervor, die in Schulen stattgefunden haben, und zwar in der Schule Nr. 45 in Ljubercy (September 2010, in Zusammenarbeit mit A. Panov) und in der Schule Nr. 109 in Moskau (Januar 2011, in Zusammenarbeit mit J. Samodurov). Die Kinder der Schule Nr. 109 haben gemeinsam mit Künstlern einen Teil der Arbeiten für die Ausstellung „Schlafstadt. Offener Unterricht“ gestaltet und in Butovo kreierten sie ohne fremde Hilfe ihre eigene Ausstellung in einem der Bauwagen.

 

Dialog über die Kunst in der Schlafstadt?

J.F.: Wie verlief die Zusammenarbeit mit der Verwaltung des Stadtbezirkes? Mussten Sie Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit unter den Mitarbeiter_innen leisten oder haben Sie offene Türen vorgefunden?


M.Z.: Vor zwei Jahren, als die aus Betten bestehende Ausstellung Schlafstadt aufgebaut wurde, mussten wir der Verwaltung ständig hinterherrennen. Die Einladung nach Süd-Butovo erhielten Samodurov und ich nach dem erfolgreichen Verlauf des Projektes in der Schule Nr. 109. Was die örtliche Verwaltung angeht, so stand deren Leiter felsenfest hinter unserem Projekt. Aber als wir dann vor Ort konkret agierten, bekamen wir es mit anderen für den Park verantwortlichen Strukturen zu tun und stießen auf deren Widerstand, so dass wir die Kommunalverwaltung ständig um Hilfe bitten mussten.


J.F.: Gibt es in der Öffentlichkeit einen breiten Dialog über das Problem der Schlafstädte oder haben Sie diesen Diskurs erst angeregt? Welche Rolle könnte in diesem Dialog die Gegenwartskunst spielen?


M.Z.: Einen breiten gesellschaftlichen Dialog über die Schlafstädte gibt es vorerst nicht. Für den 16. November 2011 planen wir im GZSI, dem Staatlichen Zentrum für zeitgenössische Kunst, ein Rundtischgespräch zu diesem Thema. Dazu sind Sie herzlich eingeladen. Ich hoffe, dass diese Veranstaltung Auslöser für einen solchen Dialog wird.


J.F.: Die Ausstellung ist nun zu Ende. Was sind Ihre künstlerischen Pläne?


M.Z.: Ich probiere gern etwas Neues aus, deshalb versuche ich, jedes Projekt der Reihe Schlafstadt so zu gestalten, dass es sich vom vorhergehenden abhebt. Mir liegen zurzeit mehrere Angebote vor, die aber im Wesentlichen auf eine Wiederholung des Projektes in Süd-Butovo abzielen. Das Interessanteste, so meine ich, wäre gegenwärtig der Versuch, anstelle einer zeitweiligen Ausstellung etwas ins Leben zu rufen, was einer Schlafstadt auf Dauer erhalten bleibt. Für mich als Künstlerin ist es sehr interessant mit dem städtischen Raum zu arbeiten, weil dieser ein sehr schwieriges Material darstellt, das voller Überraschungen steckt.

 

Dieses Interview erschien erstmalig im Online-Magazin „Deutschland und Russland“ des Goethe-Instituts Russland.


Zum Nachlesen empfiehlt sich auch Julia Fertigs ausführlicher Bericht zu diesem Projekt (samt Bildergalerie) „Auf nach ArMKADien. Public Art in der Trabantenstadt?


Bildquelle: Marina Zvjaginceva 2009, © Julia Zakirova.


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