Maria Stepanova im Gespräch mit Kulturschaffenden aus Lettland, Kirgistan, Armenien, Georgien, Belarus und der Ukraine
Auf Initiative des Fachgebiets für Ostslawische Literaturen und Kulturen fanden im Oktober 2020 unter Leitung von Maria Stepanova (Siegfried Unseld Gastprofessorin 2018-19) im Zoom der Humboldt Universität vier Workshops statt, deren Ziel es war, die Landschaft der Kulturinstitutionen und künstlerischen Entwicklungen in einigen Ländern, ehemaligen Sowjetrepubliken, in Hinblick auf ihre aktuelle Situation – auch im Kontext der Covid-19 Pandemie – zu kartieren, institutionelle und künstlerische Entwicklungen der letzten Jahre zu analysieren und ihre Zukunftsperspektiven auch mit Blick auf Fördermöglichkeiten für unabhängige künstlerische und kuratorische Perspektiven zu erörtern.
Eröffnungsworkshop am 07.10.2020
Ganz bewusst wurde dieser nicht unumstrittene Begriff „post-sowjetisch“ für den Russland und die ehemaligen Sowjetrepubliken umfassenden, durch eine geteilte Geschichte, geteiltes Gedächtnis und Traumata verbundenen und heute durch viele Staatsgrenzen und kulturelle Umorientierungen geteilten Geschichtsraum (S. Troebst) gewählt, um sein erkenntnisstiftendes Potential im Blick auf aktuelle Entwicklungen im künstlerischen und kulturellen Feld sowie aktuelle Kulturpolitik, Institutionen und künstlerische Orientierungen und Identifikationen zu erproben. Zugleich ging es uns darum, Möglichkeiten zu sondieren, wie z.B. mithilfe von Vernetzungsprojekten das kulturelle/künstlerische Geschehen in diesen auf der geistigen Landkarte Europas noch immer sehr wenig bekannten und markierten Regionen bekannter gemacht werden kann.
Die Reflexion darüber, ob die vergleichende Zusammenschau heute, dreißig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion, Sinn macht oder ob sie nicht vielmehr den Blick auf die grundlegenden Differenzen zwischen den länderspezfischen Entwicklungen verstellt, begleitete alle vier Treffen. Anfangs rief gerade dieser Terminus Skepsis bei den Teilnehmer_innen hervor, weil er das Gefühl evoziert an eine längst überwundene Vergangenheit zurückzubinden, was heute allem Anschein nach völlig unabhängig davon und in ganz anderem Kontext geschieht. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive legitimiert sich diese Frage durch Beobachtungen auf mehreren Ebenen: etwa dadurch, dass die in den 1930er Jahren in allen Republiken der Sowjetunion mit dem Ziel einer strukturellen Homogenisierung des Feldes eingerichteten Institutionen von großer Nachhaltigkeit waren und zum großen Teil bis heute kontinuierlich existieren; oder durch das aus der Vereinheitlichung des Kulturraums resultierende geteilte kulturelle und künstlerische Gedächtnis und die mit ihm verbundenen historischen Narrative. Auch die Verbreitung der russischen Sprache als Folge der sowjetischen Russifizierungs- bzw. lingua franca-Politik könnte als weiterhin verbindendes Moment vermutet werden. Während sich letztere Vermutung nur in Hinblick auf einen Teil der Länder als relevant erwies – jene, die durch langfristige Bevölkerungszusammensetzung bis heute bilingual sind, oder jene – wie Kirgistan –, in denen Russisch bis heute als Bildungssprache unersetzlich ist, haben sich die anderen Aspekte im Verlauf der Gespräche als gewinnbringend erwiesen: sowohl für die Intensivierung der gegenseitigen Kenntnisnahme und Erweckung bzw. Intensivierung des gegenseitigen Interesses unter den Teilnehmer_innen, die durchweg über einen Mangel an gegenseitiger Information und Kommunikation klagten, als auch in Hinblick auf die Analyse, bei der aus dieser Perspektive Gemeinsamkeiten und Unterschiede sichtbar wurden, die noch immer auf die alten Strukturen, Institutionen und Positionierungen innerhalb der Sowjetunion zurückgehen.
Im Blick auf die Zukunft bestand unsere Aufgabe darin, die Grundlage für eine zukünftige Plattform zur Unterstützung unabhängiger kultureller Initiativen zu erarbeiten, die sowohl individuelle Projekte als auch größere Gruppenprojekte im Bereich des kulturellen Managements umfassen soll. Wir wollen Zonen und Akteure ausfindig machen, deren Unterstützung und Vernetzung nötig und vielversprechend wäre, und längerfristig gezielte Förderprogramme entwickeln. Als Voraussetzung dafür ist das Mapping, welches die Workshopbeiträge zu leisten versuchen, grundlegend. Der erste wichtige Schritt, der seinerseits ein solches Mapping überhaupt erst ermöglichen konnte, war die Findung und das Engagement von exzellenten Experten in dieser Sache.
Sechs namhafte Spezialist_innen, Autor_innen und Kurator_innen aus Lettland, Kirgistan, Armenien, Georgien, Belarus und der Ukraine, wurden als Expert_innen für ihre Herkunftsregion (z.T. ihre primäre Wirkungsstätte) eingeladen zu berichten, einen Überblick zu geben sowie ein Interview mit einer/m der maßgeblichen Akteur_innen der Region durchzuführen.
Yaraslava Ananko, belarusische Dichterin, Absolventin des Gorki-Instituts in Moskau, Literaturwissenschaftlerin, Autorin der 2020 erschienenen Monographie zum Berlin-Topos des polnischstämmigen russischen Dichters Vladislav Chodasevič (Каникулы Каина. Поэтика промежутка в берлинских стихах В. Ф. Ходасевича, М. 2020. https://www.nlobooks.ru/books/nauchnaya_biblioteka/22632/) und derzeit Leiterin eines eigenen Forschungsprojekts an der HU Berlin (Thema: Performativer Dilettantismus. Das Pilotprojekt der belarussischen Literatur, 1840–1850er Jahre) (https://www.slawistik.hu-berlin.de/de/fachgebiete/ostslawlit/projekte), war als Expertin für Belarus eingeladen. (Vgl. ihren Artikel in der Zeitschrift NLO 2018 zur Problematik von Mehr- und Russischsprachigkeit in der aktuellen belarusischen Lyrik: https://magazines.gorky.media/nlo/2018/2/bilingvalnoe-rasstrojstvo.html). Im Rahmen der Workshopreihe führte sie ein Interview mit Nikolaj Khalezin, dem seit langem im Londoner Exil lebenden Gründer des „Belarusischen Freien Theaters“ (2005) mit Sitz seit 2011 in London, das seit fünfzehn Jahren Inszenierungen im belarusischen Underground auf die Bühne bringt (http://belarusfreetheatre.com). Seit Neuestem führt Khalezin im Kontext der Protestbewegung in Belarus und ihrer weltweiten Resonanz die online-Plattform „Ministry of counterculture“ (https://moc.media/en/about/) an. Zu den zentralen Beobachtungen Anankos gehören erstens die Feststellung der Kontinuität der außerordentlich großen künstlerischen und politischen Relevanz des künstlerischen Underground in Belarus sowie, zweitens, die große Bedeutung alternativer Bildungsinstitutionen im Bereich von Kunst und Literatur sowie der Humanities.
Überblicksessay von Yaraslava Ananko (russisch)
Zaal Andronikashvili, Germanist und Vergleichender Literatur- und Kulturwissenschaftler am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin und Professor an der Ilya State University Tbilisi, ist Autor mehrerer gewichtiger Beiträge zur Grundlagenforschung im Bereich der Kulturtheorie mit Blick auf Osteuropa – wie z.B. als Koautor der Bände Grundordnungen. Geographie, Religion, Gesetzt (Berlin 2013), Die Ordnung pluraler Kulturen. Figurationen europäischer Kulturgeschichte vom Osten her gesehen (Berlin 2013) und Kulturheros. Genealogien, Konstellationen, Praktiken (Berlin 2017) – und einer der aktuell wichtigsten Spezialisten für die Kulturgeschichte Georgiens im 20. Jahrhundert (z.B. als konzeptionell leitender Autor des Bandes Landna(h)me Georgien. Studien zur kulturellen Semantik (Berlin 2018). Im Rahmen der Workshopreihe lud Zaal Andronikashvili Medea Metreveli, bis 2019 Leiterin des Georgian National Book Center (GNBC), die den beeindruckenden Auftritt von Georgien als Gastland der Frankfurter Buchmesse 2018 vorbereitet hat, zu einem Interview ein. Gemeinsam mit ihr und in seinen Statements legte Zaal Andronikashvili den Fokus auf die international bemerkenswert erfolgreiche georgische Literatur, deren Besonderheit er im (post)sowjetischen Kontext darin sieht, dass es in Georgien keine Tradition des Underground gab, der in irgendeiner Form fortgesetzt werden könnte. Schon vor Beginn der Sowjetunion hatte sich ein georgisches Selbstverständnis als Kulturnation herausgebildet, das bis heute praktisch kontinuierlich besteht. Obwohl die staatliche Kulturpolitik wie in anderen postsowjetischen Ländern keine klare und stabile Programmatik hat, ist in Georgien – darin Lettland vergleichbar – doch der Staat der wichtigste Förderer der Literatur und Kultur im Allgemeinen. Postsowjetisch zeichnet sich eine starke und von Übersetzungen ins Russische de facto unabhängige internationale Rezeption der georgischen Literatur ab.
Hier geht es zum Interview: Zaal Andronikashvili im Interview mit Medea Metreveli
Überblicksessay von Zaal Andronikashvili (russisch)
Yevgenia Belorusets ist Germanistin, Fotografin, bildende Künstlerin, Aktivistin und Autorin literarischer Werke im Umfeld des Dokumentarismus aus Kyiv (http://belorusets.com/info/about). Ihr auf zahlreichen Interviews mit Frauen im Donbas basierender, höchst kunstvoller Prosaband „Glückliche Fälle“ wurde 2019 im Berliner Verlag Matthes & Seitz in deutscher Übersetzung publiziert. Yevgenia Belorusets wurde als Expertin für die Entwicklungen in der Ukraine eingeladen. Im Interview sprach Yevgenia Belorusets mit Lada Nakonechna, bildende Künstlerin (Fotografie, Zeichnung, Installationen, Performance), gebürtig aus Dnipro(petrovsk) mit Schaffensschwerpunkt in Kyiv. 2012 gründete Lada Nakonechna gemeinsam mit einigen Kolleg_nnen die unabhängige höhere Bildungsinstitution „Method Fund“(https://sites.google.com/site/methodfund/news). Nakonechna ist Mitherausgeberin der unabhängigen Kunst- und Kulturzeitschrift Porstory (http://prostory.net.ua/en/). In ihrer Diagnose der Entwicklungen in der Ukraine mit Schwerpunkt Kunst stellten beide Künstlerinnen die Problematik der Kontinuität der sowjetischen Institutionen, die z.T. nur umbenannt wurden, bei gleichzeitiger konzeptueller Aushöhlung fest, was dazu führe, dass relevante künstlerische Entwicklungen sich v.a. jenseits der Sphäre der offiziellen Institutionen vollzögen und beständig um ihre Unterstützung kämpfen müssten. In dieser Spaltung aber finden letztlich die parallelen Welten von Offizialität und Underground der sowjetischen Zeit ihre Fortsetzung. Die weiterhin spürbaren Symptomschmerzen des Alten behindern eine dynamische Entwicklung massiv. Auch in ihren Kunstwerken setzt Yevgenia Belorusets sich immer wieder kritisch mit den politisch verordneten, unreflektierten und der Verarbeitung der Traumata der Vergangenheit kaum dienlichen Politik der Dekommunisierung auseinander.
Hier geht es zum Interview: Yevgenia Belorusets im Interview mit Lada Nakonechna (Ukraine)
Überblicksessay von Yevgenia Belorusets (russisch)
Gulzat Egemberdieva, Journalistin, Dokumentarfilmerin und Kultur- und Literaturwissenschaftlerin aus Bishkek mit Masterabschluss an der University of Toronto arbeitet derzeit an einer Doktorarbeit zur kirgisischen Literatur der Sowjetzeit am Institut für Slawistik der Humboldt Universität zu Berlin (https://www.slawistik.hu-berlin.de/de/fachgebiete/ostslawlit/projekte). Als Spezialistin für Kirgistan lud Gulzat Egemberdieva Elmira Nogojbaeva, führende kirgisische Politik- und Kulturwissenschaftlerin, zum Interview ein. Nogojbaeva ist Gründerin des Gedächtnis-Projekts „Esimde“ (http://esimde.org/), welches offen zur Einsendung autobiographischer Texte für die zur Verhandlung eines traumabewältigenden, Erinnerung aufarbeitenden und Identität stiftenden kollektiven und kulturellen Gedächtnisses einlädt. Wichtige Aspekte der postsowjetischen Entwicklungen in Kirgistan sind für Gulzat Egemberdieva die Kontinuität der Relevanz der russischen Sprache, deren Bedeutung jedoch zunehmend unabhängig wird von einer Orientierung am russischen Staat – bei gleichzeitigem Bedeutungsgewinn der kirgisischen Sprache -; die vielfältige Vernetzung im gesamten postsowjetischen Raum, z.B. auch mit Initiativen in der Ukraine und in Georgien, aber auch mit der Türkei und dem westlichen Ausland; die Relevanz unabhängiger, z.T. von der Open Society Foundation und anderen Stiftungen (v.a. aus den USA) geförderter Initiativen, sowie ein starkes und z.B. nostalgisch-identifikatorisches Interesse an der sowjetischen Vergangenheit.
Hier geht es zum Interview: Gulzat Egemberdieva im Interview mit Elmira Nogojbaeva (Kirgistan)
Überblicksessay von Gulzat Egemberdieva (russisch)
Dmitrij Kuz’min, Dichter, Literaturkritiker und -wissenschaftler, Pionier der russischen Literatur im Internet, noch in den 1990ern Gründer der wichtigen Literaturplattform novaja literaturnaja karta russkoj literatury (www.litkarta.ru). Dmitrij Kuz’min ist Mitglied des Redaktionskollegiums von colta.ru und, seit 2007 Herausgeber der zweisprachigen Literaturzeitschrift Vozduch (http://www.litkarta.ru/projects/vozdukh/). Seit 2014 lebt Dmitrij Kuz‘min im Exil in Lettland und identifiziert sich auch persönlich mit der lettischen Literatur- und Kulturpolitik. Wie er in seinem Bericht schreibt, entwickelte sich in Lettland seit der spätsowjetischen Periode, wo Riga zu einem wichtigen Zentrum für ästhetisch anspruchsvolle und politisch kritische Autor_innen wurde, die in Russland Probleme mit der Zensur hatten, um Autoren wie Andrej Levkin (Zeitschrift Rodnik) und seit 1999 um die Zeitschrift Orbita (Sergej Timofeev) eine sehr aktive Literaturszene, die einen äußerst lebendigen, harmonischen, unzensierten Austausch zwischen russischsprachiger und lettischsprachiger Literatur ermöglicht. Zweisprachige Publikationen und gegenseitige Übersetzungen sind ein vollkommen selbstverständlicher Bestandteil der lettischen Publikationslandschaft, die wesentlich auch vom Staat gefördert wird. Auch für die Entwicklungen im Bereich der Kunst gilt, dass der größte Anteil der Förderung vom Staat kommt und dadurch auch die wichtigsten Initiativen zur Sichtbarkeit der Kunst aus Lettland – z.B. auf internationalen Kunstbiennalen oder durch die Durchführung von Biennalen in Lettland selbst – unterstützt werden. Wie man an Kuz’min selbst sieht, hat Lettland bis heute seine Funktion als wichtiger, liberaler Zufluchtsort für dissidentische Kunst- und Literaturschaffende aus Russland behalten.
Hier geht es zum Interview: Dmitrij Kuzmin im Interview mit Sergej Timofeev (Lettland)
Überblicksessay von Dmitrij Kuzmin (russisch)
Sona Stepanyan ist Kuratorin der „Armenia Art Foundation für zeitgenössische Kunst“ in Yerevan, tätig für internationale Kunststiftungen wie z.B. den Mondriaan-Fund der Niederlande und Gründungsmitglied des Kuratoren-Studios „Triangle“ in Moskau. Zum Gespräch lud Sona Stepanyan Tigran Amiryan ein, unabhängiger Kurator und Leiter kulturwissenschaftlicher Projekte mit Fokus auf kollektivem Gedächtnis und kollektiver Amnesie sowie Gedächtnisnarrativen und ihrer Visualisierung. Mit Tigran Amiryan, der organisatorisch und als Dozent am Aufbau unabhängiger Bildungsinitiativen im künstlerischen Bereich aktiv ist, diskutierte Sona Stepanyan die Problematik der Zersplitterung der Kunstszene und ihre institutionelle Verankerung in Armenien. Während die staatliche Kulturförderung v.a. auf die dem Tourismus dienende Erhaltung und öffentlichkeitswirksame Vermarktung des Kultur- und Kunsterbes ausgerichtet ist, existiert die junge, aktive Kunstszene vollkommen unabhängig davon. Ihre Entwicklung gestaltet sich wegen des anhaltenden „lethargischen Schlafs“ der staatlichen Institutionen, wegen des Mangels an Ausbildungsmöglichkeiten für junge Künstler_innen, die diesen den Anschluss an internationale Entwicklungen erleichtern und Auslandsaufenthalte (auch Fellowships) ermöglichen würden, und wegen der Schwierigkeiten und Instabilitäten der Förderung sehr wechselhaft und chaotisch. Die Förderung unabhängiger kleinerer Initiativen geht oft von Akteuren an Orten der weltweiten armenischen Diaspora (Iran, USA, Türkei, Libanon) aus, deren kulturschaffende Rolle in Armenien selbst jedenfalls von Bedeutung ist. Langfristige Konzepte und Planungen fehlen oder können nicht realisiert werden. Als eine der wichtigsten Institutionen zur Förderung avantgardistischer zeitgenössischer Kunst hebt Sona Stepanyan das „Zentrum der zeitgenössischen experimentellen Kunst“ (NPAK) hervor, welches auf Initiative von Vertretern der armenischen Diaspora im Iran gegründet wurde.
Hier geht es zum Interview: Sona Stepanyan im Interview mit Tigran Amiryan (Armenien)
Überblicksessay von Sona Stepanyan (russisch)
Außerdem gibt es ein Überblicksessay über Aserbaidschan von Nidžat Mamedov.
Mithilfe dieser Expert_innen wollten wir nicht nur Namen von Akteuren und Institutionen sowie Zahlen zusammenzutragen, sondern auch Weichen für ein tieferes Verständnis der regionalspezifischen Entwicklungen stellen. Daher wurden als Ausgangspunkte für Berichte und Interviews Fragen formuliert, die helfen sollten herauszufinden,
– wer in diesen Ländern über die wichtigen Informationen des kulturellen Feldes und des Funktionierens seiner Instiutionen verfügt
– wer die verschiedenen künstlerischen Felder gleichermaßen überblickt und
– wer über internationale Kontakte (und wohin) verfügt.
Als Herausgeberin und Chefredakteurin der im heutigen Russland einzigen unabhängigen kulturjournalistischen Online-Plattform colta.ru, brachte Maria Stepanova zum Zweck der Ergänzung der regionalen und internationalen Expertise aus russischer Sicht sowie zur Intensivierung der vergleichenden Diskussion zu den zwei rahmenden Treffen jeweils eine/n Experti/en aus Russland dazu: Marina Davydova, Herausgeberin und Chefredakteurin der Zeitschrift “Teatr” (http://oteatre.info/) und Ilja Daniševskij, Autor und Verfechter eines neuen dezidiert nicht-offiziellen kritischen Diskurses in Russland, Herausgeber der wichtigen Buch-Serie Angedonija im Verlag AST (https://ast.ru/series/angedoniya-proekt-danishevskogo-1078829/) mit Analysen der politischen und kulturellen Situation im Russland der Gegenwart von bekannten kritischen Journalist_innen und Kulturexpert_innen, dessen aktuelle Inititativen Herausgeberschaften (z.B. als Redakteur der Literaturkolumne der Zeitschrift „Snob“) im Kontext von Covid-19 besondere Resonanz erfahren haben.
novinki publiziert in russischer Originalsprache die Videoaufzeichnungen des eröffnenden und des beschließenden Workshops sowie jeweils einzeln die Experteninterviews. In Ergänzung dazu werden auch die Überblicksessays der Expert_innen für die Situation in den sechs Ländern publiziert, zunächst auf Russisch und demnächst auch in deutscher Übersetzung. Wir empfehlen die Lektüre der vollständigen Überblicksessays auch deshalb, weil sich in ihnen ganz bewusst der subjektive Standpunkt der/s jeweiligen Autorin/s manifestiert. Außerdem hängen ihre Perspektiven vom jeweiligen professionellen Interesse ab und geben Einblick in die jeweilige Expertise.
Als Ergebnis des vergleichenden Blicks auf die postsowjetischen Länder zeichnen sich einige strukturelle Parallelen ab, die eine erste Charakterisierung der aktuellen Situation erlauben:
- Das Faktum der Zentriertheit des nationalen Kulturraums bzw. “Feldes” auf die jeweilige Metropole. Manchmal wird die Hauptstadt gar als der einzige Ort interessanter künstlerischer Initiativen von überregionaler Relevanz angegeben. Nur in der Ukraine und Georgien werden neben den beiden Hauptstädten noch zwei bis drei andere wichtige Kunst- und Kulturzentren erwähnt.
- Eine andere sich durch die Analysen aller sechs Länder ziehende Beobachtung ist die strukturelle Kontinuität der alten Institutionen des Kulturbetriebs, z.T. als „Rumpfinstitutionen“, bei gleichzeitiger ideologischer oder genereller Aushöhlung oder Umkodierung. Dabei wird z.T. eine Behinderung neuer Entwicklungen durch die alten Sturkturen und generell die Reduktion wertschöpferischer Vorgaben von oben oder eine starke Wechselhaftigkeit kurzlebiger Projekte und eine daraus resultierende Richtungslosigkeit konstatiert.
- Neue, horizontal entstandene Initiativen und Strukturen werden in fast allen Fällen als allzu kurzlebig, punktuell und wenig nachhaltig beklagt.
- Fast alle Experten wiesen auf die Rolle von Zensur und Selbstzensur sowohl im politischen Kontext als auch im Kontext des nationalen und internationalen Marktes hin.
- Bemerkenswert ist in allen Ländern eine gewisse Kontinuität in Hinblick auf die Rolle alternativer Institutionen in den kulturellen/künstlerischen Dynamiken der Gegenwart gegenüber den sowjetischen Entwicklungen: In Ländern, wo der Underground als Struktur alternativer, anti-offizieller und subversiver künstlerischer Aktivität und kultureller Kommunikation besonders ausgeprägt war, ist er das noch heute, wenn auch in modifizierter Form: so z.B. durch das Zusammenwirken zwischen Aktivitäten im In- und Ausland wie im Fall des “Freien belarusischen Theaters” oder einfach in Gestalt von sich gegenüber dem Staat dezidiert abgrenzenden alternativen Institutionen (wie z.B. in der Ukraine oder Armenien und tlw. In Kirgistan). Dagegen spielt Underground als alternative Institutionalisierung des kulturellen Feldes dort keine Rolle, wo er auch bereits in sowjetischer Zeit im Kontext einer vergleichsweise liberalen oder gesellschaftlich-strukturell wenig spannungsvollen Situation kaum ausgeprägt war wie z.B. in Georgien oder in Lettland.
- Für Lettland und Georgien wird aktuell die Förderung durch staatliche Institutionen als wichtigste und finanziell wirkmächtigste Instanz angegeben. Es wäre zu fragen, inwiefern dies eventuell noch immer mit dem jeweiligen Stadium des postsowjetischen Neukonsolidierungsprozess des kulturellen Feldes zusammenhängt.
- Trotz regelmäßig stattfindender internationaler Festivals, Biennalen etc. wurde allgemein ein Defizit in Hinblick auf Kommunikation und Austausch zwischen den post-sowjetischen Regionen festgestellt
- Von allen wurde die große Relevanz von Initiativen, die eine größere internationale Sichtbarkeit ermöglichen hingewiesen (Beispiele hierfür waren die Biennalen in Lettland oder die Teilnahme Georgiens als Gastland im Rahmen der Frankfurter Buchmesse 2019)
- Sehr unterschiedlich von Land zu Land stellte sich die Rolle Russlands und der russischen Sprache als Orientierungspunkt für nationale Entwicklungen oder als Mediator für internationale Kulturkontakte da. In einem „post-sowjetisch“ zu nennenden Umfang erwies sich dies nur für Kirgistan als relevant.
- Nur für Kirgistan und z.T. für Belarus fungiert auch die russische Sprache weiterhin als lingua franca.
- Für die meisten anderen Länder stellen heute die Kulturbeziehungen nach Russland eine internationale Beziehung unter vielen dar.
- Was zukünftige Förderungen betrifft, so waren sich alle Experten darüber einig, dass 1. Eine punktgenaue Finanzierung wichtiger Projekte, 2. Die Bereitstellung langfristiger Stipendien zur Bewältigung umfangreicherer Aufgabenstellungen und 3. Die Entwicklung nachhaltiger Förderprogramme nicht zuletzt zum Zweck von Vernetzung und Integration höchste Priorität haben sollten.
Auf der Basis der Ergebnisse der Workshops könnte nun als weitere Vorarbeit zur Errichtung einer Förderplattform ein, an regionale Expert_innen zu adressierender detaillierter Fragebogen erarbeitet werden, dessen Antworten eine genauere und tiefere Kartierung des kulturellen Feldes erlauben.